Liebe PP,
herzlichen Dank für Deinen Beitrag - vorallem für die Zitate und Hinweise,
mit deren Hilfe Du eigentlich
alles zum Thema Interpretation gesagt hast.
Als Ergänzung zum Adorno/Kolisch-Aufsatz noch ein Hinweis auf Adornos Erinnerungen
an seinen Klavierunterricht bei Eduard Steuermann, der Busoni-Schüler gewesen
und - wie Kolisch - von Schönbergs tief in der Tradition verwurzeltem Musikverständnis
geprägt worden ist. Ich kann zur Zeit die Quelle nicht angeben, habe es im Forum a.a.O.
schon einmal zitiert - dort vielleicht mit Quellenangabe, ich weiß es nicht mehr.
Jedenfalls berichtet TWA, daß er mit einer bestimmten Stelle in einem Brahms-Intermezzo
nicht zurechtkam, bis Eduard Steuermann ihm den betreffenden Abschnitt analysiert
und gezeigt hatte, in welchem Verhältnis die einzelnen Stimmen zueinander standen,
wie Baß und Oberstimme motivisch und kontrapunktisch zusammenhingen.
Adornos Pointe: Erst danach konnte er den Abschnitt richtig spielen.
Das richtige Spielen folgt aus dem richtigen Verstehen der Musik.
Urtexte - Ich habe unlängst in einem Interview mit Leslie Howard gelesen,
dass die Henle-Ausgabe der b-Moll-Sonate 6 oder 7 Fehler aufweist -
inwiefern sichert sich ein Interpret eigentlich ab, ob die Notenausgaben,
die er verwendet, tatsächlich fehlerfrei sind? Ich dachte eigentlich,
dass man mit einer Urtext-Edition eines namhaften Verlages auf der sicheren Seite sei.
"Urtext" ist ein völlig entwertetes Label, genauso wie "Bio" oder "Öko".
Es sind keine geschützten Begriffe, sondern reine Marketing-Gags.
Henle fing nach dem Krieg mit Urtext-Ausgaben an - und das war ein Novum:
Nicht einfach nach irgendwelchen Vorlagen wild herumzudrucken, sondern
sich Skizzen, Autographe, Erstdrucke, Errata-Listen, handschriftliche Korrekturen,
Ergänzungen und Anmerkungen der Komponisten und mit ihnen
in Kontakt stehender Interpreten anzuschauen, zu vergleichen etc.
Die Henle-Publikationen erwiesen sich als gut und so erfolgreich,
daß alle bis dato desinteressierten Verlage auf den fahrenden Zug sprangen
und Klassiker-Urtext-Ausgaben herausbrachten. Da kaum noch ein Verlag
den Mut hat, Neue Musik zu veröffentlichen, bricht inzwischen eine Sturzflut
konkurrierender Urtext-Ausgaben über uns herein. Beispiel: Ravel, der jetzt gemeinfrei ist -
Henle, Bärenreiter, Peters und Schott/UE basteln an konkurrierenden Urtext-Ausgaben,
was natürlich bedeutet, daß Teams von Musikwissenschaftlern
gegeneinander arbeiten.
Das ist nicht prinzipiell schlecht: Konkurrenz belebt das Geschäft, davon profitiert der Kunde.
Manchmal steht der Kunde aber auch ratlos vor den Folgen dieser Konkurrenz.
Um sich voneinander abzugrenzen, erklärt das eine Editorenteam etwas zur Punktierung,
was fürs andere Editorenteam eine Sechzehntelpause und fürs dritte ein auf dem Autograph
hinterlassenes Stückchen Fliegendreck ist (ich übertreibe nur geringfügig).
Zur Seriosität heutiger Notenausgaben:
1. Keine ist frei von Druckfehlern - als Folge von Schwachstellen im Lektorat.
Das ist vergleichsweise harmlos.
2. Der editorische Konkurrenzdruck erzwingt mutwillige Neuinterpretationen bislang
als unstrittig empfundener Stellen. Das ist ärgerlich, da man selbst anhand
der kritischen Apparate die Entscheidungen der Herausgeber nicht nachvollziehen kann.
3.
Urtext-Ausgaben werden ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht -
das ist die eigentliche Ungeheuerlichkeit!
Wenn man Pech hat, wimmeln sie von Emendationen, die in den Apparat gehörten,
nicht in den Haupttext, wimmeln von nicht kenntlich gemachten Eingriffen in den Notentext.
Notorisches Beispiel: In Chopins e-Moll-Prélude op.28-4 tradiert auch die neueste,
die Peters-Ausgabe wieder das
Ais im drittletzten Takt, anstelle des von Chopin
mit Bedacht notierten
B als Vertreter des im Tritonusverhältnis zur Grundtonart e-Moll
fernststehenden tonalen Bereichs. Selbst der von Peters angeheuerte Eigeldinger,
der sich gerne als Chopin-Spezialist feiern läßt, ignoriert an dieser Stelle sowohl
Autograph als auch Erstdrucke.
4. Was ältere Handschriften betrifft, so führt die zunehmende Genauigkeit der Analyse-Methoden
nicht zu mehr Textgenauigkeit, sondern im Gegenteil in die Aporie.
Beispiel: Bach. Mit Hilfe der Röntgenfluoreszenz-Analyse lassen sich heute die im Autograph
der h-Moll-Messe von Vadder und Sohn Bach (C.Ph.E.) benutzten Tinten unterscheiden.
Das schafft großen Interpretationsspielraum: Sind Carl Flips Eintragungen eigenmächtige
Zusätze, quasi etwas Hinzukomponiertes - oder spätere Ergänzungen des Vaters,
die nicht im Stimmenmaterial, wohl aber in der autographen Partitur fehlten und von dem
mit dem Werk und seiner Aufführung vertrauten Sohn für die Hamburger Aufführung
nachgetragen wurden?
Nix genaues weeß mer nich.
Einen herzlichen Sonntagsgruß!
Gomez
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