Noch mal von vorne?

Gerade gestern war ich auf einem Reitkurs Der Trainer hatte einen wunderbaren Satz, den man sich hinter die Ohren in´s Gehirn schreiben kann:

There is no learning in the comfort zone.
There is no comfort in the learning zone.
Ich will noch mal auf den Satz zurückkommen.
Möglicherweise gibt es ja einen Zusammenhang zu einer meiner eigenen Maximen: Es hilft nicht viel, wenn man immer nur das reproduziert, was einem ohnehin leicht fällt -- man profitiert wesentlich mehr von der Verbesserung dessen, was einem schwer fällt und worin man schlecht ist.
Ein Musikstück auswendig lernen fällt mir verhältnismäßig schwer. Seit ich aber bemerkt habe, dass meine Bühnensicherheit ungeheuer davon profitiert, investiere ich einige Mühe ins Auswendiglernen -- obwohl ich ja vorher weiss, dass ich nach Noten spielen werde. Der Gewinn an Sicherheit ist mir das wert.

Deshalb finde ich die Formulierung "There is no comfort in the learning zone." völlig irreführend.

Mich zwingt ja niemand, Klavier zu üben. Wenn ich keinen Spaß daran hätte, würde ich es nicht machen. Dass das Üben phasenweise mühsam und anstrengend ist, widerspricht dem ja nicht -- wenn ich Methoden anwende, denen ich vertraue und von deren Wirksamkeit ich überzeugt bin, dann übe ich trotzdem gern und geduldig, und die winzigen, aber halbwegs regelmäßigen Fortschritte, die ich mache, bestätigen mich darin, dass ich nicht komplett auf dem Holzweg bin.

Insofern: Nein, ich muss mich nicht geißeln und schinden und meinen Frust niederkämpfen, um zu üben. Überhaupt nicht.
 
Ich plädiere ausdrücklich dafür, sich in der begrenzten Lebenszeit, die wir (außer Menschen wie Johannes Heesters) nunmal haben, sich nicht nur, aber vor allem in der Komfortzone aufzuhalten. Man sollte in erster Linie die eigenen Stärken füttern und sich nicht vornehmlich mit dem beschäftigen, was einem nicht gut liegt. Ich z,B. habe viel zu viel Zeit in die Arbeit an Scarlatti gelegt, bis ich merkte, dass er eben nicht „mein“ Komponist ist. Diese Zeit hätte ich viel besser für z.B. Schubert nutzen können.
 
Ich plädiere ausdrücklich dafür, sich in der begrenzten Lebenszeit, die wir (außer Menschen wie Johannes Heesters) nunmal haben, sich nicht nur, aber vor allem in der Komfortzone aufzuhalten.

Unterschreibe ich.

Man sollte in erster Linie die eigenen Stärken füttern

Einspruch.
Für das Hobby ist das mMn das falsche Kriterium. Ich denke vielmehr, man sollte das tun, was einen am meisten befriedigt. Das ist nicht immer das, was man am Besten kann...

Unser Ensemble im Verein hat seit einer Weile eine neue Mitspielerin; wir haben seitdem einen Kontrabass in unserer Besetzung. Sehr cool! Sie spielt auch sehr anständig; nicht übermäßig virtuos, aber sehr sicher, sehr sauber und sehr musikalisch.
In der Unterhaltung stellte sich dann heraus, dass sie noch viel besser Cello spielt, aber Lust hatte, mal was Neues zu lernen...

und sich nicht vornehmlich mit dem beschäftigen, was einem nicht gut liegt.

Stop.
"Liegt mir nicht" ist erstmal schwammig.

"Liegt es Dir nicht", weil Du es nicht kannst -- oder "liegt es Dir nicht", weil es Dir schlicht nicht gefällt?
In Deinem Scarlatti-Beispiel ist das im Prinzip egal -- Dich zwingt ja niemand, ausgerechnet Scarlatti zu üben.

Ich habe mir aber zum Prinzip gemacht, nicht über neue Musikstücke zu urteilen, bevor ich sie nicht wenigstens grundsätzlich technisch beherrsche. Ich habe es nämlich bei mir selbst schon viel zu oft erlebt, dass mir Trauben viel zu sauer vorkamen, die eigentlich nur unbequem hoch hingen...
Wenn mir ein Ensemble-Werk (Chor oder Instrumente) nach der dritten anständigen Aufführung immer noch nicht gefällt, DANN gefällt es mir wirklich nicht...


