Die Sonaten von Alexander Skrjabin

Sonate Nr.8 op.66

Geht man vom Zeitpunkt der Fertigstellung aus, so ist diese die letzte Sonate Skrjabins. Diese Sonate hat es in jeder Hinsicht in sich und dass sie im Vergleich zu den beliebte Schwestern Nr.7 und Nr.9 so selten gespielt wird, ist sehr bedauerlich. Sie ist die längste der einsätzigen Sonaten, schwierig zu entziffern, sicher eine der am schwierigsten zu spielenden Sonaten und zumindest für mich auch eine der am schwierigsten zu verstehenden und geheimnisvollsten Sonaten, denn es gibt in ihr viele selbst für Skrjabin untypische Aspekte.

Die letzten drei Sonaten entstanden alle in relativ kurzer Zeit zwischen 1911 und 1913. Aus Geldnot war Skrjabin gezwungen, die Arbeit am Mysterium zu unterbrechen und so schnell wie möglich neue Kompositionen zu veröffentlichen. So entstanden viele seiner letzten Werke aus Skizzen des Mysteriums. Als Alexander Njemtin die Vorbereitende Handlung, die Vorstufe des Mysteriums rekonstruierte, arbeitete er diese Sonate mit ein, vielleicht weil genau diese Sonate dem Mysterium am nächsten steht.

Gleich zu Beginn der Sonate fällt etwas Ungewöhnliches auf. Außer „Lento“ steht nichts über der Sonate. Seine typischen, symbolistischen Überschriften fehlen und zwar im gesamten Stück. Lediglich „Tragique“ schreibt Skrjabin über Takt 88 und „doux, languissant“ (süß, matt) kurz vor Schluss. Warum das nur in dieser der späten Sonaten so ist, ist mir nicht bekannt.

Sehr oft ist der Notentext in drei Systeme gefasst, so auch gleich der Beginn der Sonate.

Anfang.JPG

Auf den ersten Blick sehen die Akkorde der rechten Hand wie eine reine Verschiebung aus. In diesen ersten Takten wechseln die Akkorde sich zwischen den Klangzentren auf c und a ab, von denen der zweite auf eine betonte Zählzeit im Takt fällt. Auf diesem Prinzip ist der Großteil der Sonate konzipiert. In den Takten drei und vier, kommt es zu einer melodischen Gestalt im mittleren System, die Skrjabin so erklärt: „Sehen sie, wie ich die Stimmung, die Atmosphäre in einer einzigen Phrase breche, ändere?“ Weiter sagte er über diese Stelle: „Hören Sie auf die Tragödie, die aus dieser Auflösung entsteht…innerhalb zweier Töne verwandle ich Hoffnung in Verzweiflung!“

Die ersten Akkorde auf den wechselnden Klangzentren c und a bilden zugleich den Ausgangspunkt melodischer Linien, die sich zur Polyphonie verdichten. Da Skrjabin von Zeitgenossen gerne als „Homophoniker“ beschimpft wurde, stellte er nach dieser Sonate fest: „Und wagen Sie noch zu sagen, ich sei kein Kontrapunktiker, nachdem Sie dies gehört haben? Sehen Sie doch, wie alle diese Kontrapunktnoten harmonisch sind… Sie sind nicht im Kampf miteinander wie bei Bach, sondern in völligem Frieden!“
Die Akkorde der ersten Takte im oberen System wechseln sich im Längenverhältnis 1:2 ab. Ihre Oberstimme steigt bis zum fis'' auf und bleibt dort stehen. Der Bass Pendelt im Quart-Intervall zwischen e und a. Der Ton h als Vorschlag klingt glockenartig durch die ersten Akkorde hindurch. Er ist von den Randtönen (E im Bass und fis‘‘ in der Oberstimme) gleichweit entfernt und bildet somit die Mittelachse. Die Mittelachse wird in Takt 3 durch die motivische Figur belebt, sinkt aber wieder nach h zurück. Aus diesem Material entwickeln sich die folgenden Takte bis Takt 21, zum Teil auch darüber hinaus. Die Figur, die in Takt 4 hinzukommt, bestehend aus der Terzenfolge h‘-dis‘‘-g‘‘-b‘‘-des‘‘‘ kann man aus den Anfangsakkorden der rechten Hand ableiten und ist sogar mit dem Leitmotiv der 7. Sonate verwandt.

Ab Takt 22 beginnt ein neuer Abschnitt, der mit „Allegro agitato“ überschrieben ist.

