Die gleichen Fragen zur Effektivität und Anzahl von Wiederholungen habe ich mir auch gestellt, da Übezeit immer begrenzt ist (für jeden Menschen).
Einige meiner absolut subjektiven Beobachtungen in den letzten vier Jahren waren:
1. Rotierende Aufmerksamkeit:
Das Prinzip der rotierenden Aufmerksamkeit nach Mantel ist
äußerst nützlich, gerade für ausschweifende Geister
wie mich. Ich habe das Kapitel rein zufällig vor Jahren in einer Buchhandlung gelesen und nie wieder vergessen. Nun, da das Buch erwähnt wurde, werde ich es mir endlich kaufen.
Ich treibe dieses Prinzip oft auf die Spitze, indem ich mir die Stoppuhr stelle und der Übeeinheit ein konkretes Lernziel bzw. Thema gebe.
Die Dauer der Übeeinheit ist unterschiedlich. Ist ein Stück neu, brauche ich für einen sehr kurzen, schwierigen Abschnitt z. B. 3 mal 10 min um ein einziges konkretes Problem voran zu bringen. Mit den Tagen und Wochen werden die für das gleiche Problem benötigten Zeitspannen und Wiederholungszahlen immer kürzer, die Dauer des Übens zieht sich immer mehr zusammen, die Repräsentation des Stücks im Gehirn zieht sich immer mehr zusammen.
2. Wiederholung, Stimulation und Sättigung, verteiltes Üben:
Der Stimulationseffekt von Wiederholungen ist bei mir auf jeden Fall an dem jeweiligen Tag sättigbar, vor allem bei ganz neuen Stücken. Nach nun vier Jahren Erfahrung "fühle" ich, wann die Sättigung an diesem Tag für diese Stelle und dieses Lernziel erreicht ist. Es fühlt sich ein bisschen an wie eine Verwirrung, sozusagen wie chaotisch tanzende Noten und Tasten. Dann merke ich: es reicht jetzt! Probiere ruhig aus, ob Du so eine Sättigung auch merken kannst.
Wichtig dabei zu wissen, um bei schrecklich ungeduldigen Menschen
wie mir Frustration zu vermeiden: ein wirklich schwieriges oder völlig neues Lernziel (selbst wenn es nicht so schwierig ist) erreiche ich
nie in dieser Übesitzung, weder in 5 Wiederholungen, noch in 30, noch in 100. Allenfalls eine ganz leichte Verbesserung kann ich während dieser Übesitzung merken, wenn ich wirklich diese Sättigung abwarte. Eine echte Verbesserung merke ich frühestens nach A Tagen, eine tiefere Verarbeitung in ca. B Tagen, eine erstgradige motorische Automatisierung nach frühestens C Wochen, eine höhergradige motorische Automatisierung erst nach D Wochen (und Monaten ... schulternhäng). Diese Zeitabstände habe ich in den ersten zwei Jahren meines Übens an mir beobachtet. Ich kann sie vor mir selber benennen und ich werde sie hier nicht preisgeben. Sie sind in dieser frühen Phase des Übens auch bei leichteren Stücken nur mit einem übergroßen, sagen wir verschwenderischen Zeitaufwand in begrenztem Ausmaß zu beschleunigen. Ich habe es somit nie geschafft, diese Zeitabstände
wirklich zu verkürzen
, sondern sie beruhen anscheinend auf bestimmten Prozessen in meinem Gehirn (Verankerung, Automatisierung, Integration, Synthese etc.). Daher macht es für mich keinen Sinn, an einem Tag 60 min lang eine sehr hohe Anzahl an Wiederholungen einer kurzen, ganz neuen Stelle anzuhäufen, denn ich kann mein Hirn an einem Tag bezüglich einer Stelle nicht endlos "füttern".
Falls Du,
@violetta, so einen Mist auch an Dir selber beobachten kannst, lehn Dich zurück und übe entspannt weiter. Du kannst den Prozess nicht erzwingen, er wird aber stattfinden, wenn Du regelmäßig die richtigen Reize setzt. Falls es bei Dir Abkürzungen zum Gehirn gibt, lass es uns wissen.
3. Hierarchien der Themen oder auch "Gerüstbauer versus Segelflieger":
Die Themen der Wiederholungen folgen bei mir gewissen Hierarchien, an deren Anfang die erste Version einer Klangvorstellung als Zielvorgabe steht (die sich oft noch wandelt). Ich war schon in meiner Jugend ein Gerüstbauer, dass heißt, ich betrachtete stets zuerst sehr viele musikalische Details und Einzelaspekte des neuen Stücks, übte und automatisierte Einzelheiten und konnte erst recht spät Stücke zusammen setzen. Seit 2011, als ich wieder zu spielen anfing, habe ich auf diese Weise geübt. Diese Vorgehensweise stellt die Präzision und die motorische Sicherheit an den Anfang der Übehierarchie. Der Nachteil kann sein, dass man sich verbeißt, dass man zu lange in langsamen Tempi verharrt, dass man sich in Details verliert, dass man Schwierigkeiten hat, loszulassen. Daher habe ich mich ab dem Sommer 2014 als Segelflieger versucht, heißt, ich ging vom großen Ganzen aus, übte von vornherein in schnellerem Tempo, kümmerte mich erst spät um Details und stellte die Präzision nicht so sehr in den Vordergrund. Mit beiden Methoden komme ich relativ zügig auf ein gewisses, mäßig gutes Spielniveau. Um dann das Stück noch besser zu machen, brauche ich sehr viele Wiederholungen verschiedenster Art, die so abhängig von der musikalischen Thematik sind, dass ich es nun nicht so einfach aufschreiben kann.
