Das Grundproblem scheint mir hier zu sein, dass es einige gibt, die mit ihrer momentanen Art des Musizierens vollkommen zufrieden sind, obwohl sie ohne analytische Methoden an ein Stück herangehen bzw. sich hauptsächlich auf ihren intuitiven Zugang verlassen. Aufgrund dieser Erfahrung wird also die Notwendigkeit einer Analyse, zumindest für Amateure abgesprochen und behauptet, man könne dann ein Werk im schlimmsten Fall nicht mehr genießen, weil man es seziert hat und das Werk nun nicht mehr um des Werkes willen bewundert. Drum besser wär', wer nichts verstünde.
Dagegen lässt sich nur schwer argumentieren. Wie soll man jemandem von einem vermeintlich mühsamen Aufwand überzeugen, wenn man doch schon ohne völlig zufrieden ist und sogar meint, das der Genuss darunter leiden könnte?
Ich kann nur sagen, wie es mir geht. Es geht hier nicht um einen Kartentrick der seine Faszination verliert wenn man weiß, wie er geht. Durch analytische Methoden (manchmal habe ich das Gefühl, die Sache wird nur zu gerne auf die Funktionsanalyse beschränkt) wurde es mir nicht nur möglich, Stücke schneller und effizienter zu lernen, ich kann auch viel mehr aus ihnen herausziehen. Ich erkenne mehr und kann tatsächlich mehr genießen. Das soll nicht heißen, dass ich nun überragend spiele, aber ich weiß mit Sicherheit, dass es mir ohne dieses Wissen deutlich schlechter beim Spielen oder Erlernen gehen würde.
Zum Genießen: Ich habe mich so ausführlich, wie es mir möglich war mit der Todesverkündigung der Walküre auseinandergesetzt. Trotzdem bekomme ich immer noch eine Gänsehaut, wenn die Tuben loslegen. Die Szene hat nicht die geringste Faszination für mich verloren. Tatsächlich finde ich sie nun noch faszinierender, weil ich einfach mehr wahrnehme, als vorher.
Ich habe mich relativ ausführlich mit op.110 auseinandergesetzt, weit mehr, als mit jeder anderen Beethoven-Sonate. Dennoch ist es immer noch meine Lieblingssonate und ich genieße jede Sekunde von ihr, egal ob selber spielend oder als Zuhörer. Der Genuss hat sich durch mehr Erkenntnis bei mir auch hier erhöht. Die Bewunderung für das Werk und nicht nur für die Werkzeuge, ist bei mir völlig ungetrübt.
Was soll man also dazu groß noch sagen. Wem daran gelegen ist, Stücke besser zu verstehen, wer den Zeitaufwand für das Erlernen eines Stückes reduzieren möchte, für den könnte das analytische Herangehen an ein Musikstück interessant sein und neue Möglichkeiten schaffen. Wer darauf keinen Wert legt, auch so zufrieden ist oder sogar Angst hat, er könne dadurch die Faszination für ein Meisterwerk verlieren, der lässt es eben bleiben.
Zum Schluss noch ein schönes Zitat.
Es gibt Künstler, die das Instrument und den musikalischen Apparat als ein Ganzes erlernen – und Künstler, die einzelne Passagen und einzelne Stücke einzeln sich zu eigen machen. Diesen letzteren ist jedes Stück ein neues Problem, das mühsam von Anfang an wieder gelöst werden soll; sie müssen zu jedem Schloß einen neuen Schlüssel konstruieren.
Die Erstgenannten sind Schlosser, die mit einem Bündel von wenigen Dietrichen und Nachschlüsseln das Geheimnis irgendeines Schlosses bald übersehen und besiegen. Das bezieht sich sowohl auf die Technik, als auf den musikalischen Gehalt, als auch auf das Gedächtnis. Hat man z.B. den Schlüssel zu der Lisztschen Passagentechnik, zu dessen Modulations- und Harmoniesystem, zu dessen formellem Aufbau (wo liegt die Steigerung? wo der Höhepunkt?) und zu dessen Empfindungsstil, so ist es gleich, ob man drei oder dreißig seiner Stücke spielt. Daß das keine Phrase ist, glaube ich bewiesen zu haben.
F. Busoni
Viele Grüße!