Die Sonaten von Alexander Skrjabin

Die "Chopin-Sexte" im Dominantseptakkord (die Chopin so inflätionär häufig verwendete, dass das den Spitznamen Chopinakkord erhielt) findet sich freilich bei Weber, Beethoven und Mozart ebenfalls recht oft: die Ahnenreihe wird also länger :)

Immerhin, die Herleitung c-g-b-e-a (Chopin) regte c-g-b-e-a-d (mit None, z.B. bei Wagner und Liszt) und dann eben c-ges-b-e-a-d ist überzeugend - allerdings, ohne dir zu viel vorweggreifen zu wollen, wurden alterierte Dominatseptakkorde vor Skrjabin meist aufgelöst (außer in Wagners Walküre und Tristan, wo der D7 als Konsonanz erscheint) - Skrjabin aber wird diesen Akkord nicht mehr dominantisch verwenden, sondern als "Klangzentrum"
Das notierte fis ist akustisch auf dem Klavier in der Tat mit dem klingenden ges identisch, das als tiefalterierte Quinte auflösungsbedürftig nach f wäre, wenn man denn den Akkord dominantisch deuten wollte. Sabanejews Obertonthese könnte zwar die Entscheidung rechtfertigen, den zweiten Ton als fis zu deklarieren, der allerdings mit dem 11. Naturton physikalisch gar nicht genau übereinstimmen kann - dazu müsste man sich die Naturtonreihe verkürzend in gleichschwebend-temperierter Stimmung zurechthören.

@rolf: Im Tristan-Vorspiel wird die funktionale Bindung nur verschleiert respektive erweitert, aber nicht aufgegeben. Der erwähnte "Tristan-Akkord" ist als H-Dur-Terzquartakkord mit tiefalterierter Quinte erklärbar, die sich als Doppeldominante in die Dominante E7 fortsetzt. Quartenharmonik mit oder ohne Alterierung von Akkordtönen? Thematische Funktion bekommt ein solches Gebilde auch in Schönbergs 1. Kammersinfonie op. 9 (dort vom Horn gespielt). Die Loslösung von dur-moll-tonalen Bindungen vollzog sich demnach nicht nur durch das unterlassene Auflösen von Dissonanzspannungen, sondern auch durch die Bildung mehrdeutiger Melos- oder Akkordstrukturen (Ganztonharmonik, Intervallschichtungen, bi- und polytonale Komplexbildungen). Demnach ist hier Skrjabin in bester Gesellschaft, nicht ohne aber einen ganz individuellen Personalstil auszuprägen. Am ehesten dürfte dieser harmonische Ansatz noch bei den russischen Futuristen, besonders bei Lourié, Anknüpfungspunkte erfahren haben - hätten diese ohne Beeinträchtigungen durch äußere Einflüsse kulturpolitischer Natur ihre schöpferische Tätigkeit fortsetzen können, wäre in Russland und Osteuropa stilistisch manches Werk ganz anders gestaltet worden, was allerdings heute reine Spekulation sein dürfte.

LG von Rheinkultur
 
@Rheinkultur: ich hab den "mystischen Akkord" absichtlich mit ges statt fis aufgeschrieben, damit man die Herleitung besser sehen kann; Skrjabin notiert fis.
@rolf: Im Tristan-Vorspiel wird die funktionale Bindung nur verschleiert respektive erweitert, aber nicht aufgegeben. Der erwähnte "Tristan-Akkord" ist als H-Dur-Terzquartakkord mit tiefalterierter Quinte erklärbar, die sich als Doppeldominante in die Dominante E7 fortsetzt.(...)
das alles ist mir bekannt - schaden kann dabei aber nicht zu erwähnen, dass sowohl in der "Todverkündung" (Walküre) als auch im Tristan (schon am Anfang) der gewohnte auflösungsbedürftige Dominantseptakkord als Ende einer Progression von Dissonanzen eingesetzt wird und dadurch (beinah) als Konsonanz erscheint - Wagner schrieb nicht ganz grundlos an Liszt "ja kann man das überhaupt noch komponieren nennen?". Ohne diese "Vorarbeit" sind die nachfolgenden nicht nur Skrjabinschen Neuerungen kaum denkbar, zumal man gerade bei Skrjabin sehr schön nachvollziehen kann, wie sein Weg von Chopin über Wagner/Liszt (und wohl auch Debussy) zu seiner "Harmonik" führte. Oder anders gesagt: aus dem Nichts tauchten weder Skrjabin noch Schönberg auf :)

was die Skrjabinrezeption in der frühen UDSSR betrifft, die er selber nicht mehr erlebte, so wurde er offiziell mal als bourgeoiser Symbolist, mal als verdammenswürdiger Formalist betrachtet (wobei es u.a. Goldenweiser, Sofronitski und Feinberg zu verdanken ist, dass solche Agit-Prop-Vorurteile sich nicht durchsetzten) - ulkig zu erwähnen, dass in Ilf/Petroffs satirischem Roman "zwölf Stühle" ein Dampfer namens Skrjabin durch die Provinz fährt :):)
 
Wagner schrieb nicht ganz grundlos an Liszt "ja kann man das überhaupt noch komponieren nennen?". Ohne diese "Vorarbeit" sind die nachfolgenden nicht nur Skrjabinschen Neuerungen kaum denkbar, zumal man gerade bei Skrjabin sehr schön nachvollziehen kann, wie sein Weg von Chopin über Wagner/Liszt (und wohl auch Debussy) zu seiner "Harmonik" führte. Oder anders gesagt: aus dem Nichts tauchten weder Skrjabin noch Schönberg auf :)

Das ist sicher richtig. Noch interessanter finde ich, ob die Tristan-Harmonik ohne Liszt denkbar wäre.

Skrjabin aber wird diesen Akkord nicht mehr dominantisch verwenden...

Da fällt mir noch was ein...

Skrjabin war schon immer fasziniert vom Tritonus-Intervall. Bereits in seinen frühen Werken ersetzt er bei Kadenzen häufig die Subdominante durch die neapolitanische zweite Stufe, wodurch das Tritonus-Intervall zwischen dieser Stufe und der Dominate entsteht. In der Dur-Moll-Harmonik stellt der Tritonus die größte Dissonanz dar und gleichzeitig die genaue Teilung der Oktave. Bei der Prometheus-Harmonik ändert sich durch die Verschiebung des Klangzentrums um das Tritonus-Intervall der Tonvorrat gerade mal um zwei Töne. Statt als scharfe Dissonanz, setzt Skrjabin das Tritonus-Intervall sogar zur Vereinigung von Klangzentren ein. Im Poèm op.71 Nr.2 pendeln zwei Klangzentren jeweils systematisch im Tritonusabstand, wobei die Quinte einmal tief- und einmal hochalteriert ist. Hier ist keine Unterscheidung in Dissonanz und Auflösung mehr möglich. Man kann hier von einer Sonderform der Bitonalität sprechen, wobei es Skrjabin im Gegensatz zu Busoni oder Strawinski nicht um Kollision, sondern Integration ging und das ausgerechnet durch das schärfste Intervall der Dur-Moll-Harmonik...Den Tritonus.

