Irgendeine Polarisierung zwischen einer Schule, die das reine Fingerspiel proklamiert, und einer, die das reine Armspiel proklamiert, wäre immer nur Ausdruck des Mißverständnisses. Die Frage ist doch nicht, ob man NUR mit Armbewegegungen oder NUR mit Fingertechnik spielen sollte; die Frage ist auch nicht, ob man dauernd mit Armgewicht oder nie mit Armgewicht spielen sollte; die Frage ist lediglich, wann sich zu dem unverzichtbaren Fingerspiel Armbewegungen hinzugesellen sollen, manches vielleicht auch nur aus dem Arm gespielt werden kann, manches mit wenig bis gar keinem, manches vornehmlich mit Armgewicht.
Beispielsweise ist es offensichtlich, daß man einen vier-, fünfstimmigen Akkord in einer Hand nicht mit reinen Fingerbewegungen anschlagen kann -- das Ergebnis wäre einigermaßen kläglich. Ebenso offensichtlich aber ist, daß man in schnellen Läufen aus Einzeltönen nicht jeden mit einer Armbewegung hervorbringen kann, weswegen nicht selten die allmähliche Temposteigerung beim Üben solcher Stellen scheitert, denn nicht selten übt jemand schnelle Stellen in langsamen Tempo falsch, indem sich in jeden einzelnen Anschlag viel zu viel Armgewicht mischt, um je ein angemessenes Tempo erreichen zu können -- er übt im langsamen Tempo etwas anderes, als er im schnellen braucht. Das Üben von Geläufigkeit unter Ausschaltung jeglichen Armgewichts ist darum durchaus sinnvoll und unabdingbar, und das Üben des Fingerspiels hat deswegen zwingend mehr Zeit in Anspruch zu nehmen als das Üben von Armbewegungen.
Eines von beiden aber grundsätzlich ausschließen zu wollen, ist dogmatischer Unsinn. Es gibt keine "verbotenen" Bewegungen, es gibt nur zweckmäßige und unzweckmäßige, und was an einer Stelle zweckmäßig ist, kann an anderer höchst unzweckmäßig sein. Um das detailliert zu erläutern, müßte man allerdings eine ziemlich lange Abhandlung schreiben, aber das wäre überflüssig, da es darüber bereits Bücher gibt. Zwei der besten scheinen mir Josef Gats "Die Technik des Klavierspiels" und Ceslaw Mareks "Lehre des Klavierspiels" zu sein. Bei erstem darf man sich von manchmal etwas gewöhnungsbedürftiger Terminologie nicht abschrecken lassen ("direkter Anschlagsschwung" für das Armspiel, "indirekter" für das Fingerspiel), bei zweitem nicht von dem drögen, erbsenzählerischen Stil und der alles in Gesetze fassender und alles skalierender Systematisierung. In beiden ist SOWOHL ALS AUCH von Finger- wie von Armspiel ausgiebig die Rede und das überaus lehrreich, auch wenn man hin und wieder auf Details stößt, mit denen man vielleicht nicht einverstanden ist.
Im übrigen verschweigt jede "Methode" einen wesentlichen Aspekt: Daß das Geheimnis sehr guten Spiels nicht in irgendeiner Art von einstudierter Bewegung liegt, sondern in musikalischer Auffassungsgabe, deren Mangel durch Bewegungslehre nicht zu kompensieren ist.
Daß der Arm grundsätzlich an der Schulter "hänge", wie Haydnspaß meint, halte ich für falsch. Erstens kompensiert man das Armgewicht nicht nur durch Heben, Halten des Unterarms und der Veränderung des Winkels zwischen Ober- und Unterarm, sondern genauso gut durch Änderung des Winkels zwischen Oberarm und Schulter, bzw. Oberarm und Rumpf. Und zweitens bedeutet "Gewichtsspiel" keineswegs nur den Einsatz des Unterarmgewichts, sondern des Gewichts des ganzen Arms, schließlich "hängt" der Oberarm nicht lotrecht, denn dann würden die Ellbogen ziemlich nachteilig an den Rippen kleben. Der Oberarm wird tatsächlich aus der Schulter getragen, was schon deswegen völlig einsichtig ist, weil man den Ellbogen nach vorn wie zur Seite bewegen können muß, jedenfalls kann man den Oberarm nicht hängen lassen und gleichzeitig die Randlagen, also rechts den höchsten Diskant, links den tiefsten Baß erreichen. Und der Anschlagsschwung aus dem Arm ist in den meisten Fällen eine Bewegung aus der Schulter, also des ganzen Arms, an der die nachfolgenden Gelenke beteiligt sind, indem sie das plumpe Fallenlassen des Arms abfedern: Der Ellbogen federt nach dem Rückstoß des Anschlags ein wenig auswärts (der Oberarm hängt eben nicht mehr, sondern wird durch Muskelkraft getragen), das Handgelenk federt nach kurzer Abwärtsbewegung leicht nach oben (der Unterarm wird aus dem Ellbogen getragen), und das Ganze geschieht gleichzeitig in einer einzigen Bewegung des ganzen Arms, die etwas von einem Rotations-Ellipsoid hat. Das nennt Marek einen "Tiefschwung". Möglich ist auch der "Hochschwung", der eine plötzliche Streckbewegung des ganzen Armes bedeutet, so als wollte man gegen den Klavierdeckel boxen; auch daran ist natürlich der Oberarm beteiligt, denn man kann wohl schlecht nur den Unterarm strecken. Ebenfalls möglich aber ist natürlich, mit reinem Unterarmgewicht und reiner Unterarmbewegung anzuschlagen, was meist aber nur bei Forte-Oktaven zu gebrauchen ist.
Der Witz des Armspiels liegt darin, daß man den ganzen Arm einsetzt, ohne daß die Finger zwischen den Anschlägen den Tastenkontakt verlieren; vor allem aber darin, daß immer nur für die kurze Dauer der Tastenbeschleunigung tatsächlich Armgewicht auf den Tasten lastet und dieses durch eine zweckmäßige Bewegung aller Gelenke sofort wieder kompensiert wird (oder während einer Gruppe nachfolgender Töne allmählich kompensiert wird); beides geht nicht ohne Bewegungen aus der Schulter und ohne "Tragen" des Arms aus der Schulter, mit reinem Hängenlassen ist das nicht zu machen.
-----
http://www.pian-e-forte.de