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Harmonisch paßt es, das ist richtig. Daß verschiedene Ausgaben sich widersprechen, ist auch richtig. Also muß man wohl mal wieder selber die Entscheidung treffen – das ist Manchem lästig. Du sagst nicht, Rolf, welche Entscheidung du denn triffst, du sagst nur, beides ginge.
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Stattdessen sagst du aber recht lapidar, strikt und anscheinend (oder nur scheinbar?) etwas unwirsch:
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Diesen Standpunkt kann man einnehmen, man kann aber auch ganz anders darüber denken:
Eine gern diskutierte Stelle ist die erste Klammer im Kopfsatz aus Schuberts B-dur-Sonate: für die einen eine geniale Eingebung, weswegen man die Wiederholung dieser eh schon recht langen Exposition nicht unterschlagen dürfe, für die anderen gewollt gekünstelt und verzichtbar. Noch einmal Brendel:
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Zur Harmonik:
Daß Chopin den Hörer erst einmal in die Irre leitet, ist durchaus 'geistreich'. Aber natürlich hast du Recht, daß das ein zu harmloses Attribut ist, weswegen ich mich immerhin bemüßigt sah, "ausdrucksvoll-geistreich" zu sagen.
Chopin beginnt mit absteigendem des-e, notiert also eine verminderte Sept. Demnach hat er wohl die Doppeldominante im Sinn. (...)
Hallo,
zu (1)
eben, harmonisch geht beides. Welche Entscheidung ich treffe, spielt hier keine Rolle.
zu (2)
was ist unwirsch oder lapidar an der Tatsache, dass die Komponisten Wiederholungszeichen setzen??? Nimmt man eine Komposition ernst, dann hoffentlich mit allen notierten Zeichen! ;)
zu (3)
das berüchtigte Argument der Auctoritas... Ein bekannter Interpret äußert seine Vorbehalte gegen Wiederholungszeichen. Erstaunlicherweise hindert ihn das aber nicht, z.B. in Beethovens op.27,2 diese angeblich oft falschen oder zufälligen Wiederholungen zu spielen... Und wo ist nun die Autorität, welche uns allen definiert und beweist, welche Wiederholungen ok und welche nicht ok sind?...
eine andere, nicht minder gewichtige Autorität - Claudio Arrau - hat geäußert, dass Rachmaninov Millionen von Noten ohne jeden Sinn geschrieben habe - - wäre das für Dich ein ausreichender Anlaß, keinen Rachmaninov mehr zu spielen und zu hören? (zu schweigen von den Invektiven der Autorität Glenn Gould gegenüber dem Werk von Chopin...)
Manchmal werden sehr umfangreiche Formteile (Beethoven op.106, Schubert) wiederholt - da grämt man sich dann wegen der Dauer... Es gibt Aufnahmen mit und ohne der Wiederholung der Exposition im Kopfsatz der Hammerklaviersonate.
So lange die Kritiker der Wiederholungszeichen diese in willkürlich ausgewählten Werken brav befolgen, ist deren Kritik bestenfalls kurios.
zu (4)
"Chopin beginnt mit absteigendem des-e" schreibst Du, und das stimmt auch - - und zugleich stimmt es nicht: die tiefe des-Oktave klingt nämlich erst mal eine ganze Weile lang!!! Ich halte es für zu eilig, gleich an das Intervall verminderte Septime zu denken.
Und damit erhält die Grave Einleitung zwei ganz verschiedene Klangräume:
1. am Anfang weiß man gar nichts:
des-------------------- e -- e-----------------
was soll das? man weiß es nicht (mir kommt es hier sehr darauf an, dass man wahrnimmt, wie lange die des-Oktave klingt, überhaupt die Dauer der sich ändernden Klänge - ich halte das für weitaus wesentlicher, als gleichsam ohne Zeit einfach nur die Intervallfolgen zu
betrachten: ich bin mehr für das
Hören)
das e bleibt im Bass, die r.H. bringt des-as-des hinzu: klingt nach Moll (des-, nicht cis-Moll)
und erst danach, wenn die dissonanten Intervalle korrigiert werden (e - f und as - a (!) und des - c) wird klar, dass hier ein sehr ungewöhnlicher Vorhalt zu F7 aufgebaut worden war - - lesendes (nicht hörendes!) Analysieren kann den Zusammenklang e-des-as-des als Vorhalt zur Doppeldominante C erklären, aber die Klangwirkung (ein Moll-Akkord) bleibt ja dennoch: Chopin, der oft in die terra incognita der Leittonharmonik und der unbestimmten, vagierenden Akkorde vorstieß, ist da ein geniales Vorausschauen gelungen (in Wagners Walküre und Tristan sowie in Liszts Sonate wird man
später solche vieldeutigen Akkordfolgen als nicht mehr nur Ausnahmen [wie bei Chopin], sondern als Grundlage des harmonoischen Geschehens finden)
2. wenn man´s wiederholt
jetzt ist, nach dem As-7 Akkord am Ende der Exposition, ein anderer Kontext konstituiert: das Ende Ende des Exposition (appassionato, Vierteltriolen) strebt eindeutig nach Des-Dur!!
Wenn man also das Grave wiederholt, dann
muss man von der langen des-Oktave erst mal glauben, dass sie einen Des-Dur Klang stellvertritt - umso größer ist die Überraschung, wenn das "Schein-Moll" des-e-as-des dann zu hören ist, um nach b-Moll zu führen.
Die harmonische Wendung des Grave ist also in beiden Varianten (am Anfang wie in der Wiederholung) ebenso brisant wie wirkungsvoll.
Verblüffend ist, dass die Ausgaben variieren: manche bringen in Takt 2 r.H. cis-gis-cis, manche stattdesen des-as-des - - letztlich ist das egal, denn es handelt sich um keinen eindeutigen Akkord.
Dass Du hier die Beethovensche Sonate op.111 mit ihren verminderten Septimen in der Maestoso Einleitung erwähnst, freut mich! Chopin hatte geäußert, dass ihm alles nach op.57 von Beethoven fremd sei - nicht nur der Beginn der b-Moll Sonate, auch die Etüde op.10,12 zeigen allerdings, dass er das ihm fremde sehr wohl kannte (und wohl auch als Inspiration nutzte) ... Und doch ist hier ein Unterschied zu bemerken: bei Beethoven (op.111) ist das Intervall verminderte Septime ein jäher, plötzlicher Intervallsprung - bei Chopin werden die Klänge gedehnt. Das bedeutet einen sehr großen Unterschied in der Klangwirkung.
Am Ende, nach der Klärung der durchaus komplizierten harmonischen Verhältnisse (übrigens sind die auch in op.111 kompliziert), stellt sich die Frage, ob solches "Wissen" etwas nützt bzgl. der Frage, wie man das spielt --- ich meine: ja, es nützt.
Wie auch immer: wirkungsvoll ist beides, also die Wiederholung in Takt 1 oder Takt 5 beginnen zu lassen (in letzterem Fall hat man die Trugschlußwirkung As7 - b)
Gruß, Rolf