Hm, wahrscheinlich weiß ich nicht mal (mehr) 50 % aller Grammatikregeln. Und habe bestimmt nicht mehr als 80 % jemals gekannt. Schon gar nicht vor der Schulausbildung. Trotzdem konnte ich bereits vor der Einschulung in korrekten Sätzen sprechen, wenn ich denen glauben darf, die damals schon dabei waren. Für mich war Grammatik immer "aufgepfropft", obwohl mir schon klar war, dass diese zu den Grundlagen der Sprache gehört.
[an anderer Stelle]
Und ich bezweifele auch, dass der Sprachunterricht mich da viel weiter gebracht hat. Viel wichtiger war für mich, mit Menschen zu tun gehabt zu haben, die ordentlich sprechen, Bücher gelesen zu haben, die in guter Sprache geschrieben worden sind....
Bitte um Vergebung für einen verspäteten Einwurf - verspätet, da ich grad erst aus dem Urlaub zurückkomme:
Vielleicht müssen wir an dieser Stelle zwei Dinge auseinander halten, nämlich (1) Erstsprachen- und Fremdsprachenerwerb und (2) Grammatik und ihre Spezialform Schulgrammatik.
(1) Lieber Gubu, ich nehme an, daß Du den Muttersprachenerwerb im Sinne hast. Sollte Dir aber tatsächlich Grammatik beim Fremdsprachenerwerb nichts genutzt haben, hattest Du entweder eine schlechte Schulgrammatik (derer gibt es leider gar viele) oder einen schlechten Lehrer oder beides. Die verbreitete Vorstellung, daß man Spracherwerb auf einen Grundwortschatz und Reproduktion von Phrasen reduzieren kann, führt zu eben dem, was sich als Touristen-Pidgin an den Stränden Südeuropas den verblüfften Ureinwohnern in seiner ganzen Komik präsentiert.
Muttersprachliches Lernen beruht natürlich in erster Linie (um eine komplexe Frage brutal zu verkürzen) auf Mimesis. Für fremdsprachliches Lernen könnte man sich das auch vorstellen (z.B. durch sog. "Immersion" im frühen Kindesalter), aber in in "fortgeschrittenem" Alter muß man schon aus Gründen der Ökonomie zunehmend auf kognitive Strategien ausweichen, v.a. wenn es um grammatische Erscheinungen geht, die in der eigenen Sprache nicht vorhanden sind. Nehmen wir zwei simple Beispiele, die im Dt. gegenüber anderen Sprachen schwach entwickelt sind, nämlich Nominalsätze und den verbalen Aspekt. Ein deutscher Muttersprachler wird den Unterschied zwischen den Mustern
flying planes are dangerous
flying planes is dangerous
viel schneller als durch
pattern drill alten Stils und für alle vergleichbaren Fälle kapieren, wenn man ihm einmal auseinandergesetzt hat, daß die Verbkongruenz im ersten Fall die Interpretation des Nominals als Gegenstandsbezeichnung ("fliegende Flugzeuge"), im zweiten Fall als Nominalsatz ("Das Fliegen von Flugzeugen") erzwingt (klar - man man das kindgerechter sagen, als ich es hier getan habe). Und erst wenn man ihm bewußt gemacht hat, daß das Neugriechische einen Unterschied zwischen einem grammatischen perfektiven und imperfektiven Aspekt macht, von dem im Deutschen keine Spur vorhanden ist, wird er kapieren, warum der Kellner beim Griechen fein lächelt, wenn jemand seine VHS-Kenntnise bei der Begleichung der Rechnung mit den Worten
tha pliróno demonstriert (statt dem korrekten
tha pliróso); denn er hat dem Kellner soeben versprochen, ihn nicht nur jetzt, sondern immerdar für die verbrutzelte Moussaka zu entlohnen.
Die Lieblingsidee wohlmeinender Pädagogen und ihrer VHS-Klientel ist natürlich, daß man auf die lästige Grammatik möglichst verzichten solle und wolle. Tatsächlich kann das, wie die Existenz von Pidgin- und Kreolsprachen zeigt, bis zu einem gewissen Grade auch funktionieren. Allerdings geht es auch da nicht ganz ohne. Schauen wir uns einen viel zitierten Satz aus einer solchen vermeintlich grammatiklosen Sprache an (Tok Pisin, eine in Neuguinea verbreitete Kreolsprache):
Mi nidim dokta (
ich brauche einen Doktor)
Von seiner Basis, dem Englischen, hat Tok Pisin zwei grammatische Eigenschaften übernommen, nämlich die SVO-Wortstellung und das Personalpronomen; zusätzlich entwickelt es ein Transitivierungsmorphem -im (nidim < need him). So wenig Grammatik haben wir da also gar nicht, und ohne elementare Syntax funktionieren solche Sprache auch nicht, obwohl sie eigentlich nur für sehr spezielle Kommunikationssituationen wie den Handel "gemacht" sind.
(2) Die Gleichsetzung von Grammatik = Normgrammatik / Schulgrammatik ist ein unter PfarrerInnen, JuristInnen und KlavierlehrerInnen, Leuten also, die sich einer stark normorientierten Sprache befleißigen (müssen), weitverbreitetes Mißverständnis. Schulgrammatiken sind pädagogisch reduzierte Grammatiken, die auf der Basis eines zeitlich und idiomatisch beschränkten Corpus "Regeln" erstellen und alles andere in die "Ausnahmen" verbannen. Natürlich braucht man derlei, aber mehr als oft sind diese Fibeln deporabel schlecht, da die Verfasser mangels Kenntnissen der modernen Sprachwissenschaft dazu neigen, alte Grammatiken zu verdünnen und mit Bildchen zu garnieren (die "neueste" dt. Schulsyntax meiner Kinder war im Kern immer noch ein Anwendungsfall des Becker-Herlingschen Satzgliedsystems aus den 30er Jahren den 19. (!) Jh). Mit Grammatik im eigentlichen Sinn hat das nichts zu tun. Die beschreibt einfach alle nicht-lexikalischen Komponenten von Sprachen und beobachtet, wie sie sich diachron entwickeln und wieder untergehen, wobei die "Ausnahmen" oft interessanter sind als die "Regeln". Sie hat also zunächst ein rein kognitives Interesse und ist damit so etwas wie eine Minderschwester der Philosophie (historisch gesehen ist sie das tatsächlich), die einfach über etwas nachdenkt, was einem im Leben so begegnet. Nutzanwendungen des Nachdenkens sind natürlich nicht ausgeschlossen, wie z.B. die Geschichte der Maschinenübersetzung zeigt, welche die IBM-Leute ja ursprünglich frohgemut ohne die Linguisten in den Griff kriegen wollten.
In der Antike bestand das Trivium der Sieben Freien Künste aus Grammatik, Rhethorik und Dialektik/Logik. Ich glaube nicht, dass das Eine ohne das Andere geht.
Dialektik in diesem System gehört nicht zur Grammatik, sondern beschäftigt sich mit "Alltagslogik" und Argumentationsstrategien. Dialektik "geht" also nicht ohne Grammatik, das Umgekehrte aber schon.
Bitte um Vergebung, daß ich der fränkischen Nationaltugend gehuldigt habe - der Abschweifung.
Grüße,
Friedrich