Troubadix
Dorfpolizist
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Herr Busoni meinte dazu...
Hochverehrter Herr Professor!
Von einer langen Abwesenheit zurückgekehrt, fällt mir Ihre interessante Frage: „Sollen die Künstler auswendig spielen?“ erst spät in die Hände; auf Ihre ausdrückliche Aufforderung hin („für etwaige…Zuschriften von Künstlern wäre ich sehr verbunden“) erlaube ich mir Ihnen zu schreiben. Ich bin – ein alter Podiumtreter – zu der Überzeugung gelangt, daß das Auswendigspielen eine unverhältnismäßig größere Freiheit des Vortrages gestattet.
Außerdem muß man das Stück in jedem Fall auswendig können, soll man ihm beim Vortrag die richtige Linienführung verleihen. Ferner – und das wird ihnen jeder fortgeschrittene Klavierspieler bestätigen - ist eine Komposition von einiger Bedeutung schneller ins Gedächtnis gedrungen, als in die Finger oder in den Geist. Die Ausnahmen davon sind sehr selten; ich wüßte im Augenblick nur die Fuge aus Beethovens Sonate op.106 zu nennen.
Allerdings wirkt das „Lampenfieber“, dem jeder mehr oder weniger, seltener oder häufiger ausgesetzt ist, auf die Sicherheit des Gedächtnisses. Aber nicht – wie sie annehmen – das Gedächtnis auf das Lampenfieber. Stellt das Lampenfieber sich ein, so wird der Kopf getrübt, das Gedächtnis schwankt; würde man aber Noten zu Hilfe nehmen, so würde sich das Lampenfieber sofort in einer anderen Form äußern: Treffunsicherheit, Unrhythmik, Tempobeschleunigung.
Sie beklagen sich, daß es Künstler gibt, die „mit einem halben Dutzend von Konzerten ihr Leben lang hausieren gehen“ und führen diese Erscheinung indirekt auf das Auswendigspielen zurück. Andererseits verfügt Herr R. Pugno, den sie als gutes Beispiel des Blattspieles anführen, über eine nicht größere Anzahl von Klavierkonzerten in seinem Repertoire.
Wenn ich mir erlauben darf Ihnen eine Erklärung zu geben, so lautet sie folgenderweise: Es gibt Künstler, die das Instrument und den musikalischen Apparat als ein Ganzes erlernen – und Künstler, die einzelne Passagen und einzelne Stücke einzeln sich zu eigen machen. Diesen letzteren ist jedes Stück ein neues Problem, das mühsam von Anfang an wieder gelöst werden soll; sie müssen zu jedem Schloß einen neuen Schlüssel konstruieren.
Die Erstgenannten sind Schlosser, die mit einem Bündel von wenigen Dietrichen und Nachschlüsseln das Geheimnis irgendeines Schlosses bald übersehen und besiegen. Das bezieht sich sowohl auf die Technik, als auf den musikalischen Gehalt, als auch auf das Gedächtnis. Hat man z.B. den Schlüssel zu der Lisztschen Passagentechnik, zu dessen Modulations- und Harmoniesystem, zu dessen formellem Aufbau (wo liegt die Steigerung? wo der Höhepunkt?) und zu dessen Empfindungsstil, so ist es gleich, ob man drei oder dreißig seiner Stücke spielt. Daß das keine Phrase ist, glaube ich bewiesen zu haben.
Die neue Aufgabe für das Gedächtnis tritt – verhältnismäßig – ein, wenn man sich mit einem Komponisten befaßt, einer Nation, Epoche, Richtung, zu der man den allgemeinen Schlüssel noch nicht verfertigt hat. So ging es mir die ersten Male, als ich César Franck versuchte.
So komme ich zu dem Schluß: wer zum öffentlichen Spiel berufen ist, dem ist das Gedächtnis ebenso wenig hinderlich als z.B. das große Publikum selbst. Wem aber das Auswendigspielen eine Barrière bildet, der wird auch in allem übrigen ein Zögernder sein. Der erste spielt die Literatur vor, der zweite wählt einige Stücke, um sich selbst hören zu lassen. Damit ist der Frage eine ganz andere Drehung gegeben, nämlich diese: „wo liegt der Punkt, an dem die Berechtigung des Öffentlich-Spielens beginnt?“
Hochverehrter Herr Professor!