Ich z,B. habe viel zu viel Zeit in die Arbeit an Scarlatti gelegt, bis ich merkte, dass er eben nicht „mein“ Komponist ist. Diese Zeit hätte ich viel besser für z.B. Schubert nutzen können.

Ja... das ist eine schwierige Abwägung. Wieviel Zeit investiert man, und wann sagt man "Nee, das liegt mir wirklich nicht"?

Ich finde da das Musizieren im Ensemble (Chor oder Instrumental) sehr komfortabel -- da wird mir die Entscheidung abgenommen... ;-)
 
Aber tatsächlich ist so, dass man vorausschaut. Allerdings auf einer solch unbewussten Ebene, dass man das meistens nicht wahrnimmt.

Hier versteckt sich durchaus ein Problem: Wie soll ein Lehrer etwas erklären, dessen Existenz ihm nicht bewusst ist?

Viele KlavierschülerInnen lernen das "pianistische Notenlesen" offensichtlich nebenbei beim Üben, also ohne großartige theoretische Erklärung.

Aber was ist mit den anderen?

Auch wenn mir seine Erklärung nur bedingt geholfen hat, bin ich Günter Philipp doch unendlich dankbar dafür, dass er wenigstens der ernsthaften Versuch einer Erklärung unternommen hat.
 
Das macht die Autodidaktik ja so schwer: Man weiß nicht, ob man sich auf dem richtigen Weg befindet.

Richtig.

Und manchmal können einen Vorkenntnisse auf anderen Instrumenten regelrecht in die Falle locken: Beim Flötespielen oder Singen KONNTE ich ja flüssig Noten lesen und (im Falle der Blockflöte) vom Blatt spielen.

Ich hatte daher erwartet, dass ich diese Fähigkeit mit etwas Training auch aufs Klavier würde übertragen können -- aber Pustekuchen...

Inzwischen glaube ich zu wissen, worin der Trick besteht: Beim Singen oder Flöten schadet es nicht, wenn ich während des Spielens meine bewusste Aufmerksamkeit auf das Lesen richte. Es ist zwar in der Regel nicht notwendig, aber es schadet auch nicht dramatisch.
Beim Klavierspielen dagegen darf ich meine bewusste Aufmerksamkeit aber gerade NICHT auf das Lesen richten! Ich muss quasi immer "nebenbei" lesen, auch -- und gerade -- dann, wenn ich unter Stress gerate! Das ist sehr ungewohnt.
Sobald ich bewusst lese, kommt das "ungestört Weiterspielen" durcheinander...

Je stärker ich in den "Flow" gerate, desto geringer ist diese Gefahr -- und desto surrealer fühlt sich das (immer noch) an, weil ich die zeitliche Verzögerung zwischen dem, was ich lese, und dem, was ich gerade spiele, deutlich wahrnehme.
 

Danke für Deine Erklärungen.


Vorher das Stück mal kurz angucken. Taktart, Tempo, Vortragsbezeichnungen, Vorzeichen, große Abschnitte, Rhythmusstruktur, schnellste (bzw. kleinste) Notenwerte etc. Dann: Hände immer an den Tasten lassen, auch wenn nur eine Hand spielt.

Den letzten Punkt finde ich besonders interessant.

Ich bin eigentlich daran gewöhnt, bei Üben nicht auf die Tasten zu schauen (einzelne klar definierte Ausnahmen nicht gezählt).

Trotzdem hatte ich unter Stress schon mehrfach das irritierende Erlebnis, dass ich mich auf der Klaviatur "fremd" fühlte und mich ständig per Augenschein vergewissern wollte, wo ich gerade bin...
 
