Gegenbeispiele gibt es erfreulicherweise immer.
Ja ... ich habe eines hautnah erlebt.
Eltern warem Millionäre ... fette Villa in bester Lage, Sohn geht natürlich aufs beste Gymnasium am Ort, Eltern sind beide in der Firma des Vaters stark eingebunden und haben daher nur recht wenig Zeit für ihr Kind. Das beschäftigt sich dann eben selbst ... Spielekonsole der neuesten generation ist immer da, es steht ne Gitarre rum und es gibt eine ganze Menge Einladungen zu Aktivitäten ... sogar eine Gotcha-Ausrüstung für 2 Spieler hatte der da rum liegen.
Das einzige, was es nicht gab, sind Eltern, die sich um ihr Kind kümmern ... oder Freunde, die mal zu Besuch kommen.
Er hatte Probleme mit Mathe und Englisch. Ich wurde als Nachhilfelehrer engagiert. Nach und nach bekam ich mit, dass der Junge Nachhilfe in 5 Fächern bekam.
Im Unterricht lief immer alles ganz gut. Aber kaum standen Klausuren an, gingen die Leistungen in den Keller. Ich habe dann begonnen, mit ihm seine Klausuren durchzusprechen ... das war alles Zeug, was er konnte. Nur in der Pfüfung konnte er es dann irgendwie nicht abrufen.
Meine Idee war "Prüfungsangst". Seinen Eltern schienen gute Noten sehr wichtig zu sein ... und diese Erwartunghshaltung hat der Sohn wohl auch gespürt, was in Prüfungssituationen (die direkt in die Gesamtnote einfließen) einen irrsinnigen Druck auf ihn ausübte.
Meine Reaktion - nach etwa einem halben Jahr - war dann ein längeres Gespräch mit der Mutter. Ich sagte ihr, dass der Junge mMn mehr Raum bräuchte, und dringend mehr Zeit mit seinen Eltern und mit Freunden verbringen sollte. Nachhilfe in 5 Fächern mögen einem sinnvoll erscheinen und die bekommt er ja wahrscheinlich auch, weil die Eltern ihm helfen wollen, in der Schule gute Leistungen zu zeigen. Gleichzeitig baut das aber auch einen gewissen Leistungsdruck auf, und dieser Druck könne in Prüfungssituationen auch zu einem "blackout" führen. Einfachste Lerninhalte sind dann plötzlich nicht mehr abzurufen, weil die Angst vorm "nächsten Versagen in einer Prüfung" das gesamte Denken dominiert.
Ich habe ihr geraten, die Nachhilfe zu reduzieren, und es einfach mal zuzlassen, dass ihr Sohn in Mathe eben nur ne Vier geschafft hat. Wenn er wirklich erfolgreich sein soll, dann muss er selbst leisten (und auch glauben, dass er das selbst war) ... und er muss auch selbst herausfinden, dass es für "Gut" oder "Sehr Gut" diesmal eben nicht gereicht hat.
Als Motivation habe ich ihr dann noch meine Geschichte aufgetischt. Am Ende des 2. Halbjahres der 9. Klasse stand ich in Mathe auf 4 mit Tendenz zur 5.
Die 4 war die erste Mathenote, die ich zu Gesicht bekam (besondere Schule), und das hat mich wohl irgendwie so geschockt, dass ich mich auf den Arsch gesetzt und gelernt habe. Noch ein bisschen Arschkriechen bei der Mathelehrerin (Wahrscheinlichkeitstrechnung finde ich ja soooooooo interessant).
Am Ende der 10 stand ich in Mathe dann bei einer komfortablen 2.
Ich weiß zwar nicht, wie der schulische Werdegang bei meinem Nachhilfeschüler weiter ging, und darum geht es hier auch garnicht, aber ich habe selten einen so lieblosen Haushalt erlebt. Mein Schüler bekam im Grunde von der Putzfrau mehr Aufmerksamkeit, als von der eigenen Mutter. Den Vater habe ich nicht ein mal gesehen ... der glänzte wohl durch ganztägige Abwesenheit.