Von einer langen Abwesenheit zurückgekehrt, fällt mir Ihre interessante Frage: „Sollen die Künstler auswendig spielen?“ erst spät in die Hände; auf Ihre ausdrückliche Aufforderung hin („für etwaige…Zuschriften von Künstlern wäre ich sehr verbunden“) erlaube ich mir Ihnen zu schreiben. Ich bin – ein alter Podiumtreter – zu der Überzeugung gelangt, daß das Auswendigspielen eine unverhältnismäßig größere Freiheit des Vortrages gestattet.
Außerdem muß man das Stück in jedem Fall auswendig können, soll man ihm beim Vortrag die richtige Linienführung verleihen. Ferner – und das wird ihnen jeder fortgeschrittene Klavierspieler bestätigen - ist eine Komposition von einiger Bedeutung schneller ins Gedächtnis gedrungen, als in die Finger oder in den Geist. Die Ausnahmen davon sind sehr selten; ich wüßte im Augenblick nur die Fuge aus Beethovens Sonate op.106 zu nennen.
Allerdings wirkt das „Lampenfieber“, dem jeder mehr oder weniger, seltener oder häufiger ausgesetzt ist, auf die Sicherheit des Gedächtnisses. Aber nicht – wie sie annehmen – das Gedächtnis auf das Lampenfieber. Stellt das Lampenfieber sich ein, so wird der Kopf getrübt, das Gedächtnis schwankt; würde man aber Noten zu Hilfe nehmen, so würde sich das Lampenfieber sofort in einer anderen Form äußern: Treffunsicherheit, Unrhythmik, Tempobeschleunigung.
Sie beklagen sich, daß es Künstler gibt, die „mit einem halben Dutzend von Konzerten ihr Leben lang hausieren gehen“ und führen diese Erscheinung indirekt auf das Auswendigspielen zurück. Andererseits verfügt Herr R. Pugno, den sie als gutes Beispiel des Blattspieles anführen, über eine nicht größere Anzahl von Klavierkonzerten in seinem Repertoire.
Wenn ich mir erlauben darf Ihnen eine Erklärung zu geben, so lautet sie folgenderweise: Es gibt Künstler, die das Instrument und den musikalischen Apparat als ein Ganzes erlernen – und Künstler, die einzelne Passagen und einzelne Stücke einzeln sich zu eigen machen. Diesen letzteren ist jedes Stück ein neues Problem, das mühsam von Anfang an wieder gelöst werden soll; sie müssen zu jedem Schloß einen neuen Schlüssel konstruieren.
Die Erstgenannten sind Schlosser, die mit einem Bündel von wenigen Dietrichen und Nachschlüsseln das Geheimnis irgendeines Schlosses bald übersehen und besiegen. Das bezieht sich sowohl auf die Technik, als auf den musikalischen Gehalt, als auch auf das Gedächtnis. Hat man z.B. den Schlüssel zu der Lisztschen Passagentechnik, zu dessen Modulations- und Harmoniesystem, zu dessen formellem Aufbau (wo liegt die Steigerung? wo der Höhepunkt?) und zu dessen Empfindungsstil, so ist es gleich, ob man drei oder dreißig seiner Stücke spielt. Daß das keine Phrase ist, glaube ich bewiesen zu haben.
Die neue Aufgabe für das Gedächtnis tritt – verhältnismäßig – ein, wenn man sich mit einem Komponisten befaßt, einer Nation, Epoche, Richtung, zu der man den allgemeinen Schlüssel noch nicht verfertigt hat. So ging es mir die ersten Male, als ich César Franck versuchte.
So komme ich zu dem Schluß: wer zum öffentlichen Spiel berufen ist, dem ist das Gedächtnis ebenso wenig hinderlich als z.B. das große Publikum selbst. Wem aber das Auswendigspielen eine Barrière bildet, der wird auch in allem übrigen ein Zögernder sein. Der erste spielt die Literatur vor, der zweite wählt einige Stücke, um sich selbst hören zu lassen. Damit ist der Frage eine ganz andere Drehung gegeben, nämlich diese: „wo liegt der Punkt, an dem die Berechtigung des Öffentlich-Spielens beginnt?“