Noch mal zur Bildung des Prometheus-Akkord...

So findet ihr leicht den Akkord zu jedem Grundton:

Beispiel - Klangzentrum auf F:

Man bildet den aus der Dur-Moll-Harmonik bekannten Septakkord: F-A-C-Es
Man ersetzt die Quinte durch die erhöhte Quarte, beziehungsweise vermindert man die Quinte: F-A-H(Ces)-Es
Man fügt die Sexte hinzu: F-A-H-Es-D
Man fügt die None hinzu: F-A-H-Es-D-G

Nun hat man schon alle Töne zusammen, die man für das prometheische Klangzentrum braucht. Will man den Prometheus-Akkord, muss die Töne so anordnen, dass sich zwischen Ihnen Quartabstände ergäben.

Prometheus-Akkord F: F-H-Es-A-D-G

Zweites Beispiel - Klangzentrum auf H:
Man bildet den aus der Dur-Moll-Harmonik bekannten Septakkord: H-Dis-Fis-A
Man ersetzt die Quinte durch die erhöhte Quarte, beziehungsweise vermindert man die Quinte: H-Dis-Eis(F)-A
Man fügt die Sexte hinzu: H-Dis-Eis-A-Gis
Man fügt die None hinzu: H-Dis-Eis-A-Gis-Cis

Prometheus-Akkord H: H-Eis-A-Dis-Gis-Cis

Da ist keine Hexerei dabei.

Das Intervall zwischen F und H entspricht dem Tritonus-Intervall. Beide Akkorde dürfen also nur zwei unterschiedliche Töne aufweisen.

F-H-Es-A-(D-G)
H-Eis-A-Dis-(Gis-Cis)

Nur die jeweils letzten beiden Töne des Akkords kommen im anderen Akkord nicht vor. Diese beiden Töne entsprechen der Sexte und der None.

Viele Grüße!
 
kleiner Abstecher:
Das ist sicher richtig. Noch interessanter finde ich, ob die Tristan-Harmonik ohne Liszt denkbar wäre.
ja und nein:
"durch dich bin ichharmonisch ein ganz anderer Kerl geworden" (Brief Wagner an Liszt)
aber auch:
in einem Lied von Liszt ist der wörtliche Tristanakkord später eingefügt (ist im Bayreuther Museum ausgestellt)
__________
aber retour zu Skrjabin: relevant ist zusätzlich noch, dass der in seiner Herleitung dominantische "mystische Akkord" keine dunkle mollgetrübte Färbung aufweist, sondern eindeutig so eine Art strahlende Durqualität hat (also eine helle, leuchtende "harmonische Farbe") - selbst die krass dissonanten Tremoli der 10. Sonate haben diese "helle", "durartige" Klangqualität. Kurzum: düster ist das berühmte Klangzentrum nicht, auch nicht schrill oder grell.
 
Sonate Nr.6 op.62

Zwischen dem Prometheus und der sechsten Sonate steht ein Werk, das man in diesem Zusammenhang ebenfalls ruhig erwähnen könnte, das Poème-Nocturne op.61. Der Umfang des Stückes lässt es kaum wie eine Miniatur erscheinen und so steht es den einsätzigen Sonaten ähnlich nahe, wie die h-Moll-Fantasie. Dennoch möchte ich nicht weiter darauf eingehen. Es sei lediglich darauf hingewiesen, dass dieses sehr hörenswerte Stück harmonisch der sechsten Sonate sehr nahe steht.

düster ist das berühmte Klangzentrum nicht

Das sehe ich auch so. Dennoch gelingt es Skrjabin, mit dieser Harmonik auch solche Stimmungen hervorzurufen.

Zitat von Faubion Bowers:
Die 6.Sonate ist ein Stern der Unterwelt. Ihr dunkler und böser Aspekt umfasst Entsetzen, Schrecken und das allgegenwärtige Unbekannte.

Auch Skrjabin bezeichnet die Sonate als „beängstigend, voller Ruß, düster, dunkel und geheimnisvoll, verschmutzt, verderblich.“

Das klingt schon alles ziemlich geheimnisvoll, aber es wird noch mysteriöser. Skrjabin hat diese Sonate nie öffentlich aufgeführt. Laut Zeitzeugen fürchtete er sich sogar vor dem Stück. Wenn er Auszüge der Sonate vor Freunden spielte, blieb er nachher wie erstarrt in einiger Entfernung vom Klavier stehen, wie wenn er Dämpfe aus dem Fußboden und den Wänden strömen sähe… Er wirkte erschreckt und manchmal voller Ekel. Seine Miene nahm unmittelbar das unfertige, ungeformte Chaos der beginnenden Dunkelheit in sich auf – das Nichts. So berichtet Bowers in seiner Skrjabin-Biographie.

Entstanden ist die Sonate 1911 auf einem Landgut zirka 150km von Moskau entfernt, wo er mit Tatjana den Sommer verbrachte. Sie ist die erste Sonate nach dem Prometheus und damit auch die erste Sonate die in der berühmten Prometheus-Harmonik (die ich in den Beiträgen zuvor erklärt habe und die man sich bei bedarf noch mal durchlesen kann) komponiert wurde. Diesmal gibt es kein begleitendes, poetisches Programm, allerdings finden sich die typischen Begleitbezeichnungen wie „mystèrieux, concentré“ oder „avec une chaleur contenue“ für die unterschiedlichen Motive. Harmonisch ist die Sonate auf zwei Prinzipien aufgebaut. Zum einen verwendet Skrjabin die „Rimski-Korsakow-Leiter“ (Messiaens zweiter Modus mit begrenzter Transponierbarkeit, also Halbton-Ganzton-Halbton…) und zum anderen den Prometheus-Akkord, zumindest beinahe. Denn wie bereits angekündigt, beginnt Skrjabin schon hier, seine Harmonik weiter zu entwickeln. Die entscheidende Korrektur am Prometheusakkord sieht in dieser Sonate so aus, dass die None über dem Grundton erniedrigt wird. Aus dem Akkord auf dem Grundton c c-fis-b-e-a-d wird also c-fis-b-e-a-des. Wer will, kann die Akkorde mal am Klavier spielen… Man merkt sofort den charakterlichen Unterschied.

