Sonate Nr.2: Sonate Fantaisie op. 19 in gis-Moll
Sonate Fantaisie? Zwei Sätze, einer langsam und einer schnell? Gis-Moll? All das kommt doch sehr bekannt vor. Orientierte sich Skrjabin bei seiner ersten Sonate noch an seiner Jugendsonate in es-Moll, so scheint er hier eine Neuauflage seiner Jugendsonate in gis-Moll geplant zu haben. Zumindest thematisch gibt es keine Gemeinsamkeiten, die Problemlösungsstrategie für die Krise der Sonatenform ist aber dieselbe. Auch gibt es klare strukturelle Unterschiede. Bestand die Jugendsonate noch aus einer klaren, dreiteiligen Liedform mit anschließendem Sonatensatz, so gibt es bei op.19 keine zwei wirklich kontrastierenden Themen, wie es die Sonatenform fordern würde und daher auch keine Durchführung im klassischen Sinne. Möchte man die Sonate dennoch ins klassische Schema bringen, so haben Reprise und Exposition einen unverhältnismäßig großen Umfang, im Vergleich zur Durchführung, die ja bis dahin das Herzstück eines Sonatensatzes war. Der Beginn der Sonate erscheint wie eine Frage, die in der Sonate mehrfach gestellt wird, aber zunächst ohne Antwort bleibt. Beendet wird diese Frage durch ein Klopfmotiv (was Skrjabin mit bestimmten Motiven so alles anstellt, werden wir noch in der fünften Sonate sehen), bestehend aus drei Triolenachteln, das des Öfteren wiederholt wird. Dieses Klopfmotiv wirkt wie ein drängender Aufruf, so als wenn um Antwort gebeten wird und kommt in einigen Skrjabin-Werken ähnlich vor.
In den folgenden Takten schaukelt sich das Geschehen immer wieder auf und fällt plötzlich ins piano zurück. Diese plötzlichen Dynamikschwankungen sind typisch für Skrjabin und werden auch weiterhin fester Bestandteil seiner Kompositionen sein. Typisch sind auch die Oktaven im Bass, die das Thema sogar an sich reißen können.
Dazu muss ich etwas ausholen. Skrjabins Verleger, Mitrofan Beljajew, war so etwas wie eine Vaterfigur für ihn geworden. Dieser hatte zum Ziel, Skrjabin zunächst als reinen Klavierkomponisten berühmt zu machen und unterdrückte jeden Wunsch Skrjabins, sich dem Orchester zuzuwenden, er verspottete ihn später sogar für dessen erste Sinfonie. Skrjabin war das nicht gerade recht, auch wenn er den Aufstand noch nicht wagte, zumindest nicht für jeden offensichtlich. Beljajew forderte zum Beispiel nach den 24 Preludes op.11 noch einen weiteren Zyklus aus Preludes, der den gesamten Quintenzirkel abdeckt (also insgesamt mit op.11 2x24 Stücke angelehnt an Bachs WTK) und setzte Skrjabin deswegen ziemlich unter Druck. Dieser schrieb bis 1896 nach op.11 genau 23 Preludes, also eins zu wenig. Auch die Abfolge des Quintenzirkels hält er bereits ab op.15 nicht mehr ein. Das war wohl seine Art des Protestes. Bereits in seinem Konzert-Allegro op.18 ist deutlich die Absicht zu erkennen, das Orchester auf einem Klavier darzustellen. Skrjabin erreicht das, durch Klangschichten in unterschiedlichen Höhenlagen. Das ist mit ein Grund dafür, warum es bei ihm sehr häufig Vorschläge gibt, damit er eben mit zwei Händen die Schichten möglichst breit über die Klaviatur verteilen kann. Hier mal ein Beispiel aus op.18 für Klangschichten.
Auch diese Technik wird Skrjabin noch sehr viel weiter entwickeln und bis an die Grenzen des Spielbaren steigern, aber dazu später mehr (wer ungeduldig ist, kann sich mal das Prelude op.27 Nr.1 oder die Fantasie op.28 ansehen). Als Vorbilder würde ich mal Schumann und Liszt vermuten. In Schumanns Symphonischen Etüden z.B. nutzt er ähnliche Klangschichtungen, um orchestrale Effekte zu erzeugen. Auch dazu ein Beispiel.
Auch im op.19 finden sich solche Klangschichten, wenn auch noch nicht sehr ausgeprägt. Die Oktaven im Bass sind ein weiteres Element, um orchestrale Effekte zu erzeugen. Ab Takt 12 kommt etwas weiteres, sehr typisches für Skrjabin, das er auch weiterhin beibehalten wird: Die Verrückung zwischen Begleitfiguren und Takt, so dass die Begleitