Aber worauf willst Du hinaus? Empfindest Du die Messe als von mir herabgewürdigt?
Eine von mir wahrgenommene kleine "Degradierung" der Messe in Deinem Beitrag habe ich mit hoffentlich erkennbaren Augenzwinkern aufgenommen. Es ging Dir in diesem Zusammenhang ja auch in erster Linie um eine Illustration der folgenden Aussage, der ich nur zustimmen möchte:
Zitat von Gomez de Riquet:
Nun kommt das Entscheidende: Ob satztechnisch und formal anspruchsvoller oder nicht, ob Streichquartett oder homophones Klavierstück, Symphonie oder Pas de deux, Motette oder Schnadahüpferl - ein guter Komponist schreibt alles mit derselben liebevollen Sorgfalt.
Kommentiert habe ich deshalb auch nicht primär, um einer vermeintlichen Geringschätzung der Messe entgegenzutreten, sondern einfach, weil mich die beiden Gattungen und ihre Entwicklung vom Mittelalter bis zum Frühbarock sehr interessieren. Da ich sonst immer weniger thematische Berührungspunkte zu den Diskussionen hier finde, wollte ich die seltene Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen...
Aber jetzt nochmal, auf was will ich hinaus? Deine Aussage
Zitat von Gomez de Riquet:
Daß der Motettensatz als noch anspruchsvoller galt, hatte mit seinem geringeren cantus-firmus-Bezug zu tun. Es ist leichter, sich an einem cantus firmus entlangzuhangeln (so wie heute an einer 12-Ton-Reihe), als frei zu komponieren."
überzeugt mich in zweierlei Hinsicht nicht:
Erstens, im historischen Teil der Aussage, nämlich in der Behauptung, dass der Motettensatz tatsächlich durchweg über die Jahrhunderte hinweg als "noch anspruchsvoller" im Vergleich zur Vertonung des Messordinariums
galt; das habe ich in dieser Pauschalität noch nirgends lesen können.
Ich habe ja oben moderne Literatur und auch Tinctoris als Zeitzeugen angeführt, um den sehr wechselvollen Verlauf der beiden Gattungen, auch was ihren jeweiligen "Anspruch" betrifft, anzudeuten. Hier noch ein letzter moderner Beleg, wieder mit Verweis auf die Generation vor Ockeghem, aus der 8. Auflage (2010) von Burkholder/Grout/Palisca,
A History of Western Music (S. 190):
"
As the motet receded in importance, the mass became the most prestigious genre of the time. The traditions that developed, in which many composers used the same melody as cantus firmus, suggest that
the mass became a proving ground for composers' abilities."
(zu den Traditionen, siehe auch weiter unten, L'homme armé...)
Zweitens, zum musikalischen Argument, es sei "leichter, sich an einem cantus firmus entlangzuhangeln (so wie heute an einer 12-Ton-Reihe), als frei zu komponieren":
Ob das zu allen Zeiten so gesehen wurde, mag ich bezweifeln. Wenn es erlaubt ist, eine vielleicht etwas weite Analogie zur Literatur zu ziehen: "Es ist schwierig, einen bekannten Stoff zu bearbeiten. Aber je schwieriger, desto lobenswerter... Jedenfalls viel wertvoller, als einen neuen Stoff zu erfinden, der noch unbenutzt ist." (Geoffrey von Vinsauf, um 1200). Der höchste Anspruch war in der Dichtung des Mittelalters mit dem "bene tractare" verbunden, also der Frage, wie der Dichter einen vorhandenen Stoff bearbeitete und variierte. Das Ideal der
Imitatio spielte auch in der Renaissance, in verwandelter Form und mit Rückbezug auf (teilweise nur imaginierte) antike Modelle eine wichtige Rolle. Atlas ("Renaissance Music", S.160) weist darauf hin: "The tradition of basing new polyphonic compositions on preexistent material was already centuries old by the time
imitatio became a hot intellectual topic in Italy".
Als ganz besonders wirkungsmächtige Ausprägung der Imitatio-Idee kann man die sich durch die gesamte Renaissance ziehende, mit Busnois beginnende und über fast 150 Jahre hinweg lebendige Tradition der Missa
L'homme armé sehen: "Most major composers for more than a century [...] wrote at least one Missa L'homme armé, showing that writing a mass on this cantus firmus had become a venerable tradition, as a test of younger composers' ability to create something new from familiar material" (Burkholder et al, "A History of Western Music" 8th ed., S. 185)
Oder, in den Worten von Richard Taruskin (Band 1, S. 484): "Practically every composer wrote at least one Missa L'Homme Armé [...] The principle of emulation, thus applied on such a massive scale, produced the very summit of fifteenth-century musical art and artifice."
Schließlich, Taruskin über Josquins Missa L'homme armé (S. 499): "No question then, that Josquin was still engaging in the process of emulation – the process that continually asked, "
Can you top this?". Yet even as he attempted to top all his predecessors in his manipulation of the age-old cantus firmus, he paid the signal tribute in his headmotive." (nämlich Busnois und Ockeghem zitierend)
Neben Messtypen, die auf teilweise sehr komplexe Weise auf fremdes Ausgangsmaterial zurückgreifen, CF/Parodie-, Parodie- oder Paraphrasenmessen, steht ja übrigens auch noch der Typus "sine nomine" ohne Rückgriff auf fremdes Material, als bekanntestes Beispiel Palestrinas Missa Papae Marcelli, oder etwa Ockeghems Missa Prolationum – "perhaps the most extraordinary contrapuntal achievement of the fifteenth century" (New Grove).
Umgekehrt kann man vielleicht noch sagen: auch viele Motetten "hangeln" sich an einem cantus firmus entlang, von de Vitry und Machaut bis zur protestantischen Kirchenliedmotette. Vor allem in der isorhythmischen, cf-basierten Ars Nova-Motette wird aber wohl kein Verdacht aufkommen, der Komponist habe es sich damit leicht gemacht...
LG vom messen- und motettenvirus, auch von madrigalvirus