Skrjabin beginnt die Sonate mit dem Klangzentrum auf g, fügt aber bereits weitere Töne hinzu, so dass zum vollständigen zweiten Modus nur noch das e fehlen würde. Auf diese Weise werden also die zwei Prinzipien vereint. Er verschleiert das Klangzentrum quasi durch die Rimski-Korsakow-Leiter. Gottfried Eberles schrieb über das Werk: „Das Werk beschreibt die Geschichte der Entwicklung vom Prometheus-Akkord zum symmetrischen Modus.“

Interessant ist, dass Skrjabin hier das Klangzentrum fast analog zu einer Tonika in der Dur/Moll-Harmonik verwendet. So beginnt und endet das Stück auf dem Klangzentrum in g. Bringt man dieses Werk in die Sonatenhauptsatzform (was grundsätzlich mit allen großformatigen Werken Skrjabins machbar ist, allerdings nicht unbedingt immer sinnvoll, da die Bezeichnung „projektive Entfaltungsform“ für alle einsätzigen Sonaten Skrjabins besser passt und weniger anachronistisch wirkt), so sind die beiden Themen der Exposition in g und des komponiert, während die beiden Themen im Reprisenteil in f und h komponiert sind. Die Themen sind also jeweils um das Tritonus-Intervall versetzt und damit in der Prometheus-Harmonik miteinander verwandt, ähnlich der Verwandtschaft zwischen Tonika und Dominante in der Dur/Moll-Harmonik.

Die Sonate beginnt mit der Bezeichnung „mystérieux, concentré“ (geheimnisvoll, konzentriert). Die Sextole mit Nonen-Sprung auf den ersten beiden Tönen, Pause auf dem dritten Ton und drei fallenden Tönen, die zum ersten Mal im dritten Takt auftaucht und eines der prägenden Elemente der Sonate ist, ist mit „étrange, ailé“ (seltsam, geflügelt) überschrieben.

erstes Thema.JPG

Bereits ab Takt 11 beginnt das zweite Thema überschrieben zunächst mit „avec une chaleur contenue“ (mit Wärme), nur zwei Takte später etwas ruhiger dann „souffle mystérieux“ (mysteriöser Hauch), im nächsten Takt dann mit „onde caressante“ (zarte Welle) überschrieben eine Aufsteigende Figuration in der linken Hand, die in einem Triller endet und ebenfalls ein prägendes Element der Sonate darstellt und anschließend zurück zum ersten Motiv mit „concentré“ im nächsten Takt.

zweites Motiv.JPG

Das erste Motiv wird nun weiter entwickelt und schaukelt sich zum Forte auf. Es folgt ein überleitender Abschnitt mit „un peu plus lent“ (ein wenig langsamer) überschrieben mit Figurationen in der linken und Melodie in der rechten Hand. Der Abschnitt mündet in Takt 39 im für diese Sonate sehr wichtigen „Traum-Motiv“, das man quasi als Seitenthema sehen kann, im Verlauf der Sonate aber die größte Entwicklung beschreiten wird. Es ist mit „le rêve prend forme (clarté, douceur, pureté)“ (Der Traum nimmt Gestalt an (Klarheit, Süße, Reinheit)) überschrieben und stellt den lieblichen, weiblichen Part der Sonate dar.

Traummotiv.JPG

Es wird unterbrochen von schnell aufsteigenden Quintolen, die mit „avec entraînement“ (ich bin mir nicht sicher, würde es aber in diesem Fall in etwa „mit Schwung“ übersetzen).

Quintolenmotiv.JPG

Diese führen schließlich zum „ailé, tourbillonnant“ (geflügelt, wirbelnd). Die Fortissimo-Akkorde sind dann mit „l‘ épouvante surgit“ (die Angst entsteht) überschrieben. Hier entsteht als oder Horror, der den süßen Traum unterbricht. Mit „vivace“ nimmt die Sonate nun Fahrt auf, zunächst mit den Quintolen, dann werden aber auch andere Elemente und Motive miteinander kombiniert. Der Klaviersatz wird zunehmend dichter und eine Akkord-Passage mit „joyeux, triomphant“ (froh, triumphierend) erinnert an die früheren Werke Skrjabins. Dieser triumphale Abschnitt ist aus dem Traummotiv heraus entwickelt, also aus dem lyrischen, weiblichen Seitenthema, das seine Gestalt nun sehr geändert hat, die Zartheit aber nie ganz verliert. Damit schließt die erste Hälfte der Sonate. Die zweite Hälfte der Sonate kann man als eine „gehobene Wiederkehr“ der zentralen musikalischen Ereignisse des ersten Teils sehen. Das Notenbild wird noch mal deutlich schwieriger zu entziffern und auf drei Systeme aufgeteilt, um die Übersicht zu bewahren. Besonders das Traummotiv macht eine deutliche Entwicklung bis hin zur Ekstase durch. Erst im abschließenden „Danse délirante“ wird die Erinnerung an den Traum ausgelöscht.

Kurz vor Schluss findet sich noch etwas Einmaliges in Skrjabins Klavierwerk. Skrjabin fordert dort ein d, dass über die Standard-Klaviatur des Klaviers hinausgeht. Laut Zeitgenossen spielt Skrjabin dort ein c, bestand aber weiterhin auf diese Notation.

hohes d.JPG

Zum Schwierigkeitsgrad sei gesagt, dass auch diese Sonate furchtbar schwer ist und auch bei den folgenden Sonaten wird der Schwierigkeitsgrad nicht sonderlich fallen. Was Skrjabin hier an Klangdifferenzierung, Polyrhythmik, Weitgriffigkeit usw. fordert, ist wirklich enorm.

Sehr schade ist, dass diese Sonate neben ihren prominenten Schwestern, also den Sonaten 5, 7 und 9 oft etwas untergeht. Vielleicht mag ich gerade deshalb diese und die achte Sonate so gern.

Viel Spaß beim Anhören und nicht fürchten bei diesen düsteren Klängen so kurz vor Halloween! :D



Hier sind die Noten.

Viele Grüße!
 