Hauptthema.JPG

Hier beginnt das Hauptthema der Sonate. Nach einem rhythmisch pointierten Impulsmotiv (große Sekunde aufwärts) als Ruhepunkt entlädt sich eine schwierig zu spielende, abwärts gleitenden Quartkaskade, die nach dem zweiten Mal in eine kurze, tänzerische Phrase übergeht.
In Takt 52ff findet sich ein weiteres wichtiges Motiv für diese Sonate.

Kettentonleiter.JPG

Dabei handelt es sich um eine achttönige Kettentonleiter. Die Oberstimme lautet: c-e, es-g, fis-b, a-cis, c-e. Ordnet man diese Töne, die hier stets in der Intervallfolge große Terz aufwärts – kleine Sekund abwärts auftreten in aufsteigender Reihenfolge, erhält man die Folge c-cis-es-e-fis-g-a-b.
Diese Tonleiter (alternierend Halbtonschritt-Ganztonschritt) habe ich in vorherigen Beiträgen bereits erwähnt. Es handelt sich um die Rimski-Korsakow-Leiter oder um das, was Messiaen als zweiten Modus mit begrenzter Transponierbarkeit (geht nur zweimal chromatisch aufwärts, sonst ist der Tonvorrat wieder derselbe) bezeichnet. Die rhythmische Gestalt dieses Motivs erinnert an das Kühnheitsmotiv der 5.Sonate.
Ein Seitengedanke taucht in Takt 88 auf, wie schon bereits erwähnt mit „Tragique“ überschrieben.

Tragique.JPG

Der Ursprung dieses Gedankens liegt in der horizontalen Mittellinie der Einleitung. Intervallfolge und Bewegungsrichtung finden sich bereits in den Takten 3 und 4.

Wenn man versucht, die Form dieser Sonate in Standardmodelle zu stopfen, bringt das doch einige Schwierigkeiten mit sich. Es wurden zwar Versuche unternommen, dieser Sonate die Sonatenhautsatzform aufzuzwängen, wirklich überzeugen kann das hier jedoch nicht. Die für Skrajabin typische progressive Entfaltung ist auch hier wieder vorhanden, sehr schön zu sehen zum Beispiel beim wiederholten Einsatz des Seitengedankens ab Takt 186, aber insgesamt weit nicht so ausgeprägt, wie in der 7. Sonate, dazu fehlt der extatische Höhepunkt. Man kann die Sonate im Vergleich zur traditionellen Sonate vielleicht noch als Verschmelzung vom langsamen dritten Satz (als Einleitung in den ersten 21 Takten) und Final-Satz sehen, welcher ständig mit dem Material der Einleitung durchtränkt wird.

Als Grundton der Sonate gab Skrjabin mal den Ton a an. Tatsächlich beginnt die Sonate mit dem Klangzentrum auf a, jedoch fügt Skrjabin immer wieder die Quinte e hinzu, die ja eigentlich beim Prometheus-Akkord nicht vorkommt. Dadurch gerät die Harmonik ins Schillern, an einigen Stellen meint man sogar, die Sonate hätte tonale Züge. Hier geschieht genau das, was ich bei Vers la Flamme bereits angesprochen habe. Verglichen mit der Dur-Moll-Harmonik, verwendet Skrjabin das Klangzentrum, beziehungsweise den Tritonus konsonant und fügt die Quinte als Färbung, bzw. als „Dissonanz“ hinzu, was das Ohr aber als tonale Färbung wahrnimmt. Klingt paradox, ist aber so. Insgesamt wirkt die Harmonik hier wenig schroff, sondern eher weich, umgeben von einer fast tänzerischen Atmosphäre.
Typisch in dieser Sonate sind wieder die häufigen, flirrenden Triller und die unglaublich komplizierte Polyrhythmik. Es ist wirklich ein harter Brocken.

Wenn ich mich unter den letzten Sonaten Skrjabins für die liebste entscheiden müsste, dann wäre es wohl diese. Genau wie die 6. Sonate, spielte er auch diese nie in der Öffentlichkeit. Manche meinen, sie war ihm selbst zu tragisch, andere meinen, sie war ihm selbst zu schwer. Uraufgeführt wurde sie erst im November 1915 durch Elena Bekman-Schtscherbina., ein halbes Jahr nach Skrjabins Tod. Wie auch immer… Sie ist bis heute die wohl am wenigsten gespielte Sonate Skrjabins…und das ist sehr bedauerlich!

Hier zum Mitlesen die wundervolle Einspielung von Ashkenazy...



Viele Grüße!
 
Zuletzt bearbeitet:
also ich wüßte eine Antwort: Weil sie am Schwierigsten ist.

Ja, dieser Gedanke ist mir auch schon gekommen. Sicher zählt diese Sonate zu den Ultrabrechern, aber...

