Guten Tag!
Mir kommt hier ein bischen zuviel durcheinander. Darf ich aufräumen?
Zunächst einmal: (Oberstimmen-)Melodik ist nur
ein Kunstmittel unter vielen:
Es hat Komponisten immer wieder gereizt, genau darauf zu verzichten und Musik
durch Hervorhebung anderer Parameter zu strukturieren: Veränderungen der Klangfarbe,
der Satzdichte, der Lautstärke. Musterbeispiele: das Vorspiel zu "Rheingold, das erste der
drei Orchester-"Nocturnes" von Debussy ("Nuages"), das dritte der "Fünf Orchesterstücke"
von Schönberg ("Farben"), ganz zu schweigen von postserieller Musik, z.B. Ligeti.
Im Bereich der Klaviermusik wäre der vielgescholtene Brahms ein frühes Beispiel:
Einige seiner späten Intermezzi entfernen sich sehr weit vom traditionellen Melodiebegriff;
Intervallbeziehungen strukturieren diese Musik - ein Vorausblick auf Webern.
Brahms ist überhaupt ein gutes Beispiel für die Veränderungen des Melodiebegriffs.
Die Polemik gegen Brahms (er beherrsche die Kunst, ohne Einfälle zu komponieren;
die dem Hauptthema des ersten Satzes der vierten Symphonie unterlegten Worte
"Da fiel ihm wieder mal nichts ein") kam aus dem Kreis um Hugo Wolf, also aus
dem Lager der Wagnerianer, denen Brahms' Melodik zu gelehrt, zu akademisch erschien.
Man darf nicht vergessen, daß Wagner die Vorstellung dessen, was melodisch sei,
beträchtlich erweitert hat (z.B. Mimes Gesang im 2.Akt/3.Szene des "Siegfried").
Man darf aber auch nicht vergessen, daß Themen bei Brahms kein Selbstzweck,
sondern Ausgangspunkt für entwickelnde Variation, motivisch-thematische Verarbeitung sind.
Es ist banausisch, Musik auf undurchbrochene Oberstimmenmelodik zu reduzieren.
Selbst bei Komponisten, die ausgesprochene Melodiker gewesen sind (Puccini, Prokofieff),
läßt sich eine Melodie nicht vom harmonischen Umfeld isolieren, das sie um Zusatztöne,
harmonische Ausweichungen und (chromatische) Nebenstimmen bereichert und bei Wiederholungen
anders und abwechslungsreicher harmonisiert, vom Wechsel in andere Lagen ganz zu schweigen.
Melodik und Harmonik wenigstens ansatzweise in Kontrast treten zu lassen,
überfordert Tiersen generell, nicht nur in der "Comptine". Er betritt melodisch und harmonisch
ausgetrampelte Pfade - was seine Apologeten dann als Minimalismus bezeichnen.
Zwei Beispiele, wie man mit undurchbrochener Oberstimmenmelodik arbeiten kann:
Rodrigo: Concierto de Aranjuez, 2.Satz, vorallem unter dem Aspekt der Melodiebildung
interessant, weil Rodrigo sparsameren Gebrauch von der Wechselnote macht
und ihre Wirkung dadurch nicht sofort zerstört;
Rave: Pavane pour une infante défunte,
die weitgeschwungene Melodie gewinnt ihre Schönheit erst durch die Harmonisierung
und Stimmführung, bei der es Ravel gerade auf dissonante Reibungen ankommen läßt
(kleine Sekunde, große Septime).
Ich habe bewußt zwei Beispiele gewählt, denen Tiersens "Comptine" verpflichtet ist. Übrigens:
Ravels "Pavane" ist ein weiteres Stück, das Klaviersternchen dringend empfohlen sei.
HG, Gomez
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