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Sonat Nr.7 op.64 "Weiße Messe" Teil1

Im Gegensatz zur 6. Sonate liebte Skrjabin dieses Stück und spielte es häufig. Sie wurde kurz vor der 6. Sonate fertiggestellt und 1912 durch Skrjabin selbst in Moskau uraufgeführt und es gibt wirklich sehr viel über sie zu sagen.

Dies ist die einzige Sonate Skrjabins, die einen Beinamen von ihm erhalten hat, nämlich „Weiße Messe“. Skrjabin fühlte sich stark zum Okkultismus hingezogen. Manche seiner Aufzeichnungen lesen sich wie die Zaubersprüche eines bösen Hexen-Magiers aus Harry Potter. „Ein Feuer bin ich! Ich bin das Chaos!“, schrieb er einst.

War er anfangs noch stark im Christentum verwurzelt, löste er sich immer mehr davon und entwickelte basierend auf den Philosophien von Fichte, Kant und anderen ein eigenes Weltbild, in der das Ich die Quelle aller Realität ist. „Alles, was besteht, besteht nur in meinem Bewusstsein. Alles entsteht durch meine Tätigkeit, die ihrerseits nur das ist, was sie hervorbringt.“ (wurde das nicht so ähnlich schon mal im Forum diskutiert? :)) „O du meine Welt, die ich ausstrahle…“

Dass der Narzisst Skrjabin sich von dieser Schöpfer-Philosophie angezogen fühlte leuchtet ein, denn sie kann bei weiterer Überlegung zu einem tollen Fazit führen: „Ich bin Gott!“

Darüber hinaus, sah sich Skrjabin zur Erlösung der gesamten Menschheit berufen, indem er das Mysterium über sie bringt. Es sollte sich um ein Gesamtkunstwerk handeln, dass eine Synthese sämtlicher Künste darstellt und alle Sinne des Menschen anspricht. Dafür plante er sogar ein eigenes Gebäude, eine Art Halbkugel in Indien, in der 2000 Leute Platz haben. Beim Erleben dieses Werkes, sollten die Zuhörer in kollektive Ekstase fallen, entmaterialisieren und eine höhere Bewusstseinsebene erreichen, mit Skrjabin als Messias in ihrer Mitte.

In Zeiten von Supertalent und Bild-Zeitung weiß man, dass es einer höheren Bewusstseinsebene der Menschheit bislang nicht gekommen ist. Es ist wohl Ironie des Schicksals, dass der vermeintliche Erlöser ausgerechnet durch die Folgen eines Abszesses auf der Oberlippe gestorben ist und die Menschheit nicht mehr erlösen konnte.

Diese „Weiße Messe“ ist nun laut Skrjabin die „Verkörperung der Idee des Mysteriums“. Durch seine vielen Überschriften im Notentext und durch seine zahlreichen Äußerungen und Erklärungen zu dieser Sonate, wollte Skrjabin die Rezeption des Stückes selbst festlegen und nicht den Spekulationen der Nachwelt überlassen. Falls jemand dieses Stück nicht kennt und zunächst unbeeinflusst hören möchte, sollte er dies vor dem Weiterlesen tun.

Diese Sonate hat keinen richtigen Anfang, sie scheint in einem fließenden Strom einzusetzen. Das Anfangsthema (wenn es überhaupt ein Thema ist) ist in drei Klangschichten gegliedert. Das Zentrum stellt ein Klangband aus drei Tönen dar, darunter eine zwischen drei Tönen pendelnde Figur und darüber eine Art Signalmotiv. Solche Signalmotive sind typisch für Skrjabin und kommen bereits in vielen früheren Werken vor. Bei der vierten Sonate habe ich Skrjabins drei Lieblingsmotive von Wagner erwähnt, also das Feuerzauber-Motiv (Ring), das Liebestrank-Motiv (Tristan) und das für den Ring sehr bedeutende Schwert-Motiv.

Schwertmotiv.JPG

Da wir ja das Jubiläums-Jahr des genialsten und großartigsten Opernkomponisten aller Zeiten haben… und nebenbei auch das von Wagner, sei mir ein kleiner Ausflug in Wagners Musik gestattet. Das kämpferische, aufstrebende Schwert-Motiv erklingt zum Beispiel im Finale des Rheingoldes. Sehr schön zu hören ist es auch im ersten Akt der Walküre, während Sieglindes Arie.

"Der Männer sippe saß hier im Saal"

Mit den Worten „Auf mich blickt‘ er, und blitzte auf Jene, als ein Schwert in Händen er schwang“ (im Video bei 1:30) ertönt hier das Schwertmotiv, im weiteren Verlauf kommt es noch häufiger vor. Kurz zuvor bei der Zeile „ein Greis in grauem Gewand“ (im Video bei 0:30) ertönt übrigens das Walhall-Motiv, das mit dem Schwert-Motiv verwand ist (beide Motive sind Metamorphosen des Natur-Motivs), aber das nur am Rande…

Schwertmotiv bei Wagner und Skrjabin.JPG

Sogar die wesentlichen Intervalle, also die aufsteigenden Dreiklangschritte behält Skrjabin zunächst bei, wodurch beinahe (mit des statt cis, ursprünglich war sogar cis notiert) dieses Motiv als A-Dur-Dreiklang erklingt und schließlich auf dem f endet. Skrjabin gibt diesem Anfangsthema den Namen „Thema des Willens“, wodurch Skrjabin sein symbolistisches Denken in Tönen wieder unterstreicht. Der „Wille“ war ein zentraler Begriff in Skrjabins Denken. Er geht dabei zunächst nach Schopenhauer vom Willen zum Leben aus, bezeichnet seinen Willen aber später als unbestimmt. Er ging davon aus, dass der Mensch nie endgültig glücklich mit dem Erreichen eines Zieles sein könne. Das ewig ungestillte Wollen ist notwendig für den schöpferischen Drang des Menschen und damit für dessen Göttlichkeit. Dieser schöpferische Drang kann den Menschen in Ekstase versetzen, was nach Skrjabins Auffassung der Zustand des „absoluten Seins“ ist.
In seinem Tagebuch heißt es: „Schöpferischer Drang bringt uns ins Gebiet der Ekstase – außerhalb Raum und Zeit. Ekstase ist höchste Steigerung der Tätigkeit, Ekstase ist ein Gipfel. In der Form des Denkens ist Ekstase – höchste Synthese. In der Form des Fühlens ist Ekstase – höchste Wonne. In der Form des Raumes ist Ekstase – höchste Entfaltung und Vernichtung.“

Und extra für die krasse Jugend ;): „Die schöpferische Erregung hat alle Zeichen des Sexuellen“.
„Wie der Mensch während des Geschlechtsaktes, während der Ekstase, die Besinnung verliert und sein ganzer Organismus an allen seinen Punkten einen Wonnezustand durchlebt, so wird auch der Gott-Mensch, indem er die Ekstase erlebt, das Weltall mit Seligkeit erfüllen und eine Feuerbrunst er Empfindungen entzünden.“

Dies sind nicht nur ergänzende Ausflüge in Skrjabins Gedankenwelt, sondern essentielle Bestandteile seiner Musik.
 
