Fragen und Antworten zum "Bergwander-Effekt"
So, jetzt komme ich langsam zur meinerseits angedachten Abrundung des Themas "Klavierstimmen lernen". Vollständige Anleitung ist, wie bereits gesagt, von mir nicht beabsichtigt, es gibt ja bereits viel anderes dazu. Das Temperaturlegen war mir als Teilthema wichtig, das "Bergwandern" gestimmter Töne ebenfalls. Beide Teilthemen waren für mich in der Entwicklung meiner Tätigkeiten von maßgeblicher Bedeutung.
Ein paar Illustrationen kommen noch, wie angekündigt, und auch noch eine Nachbemerkung zu dem Roth&Junius-Flügel, den ich vor wenigen Tagen wiedersah, und der deshalb hier den Aufhänger für das zweite Teilthema hergab.
Hier nun aber erstmal, zur Abrundung des zweiten Teilthemas, eine überschaubare Liste von Fragen und Antworten.
- Was ist der (Von PianoCandle so genannte) "Bergwander-Effekt?"
Die Neigung soeben korrekt gestimmter Piano-Töne, ihre Tonhöhe subtil bis deutlich aufwärts zu verändern, sobald deren Nachbartöne gestimmt werden, und dabei zugleich kaum oder gar nicht ihre Chorreinheit zu verlieren.
- Gibt es eine präzise Erklärung dafür?
Mir ist bislang keine bekannt. Ist aber auch nicht zwingend erforderlich, wenn man die durchaus benennbaren Voraussetzungen zum Eintreten des Effekts dennoch ernst nimmt.
- Worin liegt die besondere Bedeutung dieses Effekts?
In seiner vordergründigen Unlogik. Man neigt eher dazu, ein Wieder-Absacken der frisch gestimmten Saiten zu erwarten. So etwas gibt es natürlich auch, vor allem im Zuge von Hochstimm-Vorgängen. Doch darum geht es hier nicht, sondern um etwas vordergründig Widersinniges. Die Thematisierung hier soll dazu beitragen, zwischen den Wirkungen des eigenen Tuns und den Dispositonen des jeweiligen Pianos hinlänglich zutreffend differenzieren zu können.
- Gibt es nennbare Vorausetzungen, unter denen mit diesem Effekt gerechnet werden muss?
Ja, und zwar:
- 1) Man sollte generell beim Klavierstimmen, auch unter günstigen Voraussetzungen, darauf gefasst sein und ggf. korrigierend nacharbeiten.
- 2) Bei Klavieren/Flügeln, deren obere/vordere Saitenumlenkungen stark reiben, gleich ob an Metall, Holz oder Textil, ist verstärkt mit dem Effekt zu rechnen.
- 3) Bei Klavieren/Flügeln, deren gespielte Saitenlängen durch (ggf. auch zwei- bis dreifache) stark schränkende Umlenkungen begrenzt werden, ist auch bei optimalem Finish der reibenden Materialien verstärkt mit dem Effekt zu rechnen.
- 4) Bei Klavieren mit suboptimaler Stabilität der Druckstäbe, der Kapodaster, der Stege, der Stimmstock-Gussplatten-Verschraubungen, ist verstärkt mit dem genannten Effekt und generell mit minder präziser Stimmbarkeit zu rechnen.
- Ist der Effekt beherrschbar?
In aller Regel ja, wirklich unstimmbare Pianos wegen der genannten Voraussetzungen gibt es nur in sehr seltenen Ausnahmen.
- Betrifft dieser Effekt nur Anfänger/innen?
Der Effekt betrifft alle, die Pianos stimmen, in unterschiedlichem Ausmaß (zwischen sehr stark und fast gar nicht), abhängig von Erfahrung, Vielfalt der Instrumentenkenntnis, sowie abhängig von der im Detail angewandten Stimmtechnik.
- Wie lässt sich der Effekt beherrschen?
Durch mehrere Durchgänge des Stimmens in den betroffenen Segmenten des Instruments. Dabei z. T. auch durch vorausahnendes Kompensieren des Effekts im ersten Durchgang oder mehreren Vor-Durchgängen, und schließlich durch zuverlässiges Erzielen der korrekten Tonhöhe ganz zuletzt. In allen Fällen ist die hinlänglich eingeübte zielführende Handhabung des Stimmwerkzeugs maßgeblich bedeutsam, sowie auch die als angemessen herausgefundene Intensität des Tastenanschlags beim Stimmen.
- Was geschieht, wenn der Effekt nicht beachtet wird?
Möglicherweise wird die Tonhöhe insgesamt zu hoch. Häufiger aber kommt es im Diskant, vor allem in der 2- und 3-gestrichenen Oktave, zu einem ungesund überspreizten "Buckel" in der Stimmung. Auch die Töne links der Temperatur-Oktave bis zur Bassspreize sind des öfteren leicht bis deutlich überhöht. Im Bass sind häufig die tiefsten Töne deutlich zu hoch. Alle diese genannten Wirkungen können mit der Ignorierung des Effekts zu tun haben, können aber auch andere Ursachen haben.
- Kann man als Anfänger/in den Effekt vermeiden?
M. E. nicht wirklich. Ich halte es für ratsam, sich darauf einzustellen, und in diesem Zusammenhang den geplanten Zeitaufwand für das Stimmen in Eigenarbeit auf mindestens das Dreifache des Erahnten hoch zu korrigeren. Wer also meint, er/sie könne sein/ihr Instrument etwa in der vierfachen Zeit eines Profis stimmen, kommt auf ca. sechs Stunden. Und sollte dann, gemäß dieser Empfehlung, nicht mit sechs Stunden sondern mit zwei Tagen und ggf. noch mehr rechnen. Und angesichts dieser Aussicht nur bei einem erkennbar einigermaßen aussichtsreichen Instrument überhaupt anfangen.
- Es wird doch allgemein eine leicht gespreizte Stimmung verlangt, ist dafür das "Bergwandern" nicht sogar günstig?
Schön wärs, zu schön um wahr zu sein. Eine Spreizung kann da Sinn machen, wo sie genau angesteuert wird und dort auch bleibt. Wer dafür einen unkontrollierten Effekt nutzt, macht aus der Not eine Tugend. Allerdings halte ich es nicht für ausgeschlossen, dass die Diskussionen um gespreizte Stimmungen in diesem Effekt eine von mehreren Nahrungsgrundlagen haben. Dazu könnte passen, dass ich vor langer Zeit einmal in einer Stimmanleitung las, dass die mittleren Oktaven nicht gespreizt, sondern etwas verengt sein dürfen, was deutlich an die meinerseits genannten unfreiwillig höher werdenden Töne links der Temperatur-Oktave erinnert. Und auch über zu hohe Basstöne (m. E. ein eher unfreiwilliges Ergebnis) habe ich bereits planvoll klingende Rechtfertigungen gehört. Meine Meinung: Eine optimale und gezielt angesteuerte Stimmspreizung hat mit dem "Bergwander-Effekt" nichts zu tun und darf sich seiner auch nicht bedienen. Und, in diesem Zusammenhang: Wer mit dem Stimmen anfängt, sollte sich strikt um saubere Intervalle kümmern. Das mit dem Spreizen kommt, wenn überhaupt, viel später.
Glückauf zum Erstversuch an alle Mutigen...
Gruß
Martin