Schlag nach bei Marcuse
Bei Kritik finde ich die Sachlage noch komplizierter. Sie trifft oft persönlich und dann fühlt sich keiner mehr ernst- und wahrgenommen. Gerade im Klavierunterricht äußere ich Kritik (fast) immer mit einem freundlichen und wertschätzenden Gesichsausdruck, so dass der Schüler sich nicht persönlich angegriffen fühlen muss. Diese Möglichkeit fällt hier im Forum leider weg. So wäre mein Vorschlag, vielleicht mehr darauf zu achten, das Wort "ich" in kritischen Beurteilungen zu verwenden. "Das ist einfach blödsinnig" kann mehr kränken als "Ich ärgere mich darüber, dass ..."
Hallo, Chiarina,
vielen Dank für Deine Antwort! Das ist ein schwieriger Sachverhalt,
den Du beschreibst, und Dein Lösungsvorschlag scheint mir nicht minder schwierig zu sein.
Dein Vergleich mit pubertierenden Kindern ist sehr treffend.
Aber sind
wir denn nicht erwachsene Menschen?
Ist es denn verpflichtend, sachliche Kritik persönlich zu nehmen?
Genau das ist in diesem und dem inhaltlich vorausgehenden Thread geschehen.
Ein Forumsmitglied äußert etwas sachlich Unzutreffendes,
wird korrigiert, empfindet aber die Richtigstellungen als persönlich so verletzend,
daß es diesen Thread eröffnet, in der Hoffnung, damit das Gesicht zu wahren.
Natürlich bleiben ihm auch hier die korrigierenden Reaktionen nicht erspart -
nun schon in etwas enervierterem Tonfall -, worauf sich das Forumsmitglied
gekränkt zurückzieht. Wenn der Betreffende einfach geschrieben hätte:
"Sorry, hab mich geirrt, schöne Grüße, Euer Friedrich-Wilhelm..." -
nichts wäre passiert, er hätte sein Gesicht gewahrt. So ist das Gegenteil eingetreten.
Und jetzt kommt es knüppeldick: Das Thema selbst - die strittige Sache -
bleibt völlig unkommentiert, aber den Kritikern wird niveauloser Umgang unterstellt -
weil die Kritik von dem Betroffenen persönlich genommen wurde!
Das ist ein Mechanismus der repressiven Toleranz, wie ihn pppetc einmal
in einem leider gelöschten Beitrag beschrieben hat: Das Unzutreffende
darf geäußert werden und kann sogar Opferstatus beantragen -
die Kritik daran wird zum Täter gemacht und im Namen der Etiquette bekämpft.
Deshalb sind die von Dir geäußerten Formulierungsvorschläge auch so problematisch.
Auch sie haben - und sei's unfreiwillig -
die Funktion, Kritik zu neutralisieren.
Wenn ich keinen Aussagesatz mehr formulieren darf, sondern -
der Empfindlichkeiten meines Gesprächspartners wegen - nur als subjektiv
gekennzeichnete Privatmeinungen,
nimmt das hochempfindliche Gegenüber meine Aussage nicht ernst:
ist ja nur 'ne Privatmeinung. Formuliere ich eine glasklare Aussage,
schreit mein Gegenüber: Was für ein niveauloser Umgang mit mir!
Und die Tugendwächter, BenimmlehrerInnen etc. brüllen gleich im Chor mit.
Das ist wieder dieser Mechanismus der repressiven Toleranz.
Sind wir denn pubertierende Kinder? Ich dachte, wir sind erwachsene Menschen,
die sich in einem sachlichen Gedankenaustausch irren und korrigieren lassen können,
ohne daß ihnen deshalb ein Zacken aus der Krone bricht.
Herzliche Grüße,
Christoph