Prometheus-Harmonik Teil 1
Ich habe ein bisschen überlegen müssen, wie ich jetzt weitermache. Ich denke, es macht keinen Sinn einfach mit der sechsten Sonate weiterzumachen ohne vorher zu erklären, was sich von nun an bei Skrjabin harmonisch ändert. Wenn ich euch diese Änderungen in der Harmonik nun näher bringen will lässt sich nicht vermeiden, sich etwas mit der Theorie dahinter zu beschäftigen, aber auch das kann Spaß machen.
Hört euch bitte zunächst einfach folgendes Stück an, bevor ihr weiterlest.
Albumblatt op.58
Skrjabins Gesamtwerk wurde oft und mit verschiedenen Ansätzen in unterschiedliche Phasen unterteilt. Die gängigste dieser Unterteilung gibt an, dass Skrjabins dritte und letzte Schaffensperiode mit dem Prométhée beginnt, weil hier eben diese neue Harmonik ins Spiel kommt, für die Skrjabin berühmt geworden ist. Das wichtigste Element dieser neuen Harmonik ist eben deshalb auch nach diesem Werk benannt: Der Prometheus-Akkord. Tatsächlich basieren die zuvor geschriebenen Klavierstücke ab op.57 aber bereits auf derselben Harmonik.
In den Sonaten vier und fünf sind ja Skrjabins Tendenzen zu einer Weiterentwicklung der Harmonik bereits zu erkennen. Das unaufgelöste „Stehenlassen“ von dissonanten Akkorden wird fester Bestandteil seiner Musik. So ist die vierte Sonate von einer Tristan-Harmonik geprägt und in der fünften Sonate findet sich keine einzige perfekte Kadenz, die Harmonik wird bis zur teilweise freien Atonalität getrieben. Das waren zwar in gewisser Weise Vorboten von Skrjabins Entwicklung, lassen aber noch nicht wirklich ahnen, wo die Entwicklung enden sollte.
Wie gesagt bildet die harmonische Grundlage für Skrjabins neue Harmonik der sogenannte Prometheus-Akkord, oft auch „Mystischer Akkord“ genannt, als Widerspiegelung von Skrabins Hang zur Esoterik. Was hat es damit nun auf sich?
Ganz einfach gesagt handelt es sich um einen Akkord, der sich aus reinen, verminderten und übermäßigen Quarten zusammensetzt. Vom Ton C ausgehend ergibt sich der Akkord c-fis-b-e-a-d.
Das ist leicht gesagt. Schwieriger wird es wenn man versucht, diesen Akkord harmonisch zu erklären und ich sage gleich vorweg dass das ein Thema ist, das in der Musikwissenschaft auch heute noch kontrovers behandelt wird. Manchen Quellen zufolge, handelt es sich einfach nur um eine willkürliche Zusammensetzung. Andere gehen bis zur wissenschaftlichen Herleitung aufgrund der Obertonreihe und mit dieser möchte ich auch beginnen.
Die sogenannte „Oberton-These“ stammt von Skrjabins Freund Leonid Sabanejew. Diese These war schon immer sehr umstritten. Sie führte aber auch dazu, dass Skrjabins Spätwerk bis in die 50er Jahre oft als „mathematische Konstruktion“ und nicht als musikalische Erfindung galt.
Zunächst zur Obertonreihe: Wenn man einen Ton, zum Beispiel ein a bei 440Hz hört, so hört man keine reine Sinusschwingung, sondern eine Überlagerung der Grundwelle, durch mehrere „schmalere“ Wellen. Diese Obertöne sind (fast) ganzzahlige Vielfache der Grundfrequenz. Ausgehend von a bei 440Hz ergeben sich also die Obertöne mit 880Hz, 1320Hz, 1760Hz…4400Hz…
Bildet man diese natürliche Oberton-Reihe ausgehend vom Ton C bei 66Hz, so ergibt sich der Prometheus-Akkord aus den Tonen 8 bis 14, ohne den 12. Ton.
Hmm…Man muss dazu sagen, dass Sabanejew Mathematiker und Physiker war. Interessant ist, dass sich Skrjabin von dieser These überzeugen ließ und ihr zustimmte. Er betonte allerdings, dass er den Akkord rein intuitiv gefunden hat, sich aber darüber freue, wenn seine Intuition mit der Wissenschaft übereinstimmt.