Zu den am häufigsten gespielten Skrjabin-Sonaten zählt die fünfte Sonate und die ist (wenn überhaupt) nicht viel leichter als die Nr.8. Andere Ultrabrecher, wie Gaspard, die h-Moll-Sonate oder Petruschka erfreuen sich in den Konzertsälen momentan größter Beliebtheit.

Andererseits hat Bernd Glemser (Pianist und Hochschulprofessor) mal gesagt, er fürchte sich vor den Quartkaskaden. Dementsprechend gehört die 8. Sonate zu den wenigen Skrjabin-Sonaten, die er nicht eingespielt hat.

Ob diese Sonate wirklich nur wegen des Schwierigkeitsgrades so wenig präsent ist... Ich weiß es nicht.
 
Ob diese Sonate wirklich nur wegen des Schwierigkeitsgrades so wenig präsent ist... Ich weiß es nicht.
sie ist nicht "schwieriger" als die 5. oder 7. Sonate, als Gaspard oder Petrouchka
es kommt vor, dass klasse Klaviersachen nicht so oft, wie sie es verdient hätten, gespielt werden: auch de Fallas Fantasia baetica ist nicht oft zu hören, ebenso ist Villa-Lobos Rudepoema ein sehr seltener Gast in den Konzertsälen
 
Auch wenn mich jetzt die Fachleute hier virtuell steinigen werden: Kann es nicht daran liegen, dass die Sonate im Gegensatz zu den genannten üblichen Verdächtigen im höchsten Schwierigkeitsbereich für das durchschnittliche Publikum eines klassischen Klavierabends sehr schwer zugänglich ist und daher lieber auf Bekanntes zurückgegriffen wird?
 
Kann es nicht daran liegen, dass die Sonate im Gegensatz zu den genannten üblichen Verdächtigen im höchsten Schwierigkeitsbereich für das durchschnittliche Publikum eines klassischen Klavierabends sehr schwer zugänglich ist und daher lieber auf Bekanntes zurückgegriffen wird?

Absolut möglich, aber...

müsste das dann nicht für das gesamte Spätwerk Skrjabins gelten? Die "Schwarze Messe" oder Vers la Flamme zum Beispiel werden aber vergleichsweise häufig aufgeführt...
 

Absolut möglich, aber...

müsste das dann nicht für das gesamte Spätwerk Skrjabins gelten? Die "Schwarze Messe" oder Vers la Flamme zum Beispiel werden aber vergleichsweise häufig aufgeführt...
schwarze Messe, Vers la Flamme und 5. Sonate sind irgendwie "eingängiger" - bzgl. der 8. Sonate habe ich ein wenig den Eindruck, dass Skrjabin da etwas erschlafft oder ermüdet (sie ist nicht so kompakt/konzentriert, sondern weitschweifiger) - übrigens sonderlich oft hört man die 6. Sonate, die "weiße Messe" (7.) und die Insektensonate (10.) ja nun auch nicht
 
Vielen Dank für diesen schönen Thread, Troubadix, der mir bisher noch gar nicht so präsent war.
Über Skrjabin habe ich Komponisten kennen und schätzen gelernt, die derzeit den Fokus meiner
Auseinandersetzung bilden: Arthur Lourié, Nikolaj Roslavec, Jefim Golyscheff sind dabei wohl die
bekannter zu nennenden Vertreter der russischen Avantgarde, die Skrjabins Klangzentrentechnik
weiterverfolgt haben (wie Roslavec, der dann von Synthetakkorden spricht; Golyscheff, bei dem es
"Zwölfton-Dauerkomplexe" sind).
 
Über Skrjabin habe ich Komponisten kennen und schätzen gelernt, die derzeit den Fokus meiner
Auseinandersetzung bilden
kennst du aus der Reihe musikkonzepte den Band Skrjabin und die Skrjabinisten? Das könnte für dich interessant sein.

abenfalls in die Reihe derer, die als Komponisten in Skrjabins Fußstapfen zu treten versuchten, gehört Samuil Feinberg -- ich sag dennoch was ketzerisches: alle diese "Skrjabinnachfolger" reichen nicht an ihr Vorbild heran
 
kennst du aus der Reihe musikkonzepte den Band Skrjabin und die Skrjabinisten?
Das könnte für dich interessant sein.
Habe beide Bände. Vielen Dank aber für den Hinweis.

alle diese "Skrjabinnachfolger" reichen nicht an ihr Vorbild heran
Musikalisch, meinst du?
Es wäre freilich zu fragen, auf welchen Ebenen da Skrjabin als Vorbild gedient haben mag und inwiefern seine "Nachfolger"
nun eine bruchlose Übernahme der skrjabinschen Techniken ersuchten…
Leider mangelt es mir noch an einer detaillierten Kenntnis seines Tonsatzes - hättest du, rolf, oder jemand anders, dahingehend
eine Literaturempfehlung? Eine gute Untersuchung der skrjabinschen Kompositionsweisen wäre für mich ein unschätzbar
wertvoller Hinweis. Unsere Bibliothek gibt da gar nicht so viel her, und bevor ich mich durch Online-Datenbanken wühle, frage
ich die ausgewiesenen Experten.
 
hättest du, rolf, oder jemand anders, dahingehend
eine Literaturempfehlung?

