Es ging mir nur darum, ob Mitleid vor dem Christentum an sich bekannt war. Nicht, ob man das auch immer 'rechtzeitig' eingesetzt hat.
Etwas weiter im verlinkten Artikel steht, dass ein Herr Aristoteles sich über die Voraussetzung des Mitleids geäußert hat. Ergo: Das Thema Mitleid ist nicht notwendigerweise christlich.
Das ist es sicher nicht, aber zumal bei Homer geht es um einen anderen Mitleidsbegriff als den christlichen. Wörter wie
éleos oder
góos meinen den psychosomatischen Elementaraffekt des Jammers, der jemand beim Anblick von fremden Unglück überkommen kann. Das Wort hat aber nicht die christlich-ethische Konnoation von »Mitleid«, daß aus dem Affekt ein Appell zur Mitmenschlichkeit über das rechtlich Gebotene hinaus hervorgeht. Achill hat nicht, salopp gesagt, eine namhafte Stiftung für ein Witwen- und Waisenpensionat getätigt, sondern »selbstverständlich« wurde die Witwe des von ihm getöteten Hektor versklavt und seinem Sohn Neoptolemos als Konkubine gegeben. Und letzterer hat »selbstverständlich« Hektors kleinen Sohn von der Stadtmauer in den Tod gestoßen, denn das Töten der nachwachsenden Elite einer eroberten Stadt war Routine. Das einzige, was
éleos mit dem alten Priamos in Achill bewirkt, ist, ihn von der
Hybris abzubringen, ein Standesgebot des Adels zu verletzten, nämlich dem getöteten Gegner ein ordnungsgemäßes Begräbnis und damit das Fortleben in der Unterwelt zu verweigern. Er gibt den Leichnam aber, wieder »selbstverständlich«, nur gegen ein happiges Lösegeld heraus. Übersetzungen der genannten Wörter mit »Mitleid« rufen also einen falschen Eindruck hervor. Da können wir schon froh sein, daß die Amerikaner am Ende des 2. Weltkriegs den christlich-humanistisch geprägten und nicht den archaisch-griechischen Mitleidsbegriff angewandt haben.
Und »ein Herr Aristoteles« hat sich gewiß über »Mitleid« in seiner berühmten Katharsis-Definition geäußert, aber hier hat der Begriff überhaupt keine ethische Implikationen, sondern A.s Interesse ist rein psychologisch: er beschreibt, daß eine tragische Handlung
éleos und
phóbos, »Heulen und Schauder«, hervorrufen kann, wobei die anschließende Abfuhr dieser Affekte ein wohliges Gefühl hervorrufe (wie beim Krimi), was die spezifische Wirkungsleistung der Gattung, die
oikeía hedoné sei.