Zuerst einmal bin ich froh, dass hier konstruktiv diskutiert wird, und nicht gleich alles, was einer mglw. gängigen Klavierlehrmeinung entgegensteht, ins Lächerliche gezogen wird!
ch glaube, ein wenig Verwirrung bzgl. der "romantischen Interpretation" vornehmlich der Spielhinweise Busonis besteht darin, dass Du annimmst, das Achtel am Ende des ersten Bogens müsse "romantisch phrasiert" der leiseste Ton sein - - aber genau diese Zielnote der musikalischen Bewegung verdeutlicht ja den Taktschwerpunkt (immer das 1. und 3. Viertel). Und der rhythmische Charakter solcher Takt-Schwerpunkte ist nicht zwingend immer und überall durch einen hervorhebenden starken Akzent zu machen, weil das recht starr bis plump wirken kann.
Vielleicht täusche ich mich auch, weil ich nicht so recht herauslesen kann, was Du mit romantischer Interpretation meinst (F. Busoni war eigentlich kein Vertreter der musikal. Romantik)
Also erstmal dachte ich bisher immer, Ferrucio Busoni sei eigentlich der Erfinder des Büstenhalters, weiß auch nicht, wieso ich darauf komme... :D
Im Ernst, tatsächlich empfinde ich die ziemlich drastischen und eigenmächtigen Änderungen am Urtext der Bachausgabe von Busoni als hochgradig romantisch, welche genauso wie das Pendant für die Orgeleditionen von Straube, ihre Entstehungszeit um das Ende des 19. Jhds und den damals wehenden Zeitgeist nicht verleugnen können.
Aber ich gebe dir vollkommen recht, das die Darstellung von Takt-Schwerpunkten nicht zwingend durch einen starken Akzent oder durch Artikulation oder was auch immer gemacht werden muß und auch, dass es bei gleichförmiger Daueranwendung starr und plump wirken kann. Wichtig finde ich aber, dass man überhaupt "irgendwie" Takt-Schwerpunkte bei Barockmusik spürbar werden lässt.
Die Gefahr von eingezeichneten Melodiebögen liegt darin, dass man versucht ist, die romantische "Standard"-Variante durchzuziehen: zarter Anfang, starker Höhepunkt, zartes Ende, und alles legato. Mit dieser Methode wären sämtliche Taktschwerpunkte bei der 1. Inventio perdue, die im worst-case Fall so dargestellt würde, als wäre das Stück ohne Auftakt und der Taktschwerpunkt im 2. 16-tel statt erstem.
aber das will mir nicht einleuchten: wenn man die auftaktige Sechzehntelbewegung allein als thematisch auffasst, dann verbleibt sie rhythmisch irgendwie im leeren Raum (sie ist ja immer 2. bis 8. bz. 10. bis 16. Sechzehntel)
Musikalisch sinnvoll ist, die auftaktigen sieben Sechzehntel als Bewegung in den folgenden 8. Ton (meist ein Achtel) zu phrasieren - hierbei verschwindet übrigens kein Taktschwerpunkt, im Gegenteil: er wird ja mittels der Bewegung erreicht (ist das Ziel derselben)
Ja, Zustimmung. Wie gesagt, solange man es irgendwie schafft, Taktschwerpunkte spüren zu lassen - gerade wegen des Tanzcharakters - finde ich das gut.
Allerdings habe ich bisher noch keine überzeugenden Darstellungen auf dem modernen Klavier gehört, und bin auch nicht sicher, ob das in großem Maße kommen wird. Dazu sind Cembalo/Orgel und das moderne Klavier in ihren Möglichkeiten der Klangerzeugung zu verschieden. Für das Spielen auf den (zumindest nachgebildeten) Instrumenten der Bach-Zeit ist es aber von großer Bedeutung, um ein lebendiges Spiel zu erreichen.
Kristian, das Argument, dass sich das heutige Klavier grundlegend von damaligen Tasteninstrumenten unterscheidet (um daraus zu schlußfolgern, sich gar nicht erst mit damaliger Aufführungspraxis beschäftigen zu brauchen), habe ich schon 1000x mal gehört.
Folgende Fakten werden meiner Meinung nach bei dieser Argumentation nicht berücksichtigt:
1. Wenn man zu Bachs Zeiten von "Claviermusick" sprach, waren sämtliche Tasteninstrumente gemeint. Z.B. Orgel, Cembalo, Clavichord, whatever - alles was eben eine Klaviatur hatte.
2. Wenn man sich das Buch "Versuch über die wahre Art, das Clavier zu spielen" anschaut, wird zwar hier und da auf Eigenheiten bestimmter Tasteninstrumente, insbesondere Clavichord, eingegangen, aber insgesamt alle Instrumente rel. gleich behandelt, insbesondere wo es um den musikalischen Vortrag geht - und dort insbesondere, wo es um die Artikulation geht (Standard: non-legato!)
3. Das Clavichord aus Bachs Zeiten hat gegenüber dem Cembalo und der Orgel und in Gemeinsamkeit zum heutigen Klavier ebenfalls die Möglichkeit, sehr nuancenreich Dynamikunterschiede darzustellen. Im Bereich nach leise hin sogar noch mehr als das heutige Klavier.
4. Wenn man sich die stille Revolution ansieht bzgl. historischer Aufführungspraxis von Bachwerken, wird man bemerken, dass es eine einheitliche TENDENZ gibt, wie Kantaten, Passionen, Orgelwerke dargestellt werden: nämlich mit starker Hervorhebung von Taktschwerpunkten, und unterteilt in kleingliedrigere Bereiche.
Meine Beobachtung ist die, dass zwar in vielen unterschiedlichen Bereichen von Orchestermusik und Instrumentalmusik (auch Sänger, die sich der historischen Aufführungspraxis verschrieben haben!!!) von Bachwerken ein Umdenken stattfand - weg von "romantisierenden", hin zur "historisch informierten" Interpretation (um es mal auf einen kurzen Nenner zu bringen) stattfand, dieser Schuß aber bei den Klavierspielern bisher noch nicht so recht angekommen zu sein scheint.
Das ist unzweifelhalft richtig: in dieser dynamischen Hinsicht sind Cembalo und Orgel sehr verschieden vom Klavier. Ob es sinnvoll ist, die dynamischen Begrenzungen des Cembalos auf das darin eben weniger begrenzte Klavier zu übertragen? Meiner Ansicht nach nicht.
Wie geschrieben, das Clavichord ohne die dynamischen Begrenzungen war auch schon erfunden. Ich bezweifle einfach, dass Bach das GRUNDKONZEPT der musikalischen Darstellung total umgeworfen hat, wenn er vom Cembalo zum Clavichord wechselte. Selbstverständlich hat er die dynamischen Möglichkeiten des Clavichords genutzt und gelobt. Aber ob er deswegen z.B. sein Artikulationskonzept umgeworfen hat? Natürlich Spekulation, leider (seufz).
Das Thema der Fuge BWV 545 ist dem der ersten Fuge aus WTK I sehr ähnlich, so dass anhand dieses Beispiels hier vielleicht einigen die Unterschiede zwischen Klavier- und historisch informiertem Orgelspiel verdeutlicht werden können. Der Interpret ist ein renommierter Vertreter (und Hochschullehrer) der historisch informierten Aufführungspraxis.
Ja, so wie das Thema dort gespielt wird, hat sich das jetzt überall etabliert. Ich versuche mal, ein Klangbeispiel einer Orgelfuge von der typisch "romantisierenden" Fraktion a la Straube/Busoni nebst Melodiebögen aufzufinden und als Vergleich dasselbe Thema gespielt von der heutigen "HIP"-Fraktion. Der Unterschied ist drastisch!
Es geht eben bei dem Thema auch immer wieder darum, inwiefern man bereit ist, sich Dingen bzgl. historisch überlieferter Aufführungspraxis zu öffnen und zu verwenden.
Im anderen Faden über Interpretation wurde lang und breit geschrieben, wie wichtig es sei, den historischen Kontext und Aufführungspraxis zu erfassen. Ich habe den Eindruck, dass die Bereitschaft dazu bzgl. Bachscher "Claviermusick" bei Pianisten erstaunlich gering ist...