Erklären kann ich es nicht. Nur umschreiben.
Der Dreijährige beginnt, sich zu erinnern.
Frühe Musik aus jener Zeit war irgendwie lästig, bedrohlich: das Orgelspiel in der Kirche.
Bis mir aufging, dass eine Nachbarin meiner Oma, Kriegerwitwe auf einem Dorf am Möhnesee, "outstanding" sang, weit besser als alle trägen Bauern drumherum.
Dass da - hörenswerte - Unterschiede sind. Brillant, klar, im Takt. Faszinierend.
Ich sang im Kinderchor am Altar den Engel solo: Fürchtet euch nicht.
Dann hörte ich eine Nichte meiner Oma in deren Elternhaus klavierpielen, da war ich fünf. Ich mich daneben gestellt, geguckt, was sie machte - faszinos. Sie zeigte mir das C, und hieß mich, "Alle meine Entchen" zu befingern, und gab mir gleich mal auch ein Notenblatt, den Krams aufzuschreiben.
Da war es passiert.
Als siebenjähriger Knilch setzte ich die fünf mühsam vom Munde abgesparten Mark, die Oma all ihren fast zwanzig Enkelkindern gab, mal nicht für Autoscooter und Mandeln auf der Soester Kirmes ein, sondern rannte rechts vor dem Eingang zur Innenstadt in eines der beiden Spielwarengeschäfte, wo ich wusste, dass es die Hohner Melodica gab - mein erstes Tasteninstrument, selber erspart, Omas Talers plus das Taschengeld mehrerer Wochen geheim gebunkert.
Da steckte ich also schon tief, tief drin in der Sucht.
Die Verwandschaft guckte dumm. Das war bis dato noch nicht vorgekommen. Ein Kind sehnt sich so sehr nach Musik, dass es sich vom eigenen engen Geld ein Instrument kauft.
Klavier durfte ich nicht haben, war meinen Ellies zu teuer.
Dann mit elf eine Violine. Krönchen des ca. sechsjährigen Unterrichts bei einem fanatischen Musikus, Pluta, Konzertmeister in Oberhausen, war sein Raunen, er werde wahrscheinlich die Chance haben, im kommenden Sommerurlaub in Italien uU. eine Violine der Cremonenser Altmeister zu kaufen.
Er brachte so ein Teil mit heim - eine Guarneri. Er spielte ein und dasselbe Stück erst auf seiner Konzertmeister-Violine, die schon ca. dreivier Klassen besser als mein Schweineteilchen war, aber dann das selbe Stück nochmal - auf der Guarneri.
Diese ungeheure Kraft in diesem kleinen Holzteil werde ich mein Lebtag nicht vergessen.
Mit siebzehn konnte ich das alte Klavier eines Klassenkameraden schnappen. Es stand nach dem Anliefern seines neuen Klavieres dann überraschend im Vorbau meines Elternhauses - und passte nicht, welche Pleite, die enge Treppe hinauf. Ließ sich aber zerlegen, von Kollegen andern Tags hochtragen. Derweilen die Herren sich bei Kaffee und Kuchen auf der Terrasse belustigten, auch eine Kiste Bieer leerzogen, baute ich die Klavierkiste wieder zusammen, ich hatte beim Zerlegen fein aufgepasst. ;Immerhin mein erstes Klavier. Ein hell-eichenfarbiges Euterpe Kleinklavier 116 oder so. Und verabschiedete die hilfreichen Träger mit dem Flohwalzer.
Heute bewacht ein riesiger seidenmatt-schwarzer Drache unser Wohnzimmer. Zwometersiebzig. Mehr geht fast nicht. Angeblich habe er mit seinen sechs tiefsten Basstasten den machtvollsten Bass all derer Konzerter, die ein Experte aus Österreich je in Europa hörte. Er nannte den Drachen "A Diamond in the Raw". Bisschen Arbeit mittlerweile wieder, so what.
Orgel finde ich immer noch hässlich und LAUT.
Klar, die menschliche Stimme ist das allerbeste der Instrumente.
Um 2000 herum war ich Mitglied des besten Amateur-Männerensembles zwischen London und Wladiwostok. Ich war ein BAD BOY in Dortmund und sang den Barbershop. Auf dem Wettbewerb in der Bremer "Glocke" machten wir unter den Herren-Ensembles den besten Platz.
Warum ich Klavier spiele, kann ich nicht wirklich erklären, aber ich erinnere mich an mehrere "digitale" Sinnes-Erlebnisse, in denen ich für eine Minute den Himmel hatte, ohne sterben zu müssen. Die meisten davon waren Unendlichkeits-Erlebnisse des Hörens von Musik. Sehr wenige Erinnerungen an herausragende Sinnen-Erlebnisse, um die zehn, unvergessliche Dinge, die einen den Rest des kleinen Lebens begleiten werden.
Die hatte ich in allen Sinnen, minus das Sehen.
Ich vermute, ich muss ins Rongbuk-Tal in Tibet, um einen Blick auf die Nordwand des Everest zu wagen.
Oder ich muss uU. noch das Taj Mahal in Agra sehen.
Um meine Reise im Lande der menschlichen Sinne zu vervollständigen.
Oder es sei denn, es gebe sechs Sinne.
Manche sagen, Dolor sei vom Fühlen distant, ein eigener Sinn.
Er mag sich in der Letzten Minute des Lebens vollenden.
Wenn ich vielleicht von letzter Luft den Gruß der seefahrenden und unendlich neugierigen Phönizier entbieten kann:
"Tanit, Göttin des Meeres, Mutter von Karthago:
ich gebe meine Ruder zurück."
(co Gisbert Haefs, in "Hannibal")