Aber jetzt kommt's: den Stücken in der Segelflieger-Variante
fehlt bis zuletzt ein Quentchen Sicherheit, die letzte Präzision in der Umsetzung und es fällt mir im Nachhinein sehr schwer, dies wieder auszugleichen! Diese Feststellung des letzten halben Jahres hat mich in Erstaunen versetzt, denn ich hoffte, dass der musikalische Weitblick "alles regeln würde".
Ich kehre daher gerade wieder zur ersten Methode zurück, allerdings in veränderter Form. Ich habe Tempoversuche gemacht. Ich habe einen Tempobereich gesucht, bei dem sich einerseits mein Gehirn sehr bereitwillig füttern lässt, bei dem andererseits die Musik in Grundzügen gestaltbar ist. Und ich meine, dass es tatsächlich diesen für mich sehr produktiven Tempobereich gibt und dieser Tempobereich ist tatsächlich vom Stück
unabhängig, verrückt! Es ist wie so eine Art "Lernmodus". Ich nutze gerade diesen Tempobereich, um die feine Ausgestaltung meiner Stücke, deren motorische Sicherheit und das Auswendigspiel zu verbessern. Und es scheint ganz gut zu gehen! Habt Ihr anderen auch so einen Lernmodus?
Nochmals zurück zu den Hierarchien der Themen für die Wiederholungen: bei mir steht am Anfang
nicht das Auswendiglernen und ich bewundere jeden, dem das leicht fällt und der es an den Anfang stellt! Bei mir stehen am Anfang die Ziele erste Klangvorstellung, ideale Bewegungsmuster finden und wiederholen, Präzision der Bewegungen, Struktur des Textes auf kognitiver Ebene (Harmonie- und Melodieverlauf, Rhythmus). Dieses langsame Üben ist sehr spannend und ich habe eigentlich keine Probleme, aufmerksam zu sein. Dann fließt sehr viel Schweiß unter das Instrument, igitt. Am Ende stehen immer die übergeordneten Begriffe Ausdruck, Intensität, Freiheit, Geschmeidigkeit der Bewegung, Leichtigkeit. Große Ziele, ich weiß! Bis ick denn dit allet inne Birne hab, kann icks eh scho auswendig.
Dann erst kommt wirklich das Thema "bewusst auswendig lernen" mit den zahlreichen Stützpunkten etc..
4. Basis des Kunsthandwerks:
Wenn die motorischen Zielvorgaben ungünstig oder gar falsch sind, nutzen alle Wiederholungen nichts. Was habe ich doch für Monate an für mich ungünstige Bewegungen verloren, bis ich durch bestimmte Anregungen bessere finden konnte! Dieses Kunsthandwerk Klavierspielen kann man sich wie eine Pyramide vorstellen: Probleme an grundlegenden klanglichen Vorstellungen, an grundlegenden Bewegungen "an der Basis" hört man
immer raus. Bei nachhaltigen Problemen, suche nach Lösungen zuerst an der Basis des Handwerks. Ich will es nicht ausufern lassen, nur einige Beispiele: Allgemein stinkfauler Daumen. Wenn der Zeigefinger spielt, verkrampft sich der ganze Mensch. Starres Handgelenk. Falsche Neigungen des Handrückens. Hypermotorische Zappelei (ick!). Etc. etc. etc., Themen, die unsere KLs zu hoffentlich wohlhabenden Menschen machen.
5. Wiederholungen in der Plateauphase, massiertes Üben:
Nachdem Du einige Wochen liebevoll gefüttert hast nach hoffentlich allen Regeln der Kunst kommt ein freundlicher Sprung nach oben in der Lernkurve - und danach oft eine hundsgemeine Durststrecke. Meine Beobachtungen diesbezüglich sind, dass ich in dieser Phase meine Zeitgestaltung beim Üben komplett ändere. Ich beende das Nebeneinander vieler Stücke mit verteiltem Üben, nehme das Stück, welches in diese Phase gekommen ist und übe es einige Tage erschöpfend. Ich stelle sozusagen auf massiertes Üben um, mit vielen Wiederholungen - kann aber dann die anderen Stücke nicht üben, die tägliche Übezeit geht ja vorbei. Ich übe das Stück möglichst in seiner Gesamtheit und mit so vielen Aspekten wie möglich. Das geht nur mit Stücken, die bei mir schon im Gehirn eine gute Basis haben, dann bringt massiertes Üben wirklich etwas! Wenn dann völliges Chaos in der Birne herrscht, lege ich es weg und nehme mir das nächste Stück ebenso vor. Die Stücke brauchen dann idealerweise eine Pause. Und nach 1 bis 2 Wochen klärt sich die Sache und eine Verbesserung tritt ein. Dann schaut man, wie's weitergeht.
Wenn ich diese Zeiten nicht habe, entsteht halt Stress und ich wurschtele. So ist das Leben.
Qualitativ die letzten 20 % einer Fremdsprache zu lernen, ist am schwierigsten - man hört immer den Fremdsprachler. Es kostet unendliche Mühe, diese letzte Perfektion zu erreichen. So ähnlich, finde ich, ist es am Klavier.