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Sonate Nr.7 op.64 Teil2

Die sechs Töne unter dem Ruf-Motiv ergeben das Klangzentrum auf dem Ton c, diesmal wieder wie bei der 6.Sonate mit erniedrigter None, also c-fis-b-e-a-des. In Takt 3 kommt eine für Skrjabin typische, zunächst schnell steigende und dann fallende, symmetrische Figur, bei der das Klangzentrum bereits auf as nach unten gerückt ist. In Takt 5 erklingt wieder das Anfangsmotiv, diesmal mit Klangzentrum auf b und ab Takt 7 ist es auf d. Skrjabin führt hier eine Art Modulationsmodell bzw. Sequenz nach dem Muster c-as/b-d/e-c ein, also immer eine Terz abwärts und ein Tritonus-Intervall aufwärts. Nun ist dies für den späten Skrjabin nicht ungewöhnlich, allerdings kommen solche Modulationen, wenn man sie mit tonalen Modulationen und der traditionellen Sonatenform vergleicht sonst erst in der Durchführung und nicht in der Exposition vor. Der Grund dafür liegt darin, dass man normalerweise das Seitenthema der Sonate durch einen tonalen Kontrast vom ersten Thema einer Sonate abhebt. Wenn jetzt aber bereits im Hauptthema unablässig transponiert bzw. transpositioniert wird, wird dieser Kontrast nur schwer herzustellen sein. Stattdessen macht Skrjabin aus seinem Modulationsmodell (Terz abwärts – Tritonus aufwärts) eine Art mechanische Regel. So stellt er die Überleitung zwischen Haupt- und Seitenthema zunächst auf die Stufe fis, dann eine Terz abwärts auf d und lässt schließlich das Seitenthema um einen Tritonus höher auf gis erklingen.

Das wichtigste kompositorische Element dieser Sonate ist ein aus vier Tönen (die dem jeweiligen Klangzentrum entnommen sind) bestehender Leitklang. Diese vier Töne sind in den Intervallen Terz-Quart-Terz angeordnet. Vollständig tritt er zum ersten Mal in der Figur im dritten Takt auf (ges-a-d-f). In Takt 5 findet man den Akkord in seiner reinen vertikalen Form mit „geheimnisvoll klingend“ überschrieben.

Leitklang.JPG

Das in Takt fünf angedeutete und ab Takt 10ff vollständige Rufmotiv bestehend aus diesem Akkord soll Glocken verkörpern, laut Skrjabin „Glocken, die zum Mysterium rufen“.

Rufmotiv.JPG

Im Überleitungsteil (dunkel und majestätisch) ab Takt 17 wird der Akkord dann horizontal ausgebreitet (e-g-his-dis).

George Perle schreibt diesem Akkord eine vergleichbare Drehpunktfunktion wie dem tonalen Dreiklang zu, weswegen Skrjabin der erste Komponist ist, der serielle Verfahrensweisen systematisch als Mittel der Kompensation für den Verlust der traditionellen tonalen Funktionen benutzt.

Interessant ist bereits ab den ersten Takten der Pedalgebrauch, den Skrjabin notiert. Er lässt das Pedal über sehr ereignisreiche Strecken hinweg halten, was zu dem führt, was man eigentlich vermeiden soll – zu einem Vernebeln des Klangs. Dieser Pedalgebrauch wird in der Literatur kontrovers behandelt. Während in einigen Notenausgaben sogar die Anweisungen steht, das Pedal nicht wie notiert einzusetzen gehen andere davon aus, das dieses Vernebeln den atmosphärischen Reiz ausmacht und es Skrjabin auf die Transparenz der Strukturen nicht mehr ankäme.

Ab Takt 29 beginnt das Seitenthema der Sonate. Skrjabin selbst bezeichnete es als „reine Mystik“ ohne menschliches Gefühl und Lyrismus. Es ist mit „avec une céleste volupté“ (mit himmlischer Wollust) und ab Takt 33 mit „trés pur, avec une profonde douceur“ (sehr rein, mit großer Süße) überschrieben. Es hat den für Skrjabins Seitenthemen typisch sehnsüchtigen Charakter. Nach dem anfänglichen Chaos (das man sogar als athematisch bezeichnen kann, womit das „Seitenthema“ das einzige wirkliche Thema der Sonate wäre) bildet dieses Thema den ersten Ruhepunkt der Sonate, dem Geheimnisvollen und Dunklen folgt die himmlische Lust.

Seitenthema.JPG

Dieser Prozess beginnt ab Takt 77 wieder von vorn und wird viermal durchlaufen, wobei die einzelnen Themen wie für Skrjabin typisch immer weiter entwickelt, also progressiv entfaltet werden. Das sieht man sehr schön, wenn man sich die Anfänge der Abschnitte ansieht.

Vergleich Anfänge der Abschnitte.JPG

Skrjabin war sehr viel an der Symmetrie seiner Werke gelegen. Die Abschnitte eins und drei haben eine Symmetrie von je zweimal 38 Takten und in den Abschnitten zwei und vier verwandte Proportionen. Die Sonate besteht aus 343 = 7³ Takten und die zweite Hälfte der Sonate ist um die „heilige Zahl“ von sieben Takten länger als die erste. Die Symmetrie machte Skrjabin bei diesem Werk ziemlich zu schaffen. Als er an dem Werk arbeitete fehlten ihm plötzlich zwei Takte die er brauchte, um die vorgegebene Form einhalten zu können. „Ich brauche hier für die Form genau zwei Takte. Genau zwei, damit die Form wie eine Kugel ist, vollendet wie ein Kristall. Ich kann nicht abschließen, bevor ich fühle, dass es eine Kugel ist. […] Ich habe manchmal geradezu Berechnungen beim Komponieren, Berechnungen der Form und die Berechnung des Modulationsplans. Er darf nicht zufällig sein, sonst ist die Form nicht kristalisch.“

