Lieber Dreiklang,
was Du hier veranstaltest, gibt zu allerhand Spekulationen Anlaß – und die erste besteht schon mal darin, daß Du genau das willst: Aufmerksamkeit erregen, egal womit (und das hieße: Du bist entweder ein sehr trauriger und vereinsamter Mensch oder ein Troll – oder beides); die zweite – witzigere – besteht darin, hinter Dir einen abgefeimten Informatiker zu vermuten, dessen Chatbot „Dreiklang“ den Turing-Test bestehen soll, vielleicht auch einen Soziologen/Psychologen, der für seine Doktorarbeit eine mehrjährige Internet-Feldstudie betreibt. Spekuation Nr. 3: Man darf all das, was Du schreibst, wörtlich nehmen: Dann bist Du einfach dumm, frech und anmaßend.
Dumm – damit meine ich nicht die Tatsache, daß Du nicht viel von Musik verstehst, wie zu Anfang Deiner Clavio-Karriere ehrlicherweise von Dir eingestanden (inzwischen hast Du den Beitrag gelöscht, aber glaub mir: Es bedarf dazu nicht Deines Eingeständnisses. Daß Du nicht viel von Musik verstehst, sieht jeder, der auch nur etwas davon versteht). Dumm ist Deine Haltung, davon nichts verstehen zu
wollen. Mit dieser Formulierung:
völlig verkopft, streng nach Vorschrift, und gemäß bücherfüllender sogenannter "musikwissenschaftlicher Erkenntnisse".
charakterisierst Du Dich sehr genau – Bücher sind für Dich ohnehin Feindesland, Erkenntnisse, wissenschaftliche zumal, setzt Du in Anführungsstriche, und Du bist natürlich unfähig zu begreifen, daß es gar nicht um Bücher oder Wissenschaft, sondern um die Kenntnis eines Traditionszusammenhangs geht, in dem wir und die Dinge um uns herum stehen und über den man sich gefahrlos erst dann hinwegsetzen kann, wenn man von ihm durchdrungen ist.
Frech – weil Dir im Angesicht dieser Tradition, im Umgang mit künstlerischer Arbeit wie auch mit anderen Menschen das Minimum an Respekt fehlt. Was für andere ganz normal ist: daß man von sich selbst absehen muß, um etwas zu lernen und kennenzulernen, daß man sich selbst zurücknehmen muß, um etwas Unvertrautes aufnehmen, das erscheint Dir oktroyiert.
Anmaßend – weil Du glaubst – ohne etwas gelernt zu haben – andere belehren zu können und Deine Unbildung für herzerfrischende Naivität hältst, die die Welt revolutioniert.
Konkret: Tanz war zunächst einmal kultischen Ursprungs – wie Musik und alle Künste –, ehe so etwas wie Gruppen- oder Paartänze aufkamen, die der ritualisierten Begegnung der Geschlechter dienten [ein Lästermaul könnte hinzufügen, daß der Tanz heute wieder Kultpraxis ist, mit dem Unterschied, daß ein im P1 (oder sonstwo) autistisch herumzappelnder Tänzer sich selbst anbetet]. Ferner: Hast Du schon mal was von stilisierten Tanzsätzen gehört (ab der Barockzeit), in Suiten und Divertimenti gebündelt – das Menuett fand sogar Eingang in Streichquartett und Sinfonie –, die nur noch die Herzen und Sinne der Zuhörer in Bewegung versetzten, aber nicht mehr deren Gliedmaßen? Daß die Tänze darüber zum Charakterstück wurden, deren Aufgabe es war, Affekte nacherlebbar zu machen, und daß es im höfischen und gehobenen bürgerlichen Milieu mehr Affekte gab als die reine joie de vivre? Zuletzt: Natürlich gibt es Trauertänze; jede Menge Tanzsätze von Schubert und Chopin zeugen davon, Saties „Gymnopédies“ (lent et douloureux, lent et triste, lent et grave zu spielen), Ravels „Le tombeau de Couperin“ - dessen Menuett ist von besonders abgründiger Trauer erfüllt und dem Gedächtnis eines im Krieg verstorbenen Freundes gewidmet. Für das Spielen solcher Musik besteht die Kunst darin, den Tanzcharakter weder vergessen zu machen noch zu betonen.
All das könnte man wissen, wobei jemand mit ausgeprägter Buchallergie die Kenntnisse gerne aus anderen Quellen beziehen kann; zur Not reicht es, wenn man wachen Sinnes durchs Leben geht und sich mit den richtigen Leuten unterhält. Nur eines darf man dabei nicht sein: komplett vernagelt.
Gruß, Gomez