(1) Ist das denn wirklich schon wieder widerlegt? Ich kann mich noch erinnern, dass eine Linguistin mir vor ca. 10 Jahren erzählt hat, Studien hätten ergeben, dass Fremdsprachen ohne die Vermittlung expliziter Grammatikregeln besser gelernt werden würden.
(2) Die letzte Aussage finde ich überraschend. Für mich war die Linguistik bisher eigentlich eine empirische Wissenschaft und steht daher den Naturwissenschaften (auch methodisch) viel näher als die Philosophie oder andere Geisteswissenschaften.
Liebe Nica,
zu (1): mit den Begriffen der Widerlegung oder des Beweises kann man hier schlecht operieren, denn vieles hängt ja vom definierten Ziel des Unterrichts ab. Die gegenwärtige Fremdsprachendidaktik stellt die Fähigkeit zur Alltagskommunikation über alles, wobei traditionelle Fähigkeiten wie sprachliche Korrektheit als vernachlässigbar betrachtet werden. In einem solchen Kontext mag man sagen können, daß für nicht wenig Schüler (sicher aber nicht für die kognitiv orientierten) "grammatikfernes" Sprachlernen
einfacher ist. Allerdings hat dieser Ansatz kuriose Konsequenzen: Schon in der Schule entsteht so ein Konflikt mit dem Anspruch, auch die
Literatur des jeweiligen Kulturkreises zu vermitteln. Die Lösungsansätze dafür darf man getrost als Mogelei bezeichnen. In einer offiziellen bayr. Handreichung zum Italienischunterricht wird das Problem bemerkt und konstatiert, daß man weder Dante noch Leopardi mit derlei Sprachkenntnissen lesen könne, und sodann frohgemut gefolgert: "dann lesen wir eben Trivialliteratur". Erinnert irgendwie an den antiken Kalauer "Was tust Du, wenn Du dieses Problem nicht lösen kannst? :: Dann geh ich hin und häng mich auf." Eine zweite Konsequenz ist, daß Leute, die im Studium Literatur in einer bestimmten Sprache lesen oder gar in sie übersetzen müssen, großen Schwierigkeiten und einen enormen Nachholbedarf haben. Ich mußte vor einiger Zeit für Neuphilologen ein Seminar geben zum Thema (s.u.) Grammatikentwicklung aus der philosophischen Logik, und die verfügbaren dt. Aristotelesübersetzungen waren, naja, so, daß schon die alten Römer zu ihnen gesagt hätten "O Übersetzung". Hilfsweise habe ich die Verwendung der klaren und präzisen Oxfordübersetzung vorgeschlagen - tja, keiner der Leute, die z.T. 9 Jahre Englischunterricht hatten, konnte sie auch nur annähernd verstehen. Und u.a. aus diesen Gründen halte ich einen kognitiv basierten und mit einem gewissen Quantum an metasprachlicher Reflexion versehenen Sprachunterricht wenigstens an der Uni für unerläßlich.
(2) Nun, das hängt von dem Verständnis ab, das man von Philosophie hat. Heutzutage identifiziert man sie meist mit Ethik, allenfalls noch mit Erkenntnistheorie. In der Antike umfaßt sie bekanntlich Physik, Logik und Ethik. Die antike Linguistik ist eine Minderschwester der Logik, und es waren die Philosophen, namentlich die Stoiker, die sie zuerst betrieben haben: das was wir als "Satzglieder" kennen, sind Übertragungen von der Prädikatenlogik (die Unterscheidung von hypokeimenon - kategoroumenon / subiectum - praedicatum) oder der aristotelischen "Kategorien" (z.B. die zwischen relationalen und absoluten Ausdrücken und die Semantik der Adverbialien) auf die Sprachbeschreibung (wer Lust hat, schnell mal 700 Seiten zu lesen, findet Neues dazu bei Stephanos Matthaios, Untersuchungen zur Grammatik Aristarchs). In der Neuzeit ist die Linguistik aber weniger spekulativ und mehr empirisch geworden, z.B. dadurch daß man mit Corpora arbeitet, mit diachronen Daten und mit Daten, die vom normativen Standard abweichen. Insofern würde ich auch sagen, daß Linguistik die Naturwissenschaft unter den Geisteswissenschaften ist. Wie ich den Studies immer predige (es geht ja drum, für das Hauptstudium möglichst viele gute zu fischen): der Philologe, der einmal entdeckt hat, daß die Kombination von Beobachtung und Denken Spaß macht, kommt an der Linguistik nur schwer vorbei. ;)
Grüße,
Friedrich
PS.
meine Lektüre des
Language Log
Vielen Dank, den kannte ich noch nicht. Toll, daß da so viele Leute aus unterschiedlichen Linguistikschulen nebeneinander schreiben. Wo findet man sonst schon Generativisten wie Pullum und Pragmatiker wie Kemmer friedlich auf einer Wiese grasen?