Wie schon bei der 6. Sonate, so ist es auch hier das Seitenthema, das die Verwandlung von überirdischer Reinheit zur ekstatischen Lust durchlebt und andere Motive, wie ein Trillermotiv und ein Flugmotiv in sich aufnimmt. Zum Schluss hin verlagert sich das Klangzentrum immer deutlicher nach fis und damit einen Tritonus über das Klangzentrum des Anfangs der Sonate. Zum Schluss hin, ab Takt 313 mit „avec une joie débordante“ (mit überquellender Freude, ab Takt 327 sogar mit „en délire“ überschrieben schwingt sich die Sonate zur Ekstase auf, die endgültig in Takt 331 erreicht wird mit meinem Lieblingsakkord im Klavierwerk Skrjabins. Es handelt sich um einen 25tönigen Akkord, den man natürlich arpeggieren muss. Er ist die fünffache Aufschichtung des auf fünf Klänge erweiterten Leitklanges (des-fes-g-a-c) über einem nicht erklingenden Grundton dis.

25töniger Akkord.JPG

Die Schlusstakte sollen dann durch die pentatonische Gestalt und die unwirklichen Triller die gelungene Entmaterialisierung symbolisieren, die „Erschlaffung des Nichtseins nach dem erotischen Akt“. (Skrjabins Worte :))
„Die Sonate enthält Düfte und Wolken. Diese Musik nähert sich schon dem Mysterium. Hören Sie diese ruhige Freude! Sie ist so viel wahrhaftiger als im Prometheus. Das funkelnde Thema oder der Feuerbrunnen führt hin zum letzten Tanz, zur Auflösung durch das Eingreifen der Trompeten der Erzengel. Es ist wahrhaftig ein Taumel – der letzte Tanz vor dem Augenblick der Entmaterialisierung.“



Viele Grüße!
 
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Ich möchte an dieser Stelle einmal fragen, wie es euch mit der Prometheus-Harmonik anhand dieser beiden Beispiele geht. Ist es ungefähr nachvollziehbar, was Skrjabin da macht oder sind meine Ausführungen eher unverständlich, zu viel oder zu wenig ausführlich? Oder würdet ihr sagen, dass diese Harmonik generell ungenießbar ist? Mich würde an dieser Stelle ein kleines Feedback speziell zu den beiden zuletzt vorgestellten Sonaten freuen.

Viele Grüße!
 

Vers la Flamme op.72

Lieber Sascha,

ich wünsche Dir alles Gute zum Geburtstag! Entschuldige, dass ich Dich in letzter Zeit so vernachlässigt habe, aber dafür schreibe ich heute etwas über eines meiner Lieblingstücke von Dir - Vers la Flamme.

Hierbei handelt es sich zwar nicht um eine Sonate, jedoch muss dieses als „Poéme“ bezeichnete Stück im Rahmen der Sonaten besprochen werden. Dieses Werk entstand 1914, also ein Jahr vor Skrjabins Tod und trägt den Titel „Vers la Flamme“ (Hin zur Flamme). Ursprünglich wollte Skrjabin aus diesem Werk tatsächlich seine 11. Sonate machen, er musste das Stück jedoch aus Geldmangel früher als geplant veröffentlichen, weshalb es nur zu einem „Poéme“ gereicht hat, obwohl man dieses Stück kaum noch als Miniatur bezeichnen kann.

Dennoch ist dieses Werk eines der beliebtesten Stücke aus Skrjabins letzten Jahren geworden und hat es sogar als atonales Stück ins Standard-Repertoire geschafft. Obwohl es nach den letzten drei Sonaten entstanden ist, möchte ich an dieser Stelle darauf eingehen, weil sich einige Entwicklungen, die man auch bei den letzten drei Sonaten sieht, hier sehr schön zeigen lassen.
Skrjabins Freund Leonid Sabanejew schrieb über dieses Stück: Das Werk "war zunächst als Sonate konzipiert, wurde dann aber aus dieser Verantwortung 'entlassen' und zu einem kleineren Stück degradiert. Es wurde von Alexander Nikolajewitsch häufig gespielt, der es besonders wegen seines Anfangs mochte: 'Schaut doch nur, wie sich hier alles allmählich entfaltet... aus dichtem Nebel bis ins gleißende Licht...'
Das 'gleißende Licht' setzte an der Stelle ein, an der das Tremolo beginnt. In meiner Anwesenheit hat Alexander Nikolajewitsch dieses Stück immer nur angedeutet, nie mit voller Tongebung gespielt. Da er keine dynamischen Zeichen in den Notentext eingetragen hat. ist es auch bis heute [1925] nicht klar, wie er sich das Ende des Stücks gedacht hatte: Fortissimo oder pianissimo... 'Eigentlich ist das ein Stück für Orchester', pflegte er zu sagen, und tatsächlich spürt man in den Tremoli, die es zuvor bei Skrjabin in dieser Form nicht gegeben hatte, eine Art Skizzenhaftigkeit, als hätte irgend etwas in diesem Stück noch nicht seine definitive Gestalt bekommen."

Vers la Flamme ist mehr oder weniger der Höhepunkt des Feuer-Symbolismus Skrjabins. Will man das Stück programm-musikalisch betrachten, so handelt sich um eine Endzeit-Prophezeiung, um den Untergang der Welt im Feuer, was jedoch gleichzeitig zum Mysterium führt, zur Dematerialisierung der Menschen und letztendlich zur Erlösung. Das wird auch durch die Überschriften über den einzelnen Abschnitten deutlich. Das Stück beginnt „sombre“ (dunkel). Ab Takt 41 dann „avec une émotion naissante" (mit wachsender Emotion), ab Takt 45 „avec une joie voilée" (mit verhüllter Freude), ab Takt 61 „de plus en plus animé" (immer lebhafter), ab Takt 66 „avec une joie de plus en plus tumultueuse" (mit immer stürmischer werdender Freude) und schließlich ab Takt 81 mit Einsetzen des Tremolos „Éclatant, lumineux" (blendend, leuchtend) zusammen mit dem Sekund-Motiv „comme une fanfare" (wie eine Fanfare).

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit, werde ich auf ein paar Aspekte des Stückes eingehen. Zur äußeren Form möchte gar nicht zu viel sagen. Hier haben wir ein typisches Beispiel der progressiven Entfaltung, die wir bereits aus den letzten Sonaten kennen. Das Stück beginnt mit dem fast schon provozierend einfachen Thema, dessen Melodie auf kleinen und großen Sekundintervallen beruht. Dieses Thema erfährt zwar eine gewisse Entwicklung, es bleibt aber über das gesamte Stück bei diesem einen Thema, das Stück ist also monothematisch und man kann nicht wirklich von weitreichender Gestaltung des Themas reden.

