Lieber Friedrich,
herzlichen Dank für deine Antwort, die Klarheit schafft (zumindest für mich :D ).
Ich hatte ja weiter oben diesen Text verlinkt
http://www.hermann-keller.org/aufsa...zeitungen/1929artikulationundphrasierung.html und ich zitiere daraus:
"Ich muß da aber doch zuerst die Begriffe nochmals genauer umreißen, wie ich sie verstehe: Phrasierung (übereinstimmend mit Wiehmayer) als die Lehre davon, wie musikalische Phrasen zusammenhängen, sich (in unregelmäßigen Fällen) gegenseitig überschneiden, verschränken, verketten usw. Unter „Phrase" versteht Wiehmayer eine Tonfolge, die einen Anfang und ein Ende für sich hat, und eine leicht übersehbare Größe (a. a. O., S. 84). Dieser Definition möchte ich heute etwas zufügen: so, wie es in der Sprache keinen Satz gibt ohne Verbum, so in der Musik keine Phrase ohne einen harmonischen Vorgang. Also: eine Tonfolge im gebrochenen c-dur-Akkord ist keine Phrase, auch wenn sie einen deutlichen Anfang und Ende hat und leicht übersehbar ist. Vielmehr, daß etwas geschieht, daß der Satz einen „Inhalt" hat, wird, wie in der Sprache durch die Verbalkonstruktion, so in der Musik einzig durch die Harmonik bewirkt, meist in Form einer (vollständigen oder unvollständigen) Cadenz."
Ich sehe schon Analogien zur Sprache und deinem griechischen Beispiel (und auch zu deinem Schulwissen :)). Allerdings ist der
Zeitraum, den ein musikalisches Thema einnimmt (das Thema wäre ja analog zu deinem kompletten Satz), in der Musik erheblich größer als die Zeit, die das Sprechen deines griechischen Satzes benötigt. Ein Thema hat in der Regel mindestens 8 Takte und die dauern eben normalerweise in der Ausführung länger als dein Satz. Das bedeutet aber auch, dass man im Notentext die Räume erweitern muss - so ein griechischer Satz nimmt satz- und lesetechnisch nicht so viel Platz ein wie 8 oder mehr Takte eines Themas.
Es braucht trotzdem einiges an Erfahrung, um Phrasen, Themen, Motiven zu erkennen und ich beginne bei Schülern damit, dass sie Gleiches und Ähnliches wiederfinden sollen. Meistens beginnt ein Stück mit dem Thema (oder einer Einleitung) und wenn man dann das Stück auf diese Weise durchforstet, erkennt man die Themenanfänge und hat schon einmal wichtige Anhaltspunkte für den Beginn von Phrasen. Vom Großen zum Kleinen. Im Übrigen gibt es ja durchaus von Komponisten gesetzte Phrasierungsbögen, die uns Hinweise auf die Gestaltung von Phrasen geben.
Bevor ich zu deinem Beispiel komme, möchte ich noch ein Missverständnis (so glaube ich) aufklären. Du schreibst:
Wenn das so ist, kann die Phrase aber vom Grundrhythmus des Taktes völlig unabhängig sein, nicht war? Wo liegt dann der Zusammenhang zwischen Phrase und Takt, von dem ihr da redet?
Ich würde aus meiner Perspektive sagen, dass die Phrase nie unabhängig vom Metrum sein kann, denn das Metrum ist immer "da" und spürbar, allerdings kann - und das meintest du ja - die Phrase auch gegen das Metrum sein. Zudem ist es auch kein Zufall, dass Phrasen oft eine gerade Anzahl von Takten dauern, wenn man mal von Übergänge, Überleitungen, Schnitten etc., die Schnittstellen zwischen zwei Phrasen bilden können (s. obiges Zitat), absieht. Da eine Phrase, eine Melodie, sich immer auch auf die Zeit bezieht, in der sie verläuft, und das Metrum eine Art Gliederung dieser Zeit darstellt, gibt es m.E. keine wirkliche Unabhängigkeit.
Als ich von dem Bezug auf das Metrum sprach, sprach ich von der
Phrasierung! Wie man also eine bereits als solche erkannte Phrase gestaltet. Phrasierung erfolgt in zwei grundsätzlichen Schritten: erst die "Interpunktion" setzen, also die Struktur und Form kenntlich machen (Themen, Phrasen, Motive..... ), dann die Phrasen gestalten (Höhepunkte/Ziele setzen, Spannungverläufe untersuchen, Intervalle etc.). Der zweite Schritt, der wie gesagt immer mehrere Lösungen beinhaltet, benötigt zu dieser Lösung auch die Einbeziehung der metrischen Aspekte. Höhepunkte sind oft auf betonten Taktzeiten zu finden, selten z.B. auf einer 1+, es sei denn, es handelte sich um eine Synkope, die eine bewusste rhythmische Verschiebung gegenüber dem Metrum darstellt.
Nun zu deinem Beispiel.
Es zeigt gut, dass man ohne den Kontext eine Phrase schwer als solche beurteilen kann, wobei hier natürlich ein Phrasierungsbogen (falls es Urtext ist) bereits vorhanden ist. Ich musste mir aber erst mal den Anfang komplett ansehen
http://imslp.org/wiki/Symphony_in_D_minor_(Franck,_César - einfach auf "View" klicken, dann wird der Anfang sofort angezeigt) .
