Ich finde das eher deprimierend irgendwas zu spielen, was eigentlich nicht gefällt. Woher weisst du, dass du "richtig" spielst?
Ich greife diesen Punkt nochmal auf, woher man denn beim Vom-Blatt-Spiel weiß, dass man "richtig" spielt, weil ich glaube, dass hier ein wesentlicher Aspekt des Vom-Blatt-Spiels drinsteckt.
Woher weiß ich beim täglichen "normalen" Üben eines Stücks, ob das richtig ist, was ich da spiele?
Erste Möglichkeit: Entweder ich habe eine konkrete Klangvorstellung im Kopf und sehe den Noten direkt an, wie etwas zu klingen hat (und wie nicht), und wenn ich dann mit den Fingern was "falsches" mache, höre ich sofort, dass ich etwas anderes spiele als da auf dem Papier steht.
Zweite Möglichkeit: Ich habe keine Klangvorstellung. Dann bleibt mir nur, die Noten anzuschauen und ein Motiv/Akkord/etc. zu sehen, dann die Tasten anzuschauen und schließlich die Finger auf die zum Motiv/Akkord/etc. zugehörigen Tasten zu drücken. Ziemlich mühsam, langsam und ineffektiv.
Bei den meisten Leuten werden die Fähigkeiten irgendwo zwischen diesen beiden Möglichkeiten liegen. Soll heißen, jemand kann z.B. eine einstimmige Melodie vom Blatt lesen und in eine Klangvorstellung umsetzen, aber kann mit einem vollgriffigen akkordischen Satz nichts anfangen, oder mit einer Bachfuge, etc.
Alle Graustufen an Können sind denkbar, und über die Jahre nähert man sich optimalerweise eben von zweiter Möglichkeit ausgehend immer weiter an die erste Möglichkeit an und optimiert das dann weiter.
Beim Vom-Blatt-Spiel geht es aus meiner eigenen persönlichen Erfahrung darum, in Echtzeit bzw. sogar vorausschauend eine Klangvorstellung vom Notentext zu haben, den man gerade liest. Also die oben genannte "Erste Möglichkeit" durch Musik Hören/Lesen/Spielen/Üben/Analysieren erworben und so gut wie möglich optimiert zu haben. Zusätzlich muss man die Fähigkeit haben, ohne Blicke auf die Tasten (bzw. mit möglichst wenigen) eine Klangvorstellung mit den Fingern umsetzen zu können. Unabhängig davon, ob die Klangvorstellung gerade von einem abgelesenen Notentext stammt, oder "einfach so" aus anderen Gründen im Kopf ist.
Wenn man beide Fähigkeiten (also die sofortige Umsetzung "Noten --> Klangvorstellung" und "Klangvorstellung --> Finger") besitzt, dann gelingt das Vom-Blatt-Spiel in vielen Situationen recht gut. Für einen außenstehenden Beobachter blickt der Klavierspieler beim Vom-Blatt-Spiel offensichtlich mit den Augen auf die Noten und drückt mit den Fingern auf die Tasten, aber die eigentliche Schlüsselleistung übernehmen weder Augen noch Finger, sondern eben die Klangvorstellung (und deren Überprüfung durch die Ohren), ohne die es nicht funktionieren kann, weil sie quasi die Schnittstelle zwischen Augen und Fingern ist.
Wenn man beim Vom-Blatt-Spiel danebengreift, dann schreiten die Ohren sofort ein. Sie hören, dass die Klangvorstellung nicht mit dem Gespielten übereinstimmt. In vielen Fällen werden die Finger dann aber spätestens zwei Töne später wieder von der Klangvorstellung in die richtige Spur gelenkt. Ich vermute nebenbei, dass Absoluthören hierbei einige Dinge einfacher macht, aber nicht zwingend notwendig ist.
Fazit: Je besser man seine Klangvorstellung schult, desto besser klappt dann auch das Vom-Blatt-Spiel. So meine persönliche
Meinung (nicht Wissen) als fortgeschrittener Amateur zu diesem Thema.
Zum Schluss noch ein verdeutlichendes Beispiel: Ich bin ein halbwegs passabler Vom-Blatt-Spieler. Wenn mir aber ein manuell nicht zu fürchterlich schwieriges Stück über den Weg läuft (heißt: eines, das rein manuell vom Blatt im Rahmen der eigenen Fähigkeiten liegt), von dem ich beim Notenlesen aber wenig Klangvorstellung habe, dann kann ich das auch nicht vom Blatt spielen. So ein Beispiel wäre z.B. die Sonate von Alban Berg. Ich habe mehrmals sehr erfolglos versucht, die Sonate in verringertem Tempo vom Blatt zu spielen - ein absolut chancenloses Unterfangen für mich, wenn ich den Rhythmus und das Tempo nicht komplett über Bord werfen möchte. Das ist dann stellenweise wirklich eine Sucherei "Ton für Ton" - weil mir eben die Klangvorstellung beim Anblick der notierten Stimm- bzw. Harmonieverläufe mangels ausreichender Erfahrung mit solcher Musik fehlt.