ich sehe hier vor allem einen Grund (der noch andere Folgen hat, die mich ziemlich traurig stimmen): Die Engstirnigkeit der instrumentalen Musikausbildung an Musik(hoch)schulen.
Es ist für die meisten Klavierstudenten ohne Probleme möglich, sich in ihrem gesamten Musikstudium nur einem "Standardrepetoire" aus knapp 200 Jahren Musikgeschichte zu widmen (...)
Lieber alibiphysiker,
ich stimme dir eigentlich sehr zu und habe selbst schon oft die immergleichen Konzertprogramme beklagt, die u.a. auch mit dem Publikumsgeschmack und Wunsch nach vollen Sälen zusammenhängen. Besonders beklagenswert finde ich wie du die geringe Beschäftigung mit zeitgenössischer Musik und eine kaum vorhandene Beschäftigung mit historischen Tasteninstrumenten und entsprechender Literatur! Schön, dass sich da etwas zu ändern scheint (s.
@Kalivoda).
Ich fühle mich trotzdem herausgefordert, dir in in einigen Punkten zu widersprechen.
Es kommt nämlich zumindest für mich der Eindruck auf, das "Standardrepertoire" der Pianisten sei einseitig und engstirnig. Aber allein die Werke von Bach sind ja ein unglaublicher Kosmos an Tiefe und Kostbarkeit! Gespielt werden aber auch Scarlatti, Händel, Rameau, Soler..., die meiner Meinung nach auch zum barocken Standardrepertoire gehören.
In der Klassik werden vorwiegend Haydn, Mozart, Beethoven gespielt, das stimmt. Viele kennen aber auch Cimarosa, Clementi, die Bachsöhne u.v.a.. Ich kann aber keine Engstirnigkeit erkennen, sich "nur" mit dem riesigen Werk von Mozart, Haydn, Beethoven zu beschäftigen.
Das Werk Schuberts..... .
Dann die Werke der Romantik, Chopin, Schumann, Brahms, Liszt, Tschaikowsky u.v.a., dann Debussy, Ravel, dann Prokofieff, Strawinsky, Skrjabin ...und ....und ...und . Ein Menschenleben reicht doch kaum aus zur Beschäftigung mit dem "Standardrepertoire".
In diesem Kosmos des Standardrepertoires steckt eine ganze Welt und das kann ich einfach nicht als einseitig oder eng bezeichnen!
Dann habe ich die Erfahrung gemacht, dass die Werke von Kalkbrenner, Hummel etc. für meinen Geschmack nicht die Qualität der großen Komponisten haben, einzelne Perlen mal ausgenommen. Auch die Werke von Clara Schumann können aus meiner Sicht nicht mit ihrem Mann mithalten. Ich widme mich da lieber den großartigen Kompositionen.
Dann gibt es meiner Meinung nach in den letzte Jahrzehnten eine Entwicklung, in der bis dahin unbekanntere Kompositionen oder Komponisten ins Licht der Öffentlichkeit gerückt werden. Sei es das Klavierwerk von Dvorak, Clara Schumann, Moscheles, Czerny, Sgambati ..... . Das liegt auch daran, dass jeder Pianist seine Nische finden muss in der Menge der hervorragenden Aufnahmen der großen Werke. Meiner Meinung nach erfährt auch die zeitgenössische Musik mehr Raum und Wertschätzung.
Was nun das Instrument angeht, hast du recht, dass die großen Konzertsäle häufig Steinways haben. Aber wenn nun ein Sokolov oder Trifonov oder Aimard drauf spielt, kann ich keine Einseitigkeit im Klang hören, ganz im Gegenteil. Es hat doch auch einen Grund, warum viele große Pianisten mit eigenem Flügel reisen - sie können darauf eben klanglich viel besser und differenzierter spielen mit einer Klangvielfalt, die sie sich vorstellen. Ich weiß schon, wie du es meinst und gebe dir da Recht, aber es zwickt mich in meiner Seele, diese Klangexplosion der großen Pianisten auf einem Steinway als einseitig o. ä. zu bezeichnen. Und die großen Säle können mit einem historischen Instrument doch gar nicht gefüllt werden.
Übrigens ist Steingräber eine Firma, die immer wieder neue Dinge probiert am Flügel.
Wenn wir nicht in die großen Konzertsäle gehen, finden wir übrigens eine absolut erstaunliche Klangvielfalt.
Förster, Feurich, Schimmel ...dort findet man alle Marken und jede klingt anders. Die Herausforderung und Klangvorstellung des Interpreten ist dann sehr oft mit Kompromissen verbunden, weil diese Instrumente nicht immer optimal sind.
Ich finde, dass solche Pianisten, zu denen ich auch gehöre, geradezu eine unglaubliche Flexibilität und stoische Gelassenheit in bezug auf den Klang besitzen.
Seitdem es die HIP gibt, hat sich aus meiner Sicht auch im Klavierspiel viel getan. Historische Instrumente und ihre besondere Klangschönheit rücken immer mehr ins Bewusstsein.
Ich bin aber ganz deiner Meinung, dass die pianistische Ausbildung oft zu einseitig ist. Neben einer intensiveren Beschäftigung mit historischen Instrumenten und zeitgenössischer Musik halte ich aber ganz andere Dinge für wesentlich:
- mehr Kammermusik spielen (dort lernt man automatisch Werke von anderen/weiteren Komponisten kennen)
- in einem Orchester spielen mit seinem Zweitinstrument (man MUSS also ein Streich- oder Blasinstrument erlernen)
- in einem Chor singen, nicht nur zwei Semester
- Generalbass, Partimento-Spiel, mehr Beschäftigung mit Sätzen und der Tonsprache der Komponisten über das gesamte Studium hinweg - da ist fürchterlich viel im Argen
- Arrangieren, Improvisation, Elemente des Jazz, Liedbegleitung etc. über das gesamte Studium - auch da liegt viel im Argen, auch wenn es besser geworden ist.
- Dirigieren
- mehr Wissen um geschichtliche Zusammenhänge, die Gesellschaft, in der die Komponisten lebten und mehr Wissen über die anderen Künste der Zeit (Literatur, Malerei ...).
Die sog. Nebenfächer wie Harmonielehre, Gehörbildung, Formenlehre, Werkanalyse u.a. sind ja schön und gut - sie reichen aus meiner Sicht aber nicht aus.
Liebe Grüße
chiarina