Da wird dann schon Einiges klarer. Der Satz beginnt mit einer Einleitung, dann wird das Thema von den Celli und Fagotten vorgestellt. Nun scheinst du dir unsicher zu sein, was denn hier nun Phrase und was Thema ist. Da könntest du dir den Notentext der nächsten Seiten anschauen, nach dem oben erwähnten System "wo tritt der Anfang dieses Themas wieder auf?". Und heureka, was stellst du fest? 8 Takte (nanu :D) später wird es von denselben Instrumenten wiederholt (mit dem kleinen Detail der vorweggenommenen Synkope zu Beginn). Der von dir hier verlinkte Abschnitt dauert vier Takte, er ist mit einem Phrasierungsbogen gekennzeichnet und endet mit einer Pause, die als Zäsur oder Atemzeichen fungiert. Da bin ich natürlich auf die nächsten vier Takte gespannt (danach beginnt ja wieder der Anfang deines Abschnitts). Es geht anders weiter, die im Wesentlichen vorher abwärts geführte Melodie schwingt sich wieder auf, besteht hier allerdings aus zwei Teilen, von dem der zweite eine Sequenz des ersten ist.
Bevor ich mir nun ein Urteil bilde (ich habe bereits eine Vermutung, dass es sich um ein achttaktiges Thema handeln könnte, bestehend aus zwei Phrasen, wobei man die zweite Phrase mit den zwei Sequenzen auch als zwei kleine Phrasen ansehen könnte, die ich aber eher als Motive empfinde), schaue ich mir die Entwicklung weiter an: wie ist es denn bei der Wiederholung des Themas ab T. 15? Aha, da wird der zweite Teil des Themas, also die zweite Phrase von den 1. Geigen weiter geführt, allerdings etwas verändert. Das bestärkt mich in meiner Vermutung 2 x 4 Takte. Dann interessiert mich, was nach diesem Teil passiert. Und ich sehe, dass Franck den Bogen bis T.37, dem neuerlichen Beginn des Themas, weiter spannt mit der Entwicklung des sequenzierten Motivs, bis dann T. 37 volles Rohr das Thema wieder erscheint.
Ich denke also zunächst, dass es sich um ein achttaktiges Thema mit zwei Phrasen, handelt, allerdings würde ich mir normalerweise immer erst die Großform anschauen, was mir hier zuviel Arbeit ist :) , denn es ist auch möglich, dass es sich um eine 16-taktiges Thema o.ä. handeln könnte (ich kenne die Symphonie nicht gut genug, um aus dem Kopf das beurteilen zu können). Sinnvoll und wichtig in dem Zusammenhang sind Grundkenntnisse von Perioden und Sätzen
http://de.wikipedia.org/wiki/Periode_(Musik) .
Die Bildung der Phrasen und Themen ergibt sich also immer aus dem Kontext.
Wenn ich nun zum zweiten Schritt der Phrasierung, der Gestaltung der Phrasen komme, schaue ich mir also die von dir zitierte Phrase an. Was fällt auf? Synkopen, gleich zwei an der Zahl sind vorhanden und sie bilden deshalb die Höhepunkte der Phrase. Allerdings ohne - wir sagten es schon - dass sie "betont" werden (wobei Synkopen aufgrund ihres Wesens mehr hervorgehoben werden als "normale" Höhepunkte und man in diesem Fall ausnahmsweise von Betonungen sprechen kann). Aber auch hier sind nicht die anderen Töne leise und bloß die Synkopen betont, sondern die Intervalle müssen gehört und wahrgenommen werden und die Synkopen gliedern sich in den Melodieverlauf mit leiseren und lauteren Tönen, mit unterschiedlichen Spannungsverläufen ein. Ein unter Schülern beliebter Fehler, wenn ich das mal so sagen darf, ist z.B., das a nach der ersten Synkope viel zu laut zu spielen anstatt zu hören, wie die Synkope leiser wird und sich das a da dynamisch anschließen sollte, zudem der weitere Verlauf von dem leisen a auf die nächste Synkope zusteuert. Die Phrase endet in einem decresc. und interessant finde ich, dass der zweite Teil des Themas, also die nächste Phrase, auf dem gleichen Ton A der vorherigen Synkope beginnt und so eine Verbindung hergestellt wird. Von diesem A nun geht es zum sogar vom Komponisten vorgeschriebenen (falls Urtext) Höhepunkt H auf der nächsten "1". Hurra, wir haben eine "1" als Höhepunkt (vorher nicht)! Man würde aber auch ohne die cresc.-Angabe das H als Höhepunkt spielen, da es eine Halbe (längster Notenwert) ist, auf der 1. Taktzeit steht und sich die Melodie dorthin nach der auftaktigen Abwärtsbewegung aufschwingt (einziges aufwärtsstrebendes Intervall einer Quarte) und danach sich wieder in einer abwärts gerichteten Sekunde entspannt. Die Sequenz dann ähnlich, wobei es eine Intensivierung erfährt, weil nun das aufwärtsstrebende Intervall größer, eine kleine Sexte ist und die Sequenz höher komponiert ist.
Ich habe jetzt meine persönliche Herangehensweise beschrieben in der Hoffnung, dass es nicht zu kompliziert ist, sondern deinem Wunsch entgegen kommt. Für mich ist das immer wie eine Entdeckungsreise: komme ich in ein unbekanntes Land, sehe ich auch erst die großen Eindrücke und dann die Details und es ist so spannend, zu sehen, hören, zu beobachten und wahrzunehmen, wie sich das Unbekannte nach und nach auflöst und zu etwas Vertrautem wird, das man in diesem Fall selbst gestalten darf. Dazu muss man erkennen, was IST.
Liebe Grüße
chiarina