Die progressive Entfaltung erreicht Skrjabin durch mehrere Effekte. Je weiter das Stück voran schreitet, umso höher werden die Register, in denen sich das Stück bewegt, er breitet das Stück also langsam über die gesamte Klaviatur aus. Dann beschleunigt Skrjabin die Figuren des Stückes von Abschnitt zu Abschnitt von der halben Note bis hin zur 32stel in Form des Tremolos.

Figuration.JPG

Auch die Dynamik ändert sich von pp bis ff. Deswegen lässt sich Sabanejews Aussage über die unklare Dynamik des Schlusses nicht ganz nachvollziehen, da ab Takt 107 ganz klar Forte vorgeschrieben ist (Fortissimo für die Akkorde in den tieferen Registern), somit stellt sich auch nicht die Frage, wie Skrjabin sich das Ende dynamisch gedacht hat. Interessant ist, dass viele Pianisten (Ogdon, Sokolov, Zhukov z.B.) die letzten Takte (ab Takt 133) beschleunigen. Ich persönlich finde den Effekt und das Ende allgemein sehr viel eindrucksvoller, wenn nicht beschleunigt wird (Horowitz z.B.) zumal ich auch keine musikalische Indikation für eine Beschleunigung sehen kann.

Die interessanteste Figuration dieses Stückes ist das endlos scheinende Tremolo. Diese flirrende Kette von alternierenden Klängen soll das Feuer symbolisieren und ist ein Element, dass uns so oder so ähnlich auch in den letzten drei Sonaten häufig begegnet. Interessant dabei ist, dass Skrjabin diese Kette zwar tonhöhenmäßig exakt notiert, sie aber dennoch eher als klangfarbliche oder rhythmische Ereignisse zu sehen sind. Das Ohr ist sogar geneigt, diesen Schwirreffekt als tonhöhenmäßig unbestimmt wahrzunehmen. Statt der Tonhöhe sind Farbe, Anschlagart, Rhythmus und Ereignisdichte wichtiger, was er in der 10. Sonate auf die Spitze treiben wird. Skrjabin nutzt das Klavier nicht mehr länger als Instrument, dessen Töne primär durch die Tonhöhe fixiert sind, sondern durch Klang und Rhythmus. Das Klavier wird zum Perkussionsinstrument transzendiert.

Auch harmonisch stellt Skrjabin wieder einiges an. Schaun wir uns mal den Anfang an…

Anfang.JPG

Zu Beginn spaltet Skrjabin den Akkord in funktionelle Gruppen auf. Er startet mit der Terz ais-cis und endet mit e-ais in der linken und gis-d in der echten Hand, also zwei Tritonus-Intervallen. Schaut man sich die verwendeten Töne an erkennt man, dass Skrjabin hier mit dem Klangzentrum auf e (e-gis-ais-d-cis-fis) beginnt (fis kommt ab Takt 3 hinzu). Hier kommt schon der erste interessante Aspekt. Skrjabin bleibt auf den Tritonus-Intervallen „liegen“. In der Dur/Moll-Harmonik wäre dieses Intervall die schärfste Dissonanz und stark auflösungsbedürftig, Skrjabin benutzt aber ausgerechnet dieses Intervall als Ruhepunkt, als eine Art Konstante oder besser gesagt, Skrjabin nutz das Tritonus-Intervall hier konsonant. Das Klangzentrum wird ab Takt 5 um eine kleine Terz nach oben transpositioniert, also nach g und in Takt 11 um eine weitere kleine Terz nach oben, also nach b, womit letztendlich das Ausgangs-Klangzentrum e zum verwandten Klangzentrum b (Tritonusintervall) verschoben wurde. Eine weitere interessante Sache findet sich in Takt 19.

Takt 19.JPG

Der Takt beginnt mit den Tönen h-fis-d-fis also mit einem reinen h-Moll-Dreiklang. Dieser wird allerdings umgehend „aufgelöst“ zum Klangzentrum. Wie kann man Spannung in einem atonalen Stück erzeugen? Hier scheint es fast so, als wenn Skrjabin die Dur/Moll-Harmonik umdreht, also den h-Moll-Dreiklang (beziehungsweise die Quinte h-fis) dissonant und das Klangzentrum bzw. das Tritonusintervall konsonant nutzt. „Dissonanz“ durch Tonalität - Dieses Prinzip wird Skrjabin auch besonders in der 8. Sonate nutzen, wodurch man dort oft einen tonalen Höreindruck erhält.

Interessant sind auch die letzten Takte des Stückes.

Schluss.JPG

In der rechten Hand erklingen weiterhin die Quart-Akkorde, die schon während des Tremolos erklingen. In der linken Hand beginnt ab Takt 133 eine aufsteigende Tonfolge. In Takt 133 und 134 sind das die Töne e-h-gis, also ein reiner E-Dur-Dreiklang. Erst ab Takt 135 wandeln sich diese in die Töne cis-dis-gis, die zum e-Klangzentrum gehören (allerdings mit großer Septime). Wieder dasselbe Spiel – „Dissonanz“ durch Tonalität, die zum Klangzentrum „aufgelöst“ wird. Und tatsächlich verursachen diese letzten Takte ein auflösendes Hörerlebnis.

Unnötig zu erwähnen, dass sowohl die komplizierte Polyrhythmik ab Takt 41 als auch das brutale Tremolo unglaublich schwer zu spiele sind. Sehr interessant ist, wenn man sich mal anschaut, wie Horowitz dieses Stück spielt. Es ist erstaunlich hier zu beobachten, wie viel Horowitz sich bewegen muss und wie angestrengt er dabei aussieht. Das Stück hat es wirklich in sich…

Horowitz - Vers la Flamme


Viele Grüße!
 
