dass man das Bühnengeschehen mit tagesaktuellen Bezügen anreichern soll
Das habe ich weder geschrieben noch gemeint. Aber wenn man einzig historisierende Inszenierungen gelten lässt, sollte man beim Besuch einer Händel-Oper konsequenterweise auch eine gepuderte Perücke überziehen.
Der war allerdings nicht nur wegen Boulez' Dirigat ein epochales Ereignis, sondern (mindestens) ebenso wegen des verpönten "Regietheaters" von Patrice Chéreau.
Ich habe an keiner Stelle geschrieben, dass ich jede noch so abgedrehte Regiearbeit toll finde. Es gibt sehr gute Regisseure ebenso wie sehr schlechte Regisseure, die eine Operninszenierung in erster Linie als Vehikel ihrer Selbstdarstellung sehen. Und auch ein sehr guter Regisseur wird nicht jedes Stück zum Ereignis inszenieren können. Aber wer nicht bereit ist, die Möglichkeit des Scheiterns zu akzeptieren, wird sich mit Mittelmaß zufrieden geben müssen.
Es ist eigentlich genau so wie bei Pianisten: Im Konzert erwarte ich, dass der Künstler seine individuelle Sicht auf ein Werk zeigt. Um das nicht misszuverstehen: eine individuelle Sicht bedeutet nicht, jedes Stück gegen den Strich zu bürsten, im Gegenteil - es bedeutet, bestimmte Aspekte eines Werks zu beleuchten, Strukturen herauszuarbeiten, die unter der Oberfläche schimmern, Klangfarben so zu mischen, dass neues, bisher vielleicht noch nicht Gehörtes zur Wahrnehmung kommt etc. Fehlt dem Pianisten dazu die Fantasie, interessiert er mich nicht. Und ja - auch hier besteht das Risiko, dass eine Interpretation über's Ziel hinausschießt und dem Publikum unverständlich bleibt. Auch den ganz Großen passiert das - Glenn Gould ist vielleicht das beste Beispiel.
Und alle Gemäldegalerien der früheren Meister gleich mit. Zumindest sollte man das Zeuchs freigeben zum Übermalen, Übersprühen! Wer will heute die alten Rembrandt-Schinken schon noch sehen....
Du magst das lustig finden, aber es zeigt nur, dass du Boulez' Intention nicht verstanden hast.
Nach wie vor gilt, dass das Theater eine moralische Anstalt ist und keine Wohlfühloase, in dem sich das saturierte Bürgertum nichts weiter als Bestätigung holt.