Leider ist es nicht so einfach, denn diese Naturtonreihe funktioniert in dieser Form nicht beim Klavier oder anderen gleichschwebend temperierten Instrumenten, da die Quinten, Terzen usw. nicht rein, sondern zurechtgestimmt sind und für diese Instrumente hat Skrjabin nun mal gerne komponiert.
Aber selbst wenn man dies vernachlässigt stellt sich doch die Frage, warum ausgerechnet die Töne 8,9,10,11,13 und 14 der Reihe verwendet wurden. Stellt man die ersten 20 Töne der Naturtonreihe auf, so erhält man Intervalle von der Oktave bis zum Viertelton. Sucht man sich aus dieser Reihe die nötigen Töne zusammen, könnte man also so ziemlich jede Harmonik damit erklären.
Carl Dahlhaus meinte dazu: „Die Naturtonreihe rechtfertigt alles, also nichts.“
Also zurück zum Anfang. Am sinnvollsten ist es, einfach in die Geschichte der Harmonik zu blicken. Dahlhaus erklärt das sehr schön: „Der Quartenakkord ist ein Dominantnonenakkord, c-e-fis/ges-b-d, mit Leittonvorhalt zur Quinte (fis) oder alterierender Quinte (ges) und der Sexte als „harmoniefremder“ Zusatz; er ist Skrjabins zusammenfassende Formel für das harmonisch „Moderne“ und das Resultat einer Empfindlichkeit gegen verbrauchte Akkorde wie den verminderten Septakkord, den Skrjabins Grundakkord ausschließt.“
Der Skrjabin Forscher Manfred Kelkel ist dagegen der Meinung, es handle sich um einen Dominant-Tredezimenakkord mit fortgelassener Quinte. Dann wäre c der Grundton, e Terz, b Septime, d None, fis alterierte Undezime und a Tredizime. Ausgehend von diesem Terz-Aufbau hätte Skrjabin dann die Tone neu als Quarten geschichtet.
Da sich dieser Akkord bereits in Werken vor 1910 bei Skrjabin findet und den Erkenntnissen daraus, ist die Erklärung als Dominantnonenakkord naheliegender. Zum ersten Mal findet sich der Akkord im 1903 komponierten
Prélude in Fis-Dur op.37 Nr.2 in Takt 6. Dort handelt es sich funktional um einen als Doppeldominante zur Tonika wirkenden Nonenakkord. Der Akkord besteht aus den Tönen gis (Grundton), his(Terz), cisis (verminderte Quinte), fis (Septime), ais (None) und dem Ton eis, der als Sexte zum Grundton oder als doppelt hochalterierte Quinte (dis) gesehen werden kann. Für einen regelkonformen Dominantnonenakkord sind die Töne cisis und eis „störend“, sie werden daher in diesem Fall in den bisher ausgesparten Quintton dis aufgelöst.
Gehen wir also davon aus, dass es sich beim Prometheus-Akkord um einen Dominantnonen-Akkord handelt, so ist abgesehen von der tiefalterierten Quinte die doppelt hochalterierte Quinte bzw. die Sexte auffällig und lässt sich bis hierher noch nicht erklären. Den Schlüssel dazu hat die Musikforscherin Zofia Lissa gefunden. Sie brachte den Begriff der „Chopin-Sexte“ ins Spiel, der in der Chopin-Literatur geläufig ist. Bei Chopin kommt es häufiger vor, dass bei einem Dominantklang die Quinte durch eine große Sexte, meist in der obersten Stimme ersetzt wird. Auch Skrjabin verwendete diesen Klang schon früh, so zum Beispiel im
Prélude op.15 Nr.1 im vorletzten Takt.
Bekräftigt wird dies dadurch, dass Chopin die Sexte oft als obersten Ton nimmt, während die Akkordgrundlage vom Intervall der Septime gebildet wird. Skrjabin macht es häufig genauso und durch diese Sexte lässt sich auch erklären, warum man selbst in Skrjabins Spätwerk oft noch tonale resteindrücke bekommt. Tatsächlich kann man also sagen, dass Chopin indirekt an der Entstehung des Prometheus-Akkordes beteiligt war.