Lieber Ijon Tichy,
für den Anfang kann ich dir meine Zusammenfassung zum Lesen geben.

Prometheus-Harmonik

Dann kann ich das Buch

Alexander Skrjabin und seine Musik: Grenzüberschreitungen eines prometheischen Geistes

…empfehlen, in dem alle wichtigen kompositorischen Mittel Skrjabins über seine gesamten Entwicklungsphasen (neapolitanische II. Stufe in früheren Werken, Tritonus, Prometheusakkord und dessen Weiterentwicklung, Rimski-Korakow-Leiter, Einführung der Quinte als „Dissonanz“, Rhythmik…) kurzweilig und leicht verständlich zusammengefasst sind.

Sehr interessant ist auch das hier…

Grenzgänge - Anmerkungen zur harmonischen Analyse der Werke Alexander Skrjabins

Viele Grüße!
 
ja!
es wäre jetzt billig, darauf zu verweisen, dass keine der sozusagen "Nachfolgesonaten" ebenso oft aufgeführt wird, wie Skrjabins fünfte - ich versuche es anders: mir ist bei den Nachfolgesachen, die ich selber ausprobiert habe, und bei denen, die ich mir angehört habe, einfach nicht dieselbe überzeugende musikalische Qualität wie bei Skrjabin begegnet.
 
Hanns Steger schreibt im Schlusssatz seines Buches "Der Weg der Klaviersonate bei Alexander Skrjabin"
(München - Gräfelfing 1979), Skrjabin sei qua Verwendung einer "Reihentechnik" ein Pionier der seriellen
Musik (S. 92). Ich glaube aber, dass damit der wesentliche Unterschied zwischen Skrjabin und den Serialisten* nicht
hinreichend erfasst ist: dass, ob ein Werk von einem Klangzentrum ausgeht, aus dem eine horizontale Entfaltung
(=Reihe) abgeleitet wird, oder ob ihm sozusagen a priori eine Reihe zugrundeliegt (obgleich ich um die
Problematik der Reihe als erstem Schritt weiß und dass - jedenfalls bei Schönberg - vielmehr oftmals die
Reihe aus zuerst gebildeten Motiven, Zellen etc. hervorgeht…), einen bedeutenden Unterschied hinsichtlich
der kompositorischen Konsequenzen ausmacht.
Ganz davon abgesehen, dass der Determinismus der seriellen Musik mir nicht auf Skrjabin zuzutreffen
scheint…

Wie seht ihr das?

*Unklar bleibt, wie der Autor den Begriff der seriellen Musik eingrenzt; meint er damit v.a. Darmstadt, oder
bereits die Zwölftontechnik der Wiener Schule? Ich meine, mich zu erinnern, dass die englischen und
französischen Ausdrücke serial music und musique sérielle teilweise verschiedene Bedeutungsfelder
tangieren… im Deutschen ist der Begriff sicherlich nicht weniger uneindeutig.
 

Wirklich seriell, also ein geordneter, strenger Verlauf von Tonhöhe als Reihe, Tondauer, Lautstärke und Klangfarbe liegt bei Skrjabin nicht vor, somit ist seine Musik keine reine serielle Musik. Schönberg kommt dem näher, erfüllt aber auch noch nicht alle Kriterien.

Cheetham bezeichnet Skrjabins Musik als „quasi serielle Technik“. Skrjabin geht von einem Tonvorrat aus (Cheetham bezeichnet diesen als „Set“) der im Verlauf des Stückes transpositioniert wird und entfaltet diesen horizontal und vertikal, aber ohne die strengen Regeln wirklich serieller Musik.

Dennoch kann man Skrjabins Musik als Vorstufe der Zwölfton-Technik und damit auch als Vorstufe der seriellen Musik bezeichnen.

Anders gefragt...

Wie "seriell" ist eigentlich das hier...

Den Anhang 6010 betrachten

Viele Grüße!
 
Zuletzt bearbeitet:

Zurück
Top Bottom