Zuletzt bearbeitet:
Die interessanteste Figuration dieses Stückes ist das endlos scheinende Tremolo. Diese flirrende Kette von alternierenden Klängen soll das Feuer symbolisieren und ist ein Element, dass uns so oder so ähnlich auch in den letzten drei Sonaten häufig begegnet.
so lange die Tremoli triolisch laufen, sind sie nicht nur wegen der tückischen Überbindungen im erforderlichen Tempo arg schwierig und oftmals auch unbequem (besonders heikel sind diese Triolen, wenn man sie mit beiden Händen abwechselnd spielt, was gelegentlich sein muss)

die 32stel Tremoli allerdings, obwohl sierascher sind, spielen sich einfacher (Ausdauer vorausgesetzt), sie liegen auch viel bequemer (15 // 24)

manchmal heißt es auch, dieses Poeme seie viel früher konzipiert/entstanden - ganz sicher ist nicht, ob es nach der 10. Sonate komponiert wurde

übrigens: klasse beschrieben hast du das Poeme! :):)

Vers la Flamme und Feu d´Artifice sind aus der Klaviermusik nicht wegzudenken, sind die beiden flammendsten und funkelndsten "Feuerstücke" auf den Tasten
 

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manchmal heißt es auch, dieses Poeme seie viel früher konzipiert/entstanden - ganz sicher ist nicht, ob es nach der 10. Sonate komponiert wurde

Interessant, das war mir nicht bekannt. Ich weiß nicht genau, worauf sich die Behauptung stützt, dass dieses Stück 1914 entstanden ist. (Sabanejew?) Öffentlich hat Skrjabin das Stück ja nie aufgeführt. Die flirrenden Ketten würden sehr gut zu den letzten drei Sonaten passen, das Stück könnte aber genauso gut vor den letzten drei Sonaten entstanden sein. Vielleicht sogar noch früher, denn sowohl bei der 6., als auch bei 7. Sonate verwendet Skrjabin das Klangzentrum mit erniedrigter None, bei Vers la Flamme nicht. In der 8. Sonate, die wohl als letzte der Sonaten fertiggestellt wurde, fehlen die französischen Vortragsbezeichnungen. Bei Vers la Flamme sind diese vorhanden was auch darauf hindeuten könnte, dass das Stück vorher entstanden ist.

Sollte Vers la Flamme wirklich früher komponiert worden sein, macht jedoch Sabanejews Aussage, dass das Stück aus Geldmangel früher veröffentlicht wurde und daher nicht zur Sonate wurde keinen Sinn, denn veröffentlicht wurde es definitiv erst 1914. Vielleicht hat Skrjabin auch die Arbeit 1914 an einer früher entstandenen Skizze fortgeführt...

Ich weiß es leider nicht...

Viele Grüße!
 
Ich habe ein bisschen recherchiert. Im Vorwort der Henle-Ausgabe steht dazu...

"Im Horizont von Skrjabins
Kunstauffassung sollte ein „Feuersturm“
den rauschhaften Höhepunkt
eines musikalischen Erlebnisses bilden
und den Menschen in die Erlösung führen.
Vor diesem Hintergrund ist auch
das Poème Vers la flamme op. 72 mit
seinem großen Spannungsbogen vom
verhaltenen Beginn bis zum klanggewaltigen
Schluss zu interpretieren.
Leonid Sabanejew, einer der ersten
Biographen Skrjabins, besuchte den
Komponisten in dessen letzten Lebensjahren
häufig in Moskau und berichtet
aus dem Jahr 1913: „In diesem Frühling
spielte er [Skrjabin] einige ‚Splitter‘ aus
der Zehnten Sonate und auch aus der
Achten, die damals noch im Entstehen
begriffen war. Aus dieser Zeit stammen
auch die Skizzen zu ‚Vers la flamme‘,
die zunächst gleichfalls für eine Sonate
gedacht waren“ (Erinnerungen an
Skrjabin, Moskau 1925, S. 226; im Original
Russisch). Sabanejew zufolge
spielte Skrjabin ihm während des Entstehungsprozesses
insbesondere den Anfang
von Vers la flamme häufig vor, wo,
wie der Komponist selbst sagte, „alles
allmählich aufblüht … aus dem Nebel
zum blendenden Licht“ (Sabanejew,
Erinnerungen, S. 255).
Einige Skizzen zu Vers la flamme,
möglicherweise darunter diejenigen, von
denen Sabanejew spricht, sind heute
noch erhalten. Sie befinden sich im Moskauer
Glinka-Museum (zu den Quellen
siehe die Bemerkungen am Ende der
vorliegenden Ausgabe). Über diese im
Katalog des Museums verzeichneten
Skizzen hinaus findet sich dort unter
den Entwürfen zur Klaviersonate Nr. 9
op. 68 aus den Jahren 1912/13 ein
frühes Notat des Hauptthemas von Vers
la flamme, das mit „Nr. 10“ überschrieben
ist. Auch auf anderen Skizzenblättern
ist zu beobachten, dass Skrjabin
Themenentwürfe nummerierte, um sie
später leichter identifizieren zu können,
wenn er sie in neue Kompositionen integrieren
wollte. Möglicherweise war
das Thema „Nr. 10“ ursprünglich für
das Mysterium vorgesehen und wurde
erst später zum Ausgangspunkt für das
Poème Vers la flamme..."
 
Hi Troubadix,

ich bin leider etwas zu faul, mich jetzt durch den ganzen Faden zu wühlen, und will deswegen an dieser Stelle fragen, ob du eine Gesamtaufnahme von Skrjabins Sonaten empfehlen kannst.
Mir wurden mal vor einiger Zeit die Aufnahmen von Anatol Ugorski ans Herz gelegt. Die Hörproben auf jpc klingen auch echt sehr schön. Kannst du diese Sammlung weiterempfehlen? Oder hast du einen anderen heimlichen Favoriten.

LG,

Daniel
 
Lieber alibiphysiker,

Die Aufnahmen von Ugorski kenne ich nicht. Ich kenne die Gesamtaufnahmen von Ponti, Ashkenazy und Ogdon. Die kann ich alle empfehlen, da kann man nicht viel falsch machen. Ashkenazy spielt zum Beispiel die 8. Sonate ganz hervorragend, Ponti die 5. Sonate (für mich die beste Einspielung nach Feinberg) und Ogdon die 7. Sonate. Ansonsten hat Rolf mal eine schöne Zusammenstellung von empfehlenswerten Einspielungen gemacht, der ich mich anschließe.

Sonate I - Berman
Sonate II - Zimerman, Pogorelich, Ashkenazy
Sonate III - Margulis
Sonate IV - Shukow, Szidon
Sonate V - Feinberg, Ponti
Sonate VI - Rudy, Shukow, Ponti
Sonate VII - Szidon, Shukow, Ponti
Sonate IX - Horowitz, Margulis,
Sonate X - Horowitz
Vers la flamme - Horowitz

Bei der dritten Sonate kann ich noch die tolle Einspielung von Kissin sehr empfehlen.

Viele Grüße!
 

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