Zum Fingergedächtnis
Der Kopf steuert die Finger! Ich verstehe nicht, warum hier und dort von „Fingergedächtnis“ gesprochen wird. Dieses Wort halte ich für genauso unsinnig wie den Begriff „Fesselübung“ (als Fingerübung).
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Ich denke mit Fingergedächtnis ist die motorische Gewöhnung, die die Umsetzung der Noten in eine genau festgelegte Tätigkeit der Hände automatisiert.
Quelle: “Die Funktion des Gehirns am Beispiel des Klavierspielens“ von Helmut Walther
Hier der dazugehörige Abschnitt:
Zweiter Schritt: um ein Stück in gehöriger Weise als ein Ganzes spielen zu können, muß nun eine weitere und doppelte Gewöhnungsarbeit geleistet werden. Durch Konzentration und Wiederholen muß sich das Gedächtnis die Akkorde und Tonfolgen in der Weise einprägen, daß jene nicht mehr in Einzelheiten zerlegt werden müssen, sondern vielmehr wird ein Akkord zu einem Gesamtzeichen, das seine Einzelheiten „von selbst" hergibt, ebenso wie für eine bestimmte Tonfolge nunmehr etwa der Taktanfang genügt, um den gesamten Takt ablaufen zu lassen. Das Ablesen der Noten wird bei zunehmendem Lernerfolg nurmehr zu einer Gedächtnisstütze, um die einzelnen Oberzeichen und deren Reihenfolge aufzunehmen. Eine gleichzeitig stattfindende motorische Gewöhnung automatisiert das Umsetzen der Noten in eine genau festgelegte Tätigkeit der Hände: eine bestimmte Fingerhaltung und –bewegung wird den Oberzeichen fest zugeordnet. Von daher drängt sich der Eindruck auf, daß die Hände jeweils wüßten, was sie zu tun haben, ohne daß das Bewußtsein aktiv eingriffe. Das Bewußtsein empfindet sich eher neben als in der motorischen Ausführung. Die vorstellende Tätigkeit beschränkt sich auf das Einsatz-Geben für die Anfänge der Teilstücke, die Einzelheiten laufen völlig unbewußt ab. Daher denn auch die Schwierigkeit, Fehler auszumerzen, wenn sich solche einmal eingeschlichen haben; ganz offenbar ist es schwieriger, in den oberzeichenmäßig verbundenen Ablauf, das Zusammenspiel zwischen Gedächtnis und Motorik einzugreifen, als einen solchen Ablauf neu zu lernen. Denn die Auflösung und erneute Zusammenfügung eines neuronal bereits vernetzten Ablaufes erfordert im Wortsinn mehr Energie und Konzentration als das Zusammenfügen allein.
[Ergänzung 07.05.2008: So auch der Neurobiologe Gerhard Neuweiler in seinem Buch "Und wir sind es doch - die Krone der Evolution" (Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2008):
Für solche perfektionierten Handlungsabläufe, deren Programme unbewusst ablaufen, sind die Basalganglien unerlässlich, denn sie entlasten das Bewusstsein von zahllosen erlernten Automatismen, aus denen viele unserer Alltagstätigkeiten bestehen. Jeder Autofahrer und jeder Klavierspieler weiß, dass solche perfekt ablaufenden Automatismen, zum Beispiel beim Lenken oder bei der Fingerakrobatik auf der Tastatur, dann fehlerhaft werden, wenn man versucht, sie bewusst zu kontrollieren. (S. 156)]
Dritter Schritt: Jetzt kann die Arbeit am Stück selbst beginnen; zuerst müssen, wenn nötig, die Tempi der einzelnen Teile in Bezug auf die motorischen Abläufe beschleunigt werden, was per se ipsum zu einer weiteren Automatisierung des Auffassens wie der Motorik führt, sodaß nunmehr im einzelnen durchaus kein bewußtes Wissen davon vorhanden ist, was an Noten gespielt wird. Die Aufmerksamkeit befindet sich vielmehr nun im Gesamtzusammenhang und eilt notenmäßig nur von Oberbegriff zu Oberbegriff. Dadurch wird das Bewußtsein frei, sich jetzt auf die eigentliche Wiedergabe hinsichtlich der Tempi, der Dynamik, des Ausdrucks zu konzentrieren.
Es werden sicherlich auch andere Aussagen über das Klavierspiel gemacht werden, insonderheit von jenen Genies, die sich hinsetzen und die schwierigsten Dinge vom Blatt spielen, oder Partituren im Flugzeug besehen, um sie dann auswendig zu spielen – es gibt hier auch noch ganz andere Varianten der Vernetzung zwischen der Aufnahme durch die Sinne, der Gedächtnisverarbeitung samt Zugang zur Motorik. Hier ist der Fall angenommen, daß die Vernetzung des Gehirns dazu nötigt, nicht nur den Verstand, sondern auch die Reflexion/Vernunft zu benutzen, und auch nur über jenen Weg Zugang zum Gedächtnis zu erlangen. Dies ist ganz offenbar für das Klavierspiel ein Nachteil, als die Vernetzung zwischen
Verstand, Gedächtnis, Emotio und Motorik wesentlich direkter und damit effizienter arbeitet. Das stimmt wiederum damit zusammen, daß jedes neue Oberzentrum zunächst eine Hemmung ist – und hier denn auch in der reflektierenden Oberzeichen-Bildung tatsächlich hemmend wirkt.
Ergänzung 04.06.2007: Wie ich entdecke, hat sich auch
Friedrich Nietzsche über diesen Zusammenhang seine Gedanken gemacht, die in seinen Nachlass-Fragmenten aufgezeichnet sind:
"Muß nicht überall der umgekehrte Prozeß da sein z. B. beim Klavierspieler, der Wille zuerst, dann die entsprechende Vertheilung der Aufgaben an die subordinirten Willen, dann das Anheben der Bewegung von der letzten untersten Gruppe aus – dem gröbsten Mechanismus bis hinauf in die feinsten Tast-Nerven? Nämlich: Akkord, Stärke, Ausdruck, alles muß vorher schon da sein – : Gehorsam muß da sein und Möglichkeit zu gehorchen!" KSA 11, 291 (1884)
Ergänzung 26.06.2017: Wie ich erst jetzt entdeckt habe, haben sich auch
Sir John C Eccles und Karl R. Popper in ihrem gemeinsamen Buch
Das Ich und sein Gehirn (Piper, München 1982, S. 624) Gedanken über Gehirn und Klavierspiel gemacht, die ich hier gerne wiedergebe:
"Eccles: [...] Es ist ein Fehler zu denken, daß jede Bewegung, die durch die dominante Hemisphäre initiiert wird, eine willentlich geplante Aktion darstellt, die durch den selbstbewußten Geist auf die offenen Moduln ausgeübt wird. Dies ist der Fall, wenn wir beginnen. eine neue Bewegung zu erlernen. Wir tun es mit geistiger Konzentration und überprüfen es, während wir beobachten, daß die Aktionen besser und besser gelingen. Sind sie einmal erlernt worden, dann werden sie in den automatischen Bereich hinunterrelegiert.
Wir sollten auch Musikinstrumente erwähnen, weil die Darbietung mi Musikinstrumenten eine der anspruchsvollsten aller möglichen Bewegungskontrollen ist. Beim Klavierspielen mit sehr schnellen Bewegungen muß man erkennen, daß man das Limit dessen erreicht hat, was kontrolliert werden kann. Tatsächlich kann man die einzelnen Fingerbewegungen nicht mit Hilfe eines Feedback-Schaltkreises von der Peripherie mit 7 pro Sekunde kontrollieren, was ich für etwa die höchstmögliche Frequenz halte. Dies muß folglich in Phrasierungen geschehen. Die Kontrolle ist automatisch in dem Sinn, daß eine Phrase zu einer weiteren und zu noch einer weiteren führt und sogar die Kontrollmechanismen unserer Bewegungen arbeiten in Phrasen, indem sie sie modifizieren und sozusagen in Stücken arbeiten und die Phrasen zusammensetzen und nicht die einzelnen Bewegungseinheiten. Dies geschieht zu schnell, um individuell kontrolliert zu werden.
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Mhhhh, das wäre eine interessante Frage, die Clavio an Herrn Prof. Altenmüller richten könnte. Was meint ihr?