Ich will noch mal auf den Satz zurückkommen.
Möglicherweise gibt es ja einen Zusammenhang zu einer meiner eigenen Maximen: Es hilft nicht viel, wenn man immer nur das reproduziert, was einem ohnehin leicht fällt -- man profitiert wesentlich mehr von der Verbesserung dessen, was einem schwer fällt und worin man schlecht ist.
So ist es. Das ist auch der Grund warum viele Hobbyspieler über ihn bestimmtes Level nicht herauskommen. Das gilt für alle Fähigkeiten, in denen man sich verbessern will. Konstant dran bleiben und versuchen die Komfortzone immer wieder zu verschieben. In jeder Trainingseinheit sollte man versuchen besser zu werden.
 
Wenn ich keinen Spaß daran hätte, würde ich es nicht machen.
Spaß widerspricht nicht 'außerhalb der comfort zone'.
Comfort zone bezieht sich auf 'bequem', nicht auf 'lustig'.

Ich plädiere ausdrücklich dafür, sich in der begrenzten Lebenszeit, die wir (außer Menschen wie Johannes Heesters) nunmal haben, sich nicht nur, aber vor allem in der Komfortzone aufzuhalten. Man sollte in erster Linie die eigenen Stärken füttern und sich nicht vornehmlich mit dem beschäftigen, was einem nicht gut liegt.
Egal, ob man seine starken oder seine schwachen Seiten trainiert - die Verbesserung einer Fähigkeit, das Üben von etwas, das man noch nicht kann, ist außerhalb der comfort zone.
 
Wenig. Man merkt doch schnell, ob einem ein Stück/Komponist liegt oder nicht.
Das kann zu vorschneller Verurteilung führen.
Wenn mir ein Ensemble-Werk (Chor oder Instrumente) nach der dritten anständigen Aufführung immer noch nicht gefällt, DANN gefällt es mir wirklich nicht...
Das möchte ich unterstreichen. Manchmal ist es das Unbekannte, das einem das Gefühl gibt, es ablehnen zu müssen.
Ich erinnere mich, wie ich als pubertierendes Wesen im Musikunterricht den Wozzeck total abgelehnt habe. Wie ein Rumpelstilzchen habe ich gewettert: Wo ist denn da Musik? Die muss doch gut klingen!
Nach einigen Wochen intensiver Arbeit an diesem Werk mit der hervorragenden Musiklehrerin wurde es zu meiner Lieblingsoper.
Wir haben uns auf den Schulfluren mit: "Ich kann kein Müüüühlrad mehr sehen" begrüßt...
So kann es gehen.
Es lohnt sich immer, sich auseinanderzusetzen mit den Dingen. Sie bringen einen weiter, auch wenn man sie ablehnt. Und sei es um dieser Erkenntnis Willen.
Deshalb finde ich die Formulierung "There is no comfort in the learning zone." völlig irreführend.

Mich zwingt ja niemand, Klavier zu üben. Wenn ich keinen Spaß daran hätte, würde ich es nicht machen. Dass das Üben phasenweise mühsam und anstrengend ist, widerspricht dem ja nicht -- wenn ich Methoden anwende, denen ich vertraue und von deren Wirksamkeit ich überzeugt bin, dann übe ich trotzdem gern und geduldig, und die winzigen, aber halbwegs regelmäßigen Fortschritte, die ich mache, bestätigen mich darin, dass ich nicht komplett auf dem Holzweg bin.

Insofern: Nein, ich muss mich nicht geißeln und schinden und meinen Frust niederkämpfen, um zu üben. Überhaupt nicht.
Ich hatte früher schonmal erwähnt, dass man vielleicht den Begriff "comfort zone" auf das faule Nichtstun reduzieren soll, denn das lässt uns nur in unseren Träumen, ohne uns unserem Ziel näher zu bringen.
 
Einer meiner Lehrer pflegte immer, wenn ich behauptete „Mag ich nicht“, von seinen eigenen Erfahrungen zu erzählen: „Viele der Stücke, gegen die ich mich anfangs, in den ersten Wochen oder durchaus Monaten gestreubt habe, sind zu meinen treuesten musikalischen Freunden geworden.“ Seitdem ich mir diese Haltung selber zu eigen gemacht habe, habe ich unendlich viel unterschiedliche Musik schätzen und lieben gelernt. Mittlerweile schlägt das Pendel sogar in die andere Richtung aus: Stücke, die spontan „klasse“ finde, beginnen mich nach nicht allzu langer Zeit zu langweilen.
 

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