Ambros_Langleb
- Dabei seit
- 19. Okt. 2009
- Beiträge
- 10.372
- Reaktionen
- 14.342
In der "Rhetorik" gibt es einen Passus dazu (1385).
Das gehört mit dem »Mitleids«-Begriff oder besser der Katharsis-Theorie der Poetik zusammen. Rhetorik und Poetik sind bei A. ja Subdisziplinen der Politik, aus moderner Sicht überraschend, aus der Perspektie der attischen Demokratie nicht, wo rednerische Fähigkeiten der Schlüssel zum politischen und juristischen (es gibt nur Laienrichter!) Erfolg sind und andererseits das Drama eine Begehung des Staatskultes mit Besuchspflicht ist. Unterschiedlich ist nur die Fragestellung. In der Rhetorik lautet sie: »mit welchen Mitteln kann ich Mitleid erwecken?« (sc. beim Richter zugunsten des Angeklagten) *), in der Poetik lautet sie »welche Effekte hat das von der tragischen Handlung evozierte Mitleid?« (sc. beim Zuschauer). Die erste Frage ist klar handlungsorientiert, die zweite Frage dagegen ist, literaturtheretisch gesprochen, wirkungsästhetisch. Ihre polemische oder Orientierung ist der traditionelle - prägnant von Platon formulierte - Vorwurf des attischen Hochadels (ja, Tragödie ist eine »populäre« Gattung), daß die Erregung von Affekten wie »Furcht und Mitleid« **) durch die tragische Handlung zu Traumatisierungen und damit einem Mangel an Tatkraft des Bürgers führe. Aristoteles bezeichnet dagegen die Wirkung der tragischen Handlung als »Katharsis«: die von der Handlung erregten Affekte Furcht und Mitleid werden nach deren Ende wieder abgeführt, und dieses Rückschwingen in die psychische Normallage löse ein Wohlbefinden aus, sei also, wie er maliziös gegen Platon formuliert, ein eher »harmloses Vergnügen«. In beiden Fällen ist A.s Interesse am »Mitleid« rein psychologisch und gehört in keinen ethischen Kontext; im Gegenteil, im Falle der Poetik nimmt er ihn explizit aus dem Bereich der Ethik heraus. Der Wandel des Mitleidsbegriffs zu einem ethischen ist historisch gesehen durchaus eine »Erfindung« (@haeretiker) des Christentums, womit gleichzeitig der Konflikt zwischen der Verpflichtung zur »Nächstenliebe« und der damit möglicherweise verbundenen Einbuße an eigener Wohlfahrt entstand (der ist bei Kant in der Metaphysik der Sitten analysiert, aber das ist nicht mein Feld).
*) das ist in der späteren Rhetorik ein eigenes Gebiet und hier wurden in der Praxis wohl auch die meisten Fehler gemacht. Bei Quintilian liest man die Anektode von einem Angeklagten, der, wie üblich seine Kinder unter Führeung ihres »Pädagogen« als Klagechor aufmarschieren läßt. Und weil einer der Knaben besonders laut plärrt, fragt der Richter ihn »warum heulst Du den so«, und der Knabe antwortet (wahrheitsgemäß) »weil mein Pädagoge mich die ganze zeit so zwickt«.
**) so Lessings klassische Übersetzung von éleos kaì phóbos, wörtlich allerdings »Jammer und Schauder«)
Grüße,
Friedrich
Zuletzt bearbeitet: