Verspielt und auf "Autopilot" umgeschaltet

Kettwiesel

Kettwiesel

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6. Dez. 2020
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Hallo Clavio-Gemeinde!

Kurz zu mir als Hintergrund: Ich bin Ü60, hatte als U10 rund zwei Jahre Unterricht, dann wollte ich nicht mehr (war ja Arbeit). Als Student hatte ich mir ein Klavier gekauft und immer mal wieder für mich gespielt, aber nie mit Unterricht. Vor einiger Zeit wollte ich dann wieder richtig einsteigen und bin seit ein paar Monaten (nach zwei nicht so glücklichen Versuchen) bei einer KL die mir genau richtig für mich erscheint. Sie geht sehr in die Tiefe was Finger-, Hand- und Armbewegungen betrifft, geht zum Teil jeden einzelnen Ton mit mir durch und versucht so, mir alle Fehler auszutreiben die ich mir in den Jahrzehnten angewöhnt habe.
Wir arbeiten zur Zeit unter anderem an dem Bourree von Bach. Das erschien mir erst als nicht so komplex, aber es sind ja doch enorm viele Dinge, die man beachten muss und wir gehen das Stück Teil für Teil durch. Es läuft auch immer besser (wenn auch noch lange nicht gut). Letzte Stunde war allerdings eine ganz fürchterliche! Ich bekam nichts mehr richtig auf die Reihe, habe mich an Stellen verspielt die sonst kein Problem waren, habe Legato gespielt an Stellen die Portato sein sollten usw., hab irgendwie die Noten nicht mehr bewusst wahrgenommen ...

Beim späteren darüber nachdenken fiel mir auf, dass ich (durch die Fehler) wohl anfing beim Vorspielen auf "Autopilot" zu schalten und quasi auswendig gespielt habe ohne auf die Noten zu schauen (Haptsache durchkommen) und nicht mehr wirklich beim Stück war.
Jetzt schätze ich, dass solche Situation natürlich stark von der Tagesform und der Konzentration abhängen. Habt ihr Tipps, wie man üben kann, besser "am Stück" zu bleiben und "drin" zu bleiben? Sich also immer bewusst zu sein, was man spielt? (Oder ist das schon die Antwort? Man muss sich immer bewusst machen, was man spielt?)

Ich hoffe, ich habe einigermaßen verständlich rüber gebracht, was ich meine. Natürlich werde ich auch in der nächsten Stunde mit meiner KL darüber sprechen. Aber vielleicht gibt's hier schon ein paar Tipps?

Vielen Dank schon mal im Voraus,
Mathias
 
Genau solch eine Situation hatte ich (Ü50, Anfängerin mit null Vorkenntnissen, 14-tägiger Unterricht seit 1,5 Jahren) vor sechs Wochen in meinem Unterricht. Ich verspielte mich, ärgerte mich maßlos darüber (weil ich dachte das Stück nun sehr gut zu können) und durch das Ärgern wurde alles schlimmer. Am Schluss konnte ich nicht einmal mehr Noten lesen, was ich eigentlich schon lange sicher kann.

Mein KL merkte, was gerade passiert - ging aber erstmal gar nicht darauf ein sondern gab mir ein neues, wesentlich einfacheres Stück. Wir haben das besprochen und ein bisschen geübt, dann zurück zum eigentlichen Stück. Er gab mir dann den Tipp, zuhause nicht mehr Abschnitte zu üben (er wusste, dass ich eigentlich das ganze Stück kann) sondern einfach irgendwelche einzelnen Takte zu spielen. Das habe ich dann zwei Wochen in der Form gemacht: Stück nehmen, mit geschlossenen Augen Finger auf das Blatt und genau da einsteigen. Ich hab dann besser gemerkt, wo doch noch Probleme liegen und daran nochmals geübt.

In der Folgestunde lief alles wieder normal, ich konnte es fehlerfrei vorspielen - das Stück war „fertig“ und ich bekam eine neue, meinem Spielstand angemessene, Herausforderung. (Vorher haben wir allerdings nochmals über die Situation gesprochen und das offene Gespräch mit meinem KL hat mir sehr geholfen.)
 
Das Problem mit dem "Autopiloten" und plötzlich zack weg kenne ich. Mein Klavierlehrer meint die sicherste Methode sei Note für Note auswendig lernen und dann vor dem geistigen Auge anspielen. Aber dazu muss man wohl geboren sein.
 
Meine KL lässt mich oft das ganze Stück in Staccato spielen, wenn ich drohe auf Autopilot zu gehen. Dann kann ich das Stück in der Regel plötzlich überhaupt nicht mehr, und muss mich wieder voll konzentrieren.
Danach kann ichs dann wesentlich genauer, wenn ich wieder normal spielen darf
 
Auch eine gute Methode um zu prüfen, ob man ein Stück kennt oder nur die Motorik arbeitet, ist es die linke Hand mit beiden Händen zu spielen, oder einen Takt spielen, einen Takt denken, ...
oder in jedem Takt nur die Eins zu spielen und den Rest zu denken!
 
Was auch ein guter Test ist: Das Stück auswendig handschriftlich (sic!) notieren. Es ist nicht nur ein Test - man lernt auch noch unglaublich viel dabei!
 
Was auch ein guter Test ist: Das Stück auswendig handschriftlich (sic!) notieren. Es ist nicht nur ein Test - man lernt auch noch unglaublich viel dabei!
Schostakowitsch soll in seiner Kompositionsklasse am Moskauer Konservatorium Aufgaben wie "wir schreiben jetzt alle aus dem Gedächtnis die Exposition der 5. Beethovensymphonie in Partitur auf, mal sehen wer am wenigsten Abweichungen hat" gestellt haben.
 

Schostakowitsch soll in seiner Kompositionsklasse am Moskauer Konservatorium Aufgaben wie "wir schreiben jetzt alle aus dem Gedächtnis die Exposition der 5. Beethovensymphonie in Partitur auf, mal sehen wer am wenigsten Abweichungen hat" gestellt haben.
Dasselbe durfte ich in einem Meisterkurs bei Seiji Ozawa mit der Einleitung der 2. Beethoven-Sinfonie machen. Das Ergebnis war niederschmetternd, aber ich habe viel daraus gelernt. :lol:
 
@Kettwiesel , wenn man an einer Passage staccato spielt, wo man eigentlich legato spielen möchte oder umgekehrt, dann ist das das allerdeutlichste Zeichen, dass man sich nicht zuhört, dass man keine Erwartung hat, wie was als nächstes klingen soll.
Zuhören ist das A und O in der Musik, sonst klingt sie nicht.
Um es zu lernen, ist es ratsam, Stimmen zu singen, entweder mitsingen oder - schwieriger - eine Stimme spielen, die andere singen.
Sehr heilsam, sehr der Musik dienend. Und um die geht es, nicht um das Drücken der Tasten, das ist Mittel zum Zweck.
Und dann stellt sich das Gefühl des Gelingens sehr schnell ein!
 
Du musst es für diese Übung ja eh nicht nachher lesen können.
 
Ach was. Wenn ich es nach dem Notieren nicht mit dem zu Notierenden vergleiche, kann ich mir die Übung schenken.
Meinem Verständnis nach (und wenn ich mich irre, möge man mich bitte korrigieren) ist der Hauptzweck der Übung, das Stück auf andere Art zu reproduzieren als es zu spielen. Bei der Reproduktion selber merkt man schon, wo und wie oft man unsicher ist (und die entsprechenden Taktnummern kann man sich leicht gut leserlich nebenbei notieren). Ob da jetzt die eine oder andere Stelle korrekt niedergeschrieben wurde, ist sekundär. Wenn man es das nächste Mal nach Noten spielt, nimmt man ohnehin die gedruckte Version.
Es geht also darum, sich auf eine andere Art mit dem Stück (und allgemein mit Musik) zu beschäftigen und nicht so sehr um eine absolut korrekte Niederschrift.
 
Aus demselben Grund, warum man das handschriftliche Schreiben als DAS didaktische Mittel in der Schule verwendet. Auch Studenten lernen im Schnitt effizienter und nachhaltiger, wenn sie handschriftliche anstelle von digitalen Notizen machen.
Studien dazu gibt es haufenweise; aber eigentlich sollte es da auch genügend eigene Erfahrungen geben.
 

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