Das Thema dieser Invention ist auftaktig und bewegt stets in eine Zielnote (diese liegt entweder auf dem 1 oder 3. Viertel eines Taktes) - daher kommt auch der beschwingte, beinahe tänzerische Charakter der 1. Invention. Es wäre sträflich, vor jedem Taktstrich und/oder vor jedem 3. Viertel eine klangliche Zäsur zu machen.
Die Bögen in Busonis Ausgabe haben richtig verwendet einen Vorteil: sie zeigen auf den ersten Blick die motivischen Zusammenhänge. Hat man einen korrekten Urtext ohne alles editorische Beiwerk, so wird man sich irgendwie diese Zusammenhänge entweder selber einzeichnen oder der Lehrer zeichnet sie ein oder man merkt sie sich halt - da sind sie aber trotzdem. Auf den zweiten Blick gibt die Busoni-Ausgabe auch Auskunft über Busonis Bachspiel, wenigstens auf dem Papier, und ist daher rezeptionsgeschichtlich interessant.
Ich fange mal von hinten an:
Richtig, die Busoni-Ausgabe ist rezeptionsgeschichtlich interessant, sie gibt (bedingt) Auskunft nicht nur über Busonis Bachspiel, sondern über den Zeitgeschmack der Aufführungsweise von Barockmusik im 19.Jahrhundert, was noch weit in das 20. Jahrhundert hineinreichte.
Die Busoni-Ausgabe steht in einer Reihe z.B. mit der Straube-Ausgabe der Bachschen Orgelwerke, und selbst im Bach-Buch von A. Schweitzer finden sich diese typischen romantischen Merkmale der Interpretation (Stichwort mehr oder weniger ungehemmtes Hineinbinden in schwere Taktteile).
Von daher stimme ich zu, es ist interessant, über die sehr detaillierten "Interpretationsanweisungen" der damaligen Bachausgaben Auskunft über die damalige Aufführungsweise Bachscher "Claviermusick" (egal für welche Tasteninstrumente) zu bekommen.
Interessanterweise wurde in einem anderen Faden bzgl. "Interpretation" darauf hingewiesen, wie wichtig es sei, sich über die historische Aufführungspraxis zu informieren. Dies sehe ich auch so. Wenn man sich jedoch der historischen Aufführungspraxis von Bach nähern möchte (was man ja nicht muß!), sind diese "romantisierenden" Ausgaben a la Busoni und Straube nicht geeignet, die Basis Urtext ist besser.
Wenn man sich den Urtext ohne diese Bindungen ansieht, und dabei die in der Barockmusik übliche Einteilung in schwere und leichte Taktzeiten vor Augen und Ohren hat, könnte man zur Einsicht gelangen, dass die eine oder andere Hineinbindung in schwere Taktzeiten nicht nur vom historischen Aufführungskontext fragwürdig ist, sondern sogar, dass es selber besser gefällt, sich nach diesen historischen Erkenntnissen zu richten.
In der Orgelmusik hat sich dieser Schritt längst in der Praxis vollzogen. Die Themen der prominenten großen Bach-Fugen wie z.B. a-moll BWV543, wurden in den "romantisierenden" mit Legatobögen geschwängerten Ausgaben mehr oder weniger konsequent so gestaltet, dass in die schwere Taktzeit gebunden wurde, und danach abgesetzt. Das steht diametral dem gegenüber, wie seit so ca. 50 Jahren Bachs Orgelwerke interpretiert werden. Selbst Schweitzer, der Anfang des 20. Jhds. solche "romantisierenden" Phrasierungen vorschlug in seinem Bach-Buch, ist teilweise davon abgerückt, wie man es bei seinen eigenen Bach-Aufnahmen ein paar Jahrzehnte später hören kann.
Interessant ist, dass in der Klaviermusik sich nach wie vor die mehr oder weniger "romantisierenden" Interpretationen halten. Es gibt Bach-Interpretationen, die zwar weg vom quasi Dauerlegato gekommen sind; z.B. sehe ich es als großen Verdienst von G. Gould an, eine sehr nuancenreiche Artikulationsweise in die Interpretation von Bachscher Klaviermusik gebracht zu habe (allerdings kreide ich ihm eine in dieser Hinsicht gewisse Beliebigkeit an). Allerdings wage ich die Prognose, dass es eben nur eine Frage der Zeit ist, bis sich die Musizierart der historisch informierten Aufführungspraxis auch für die Wiedergabe von Bachscher Klaviermusik, gespielt auf heutigem Klavier, herumgesprochen und etabliert hat.
Gerade was den tänzerischen Charakter z.B. der Inventio 1 angeht: Mit Sicherheit klingt es tänzerischer, wenn man schwere und leichte Taktteile stärker heraushört. Ein Hineinbinden in schwere Taktteile stärkt nicht den Tanzcharakter, sondern schwächt ab. Historisch informierte Aufführungen von Kammermusik zeugen gerade von einem starken "Drive" oder "Groove" - egal, wie man den Rhythmusimpuls ausdrücken möchte, es hat auf jeden Fall eher Tanzcharakter als dasselbe Musikstück, in "romantisierender" Weise vorgetragen.
Bzgl. Inventio1 muß man keine große musikalische Zäsur veranstalten am Ende des ersten Taktes und der folgenden. Auch ist der auftaktige Anfang kein zwingender Grund, dass das Thema über die Taktgrenze verschoben in die schwere Taktzeit des nächsten Taktes hineinreichen muß. Jedoch auch hier - wenn man sich mal von den "Vorgaben" romantisierender Interpretationen gelöst hat, sind die Chancen gut, dass es besser gefallen könnte, wenn man doch z.B. durch das Mittel dezenter Artikulation, den Beginn einer schweren Taktzeit spüren lässt.
Damit will ich nicht gesagt haben, dass historisch gesehen es pauschal kein Hineinbinden in schwere Taktzeiten bei Bach gegeben hätte. So geht z.B. der Schübler-Orgelchoral "Wer nur den lieben Gott lässt walten" auf eine Kantatenarie zurück, wo Bach Legatobögen eingezeichnet hat, wo in schwere Taktzeiten gebunden hat bei der Alt- und Sopranstimme. Da der Orgelchoral eine 1:1-Kopie dieser Arie ist, ist auch hier das Hineinbinden angebracht. Natürlich heißt das nun auch nicht, dass man nur hineinbinden soll, wenn es in den Urtextquellen drinstand.
Lediglich dieses hemmungslose "Defaulthineinbinden" in schwere Taktteile, wie es überall in den "romantisierenden" Ausgaben der Orgel- oder Klavierwerke Bachs vorkommt, sollte mal historisch gesehen kritisch hinterfragt werden (bei Orgel längst geschehen, bei Klavier bisher kaum) - ist zumindest meine Meinung.