Trotz der überraschenden, für die interessierte Mitleserin aber doch nachvollziehbaren Querbezüge von Dreiklangs Eingangsthesen zu Donald Trump, der EU, dem nächsten Bundeskanzler, zur Papstwahl und zu Leichenobduktionen, möchte ich hoffen, dass das potentiell explosivste aller in diesem Faden geäußerten Postulate nicht stillschweigend für alternativlos erachtet wird, bezieht es sich doch auf eine Frage, welche gewiss nicht nur mir auf und unter den Nägeln brennt, die Frage nämlich nach dem relativen Kunstanspruch von Messe und Motette...
Die höchsten Ansprüche stellen das Streichquartett (was die Instrumentalmusik betrifft) und die a cappella-Motette (in puncto Vokalmusik)
bzw. Messe sind also schon Gattungen mit etwas reduziertem Kunstanspruch.
...denn gerade am Beispiel von Messe und Motette lässt sich eindrucksvoll erkennen, welch vielfachem Wandel musikalische Gattungen im Laufe der Jahrhunderte unterworfen sind, auch und gerade, was den jeweiligen an sie herangetragenen Anspruch betrifft. Für die ehrwürdige Motette, die schon ein halbes Jahrtausend hinter sich hatte, als die ersten Streichquartette geschrieben wurden, gilt dies vielleicht mehr noch als für jede andere Gattung.
Die (isorhythmische) Motette — noch bis ins frühe 15. Jh. stand sie allen anderen Gattungen voran.
Spätestens bei Tinctoris und danach vor allem verkörpert durch Ockeghem, ist es aber die Messe, die nun mit größtem Anspruch und höchster Originalität verbunden wird; die Motette ist schon für Tinctoris nur noch "mediocris". Taruskin (Band 1, S. 460) zitiert in diesem Zusammenhang Bukofzer, für den die zyklische Vertonung des Messordinariums ab Dufay zum "focal point on which all the artistic aspirations and technical achievements of the composer converged" wurde.
Etwas später jedoch kehren sich die Verhältnisse einmal mehr um: "with the Josquin generation, Mass and motet exchanged places in a way: the motet now took on the cutting-edge quality that the cyclic Mass had displayed during the previous two generations [...]" (Atlas, Renaissance Music, S. 269)
Am Ausgang der Renaissance, bei Palestrina und Orlando di Lasso, konnte man sicher von keiner der beiden Gattungen als der weniger "anspruchsvollen" sprechen.
Im Verlauf der Barockzeit war aus der einst glanzvollen Motette eine "weithin zur Gebrauchsmusik abgesunkene Gattung" (Hofmann, S.47) geworden, die erst durch Bach noch einmal – ich sage: zum letzten Mal in der Gattungsgeschichte – "zum vollgültigen musikalischen Kunstwerk" (Hofmann, S. 47) erhoben wurde.
Um noch einmal zur Messe zurückzukehren: Man darf vermuten, dass weder Bach, der sich erst mit seinem letzten Chorwerk der "catholischen Messe" zuwendet, noch Beethoven ("Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!") sich der Gattung im Bewusstsein eines "reduzierten Kunstanspruchs" zugewendet haben.
Ich denke das musste einmal gesagt werden.
Mit (keinesfalls reduzierten!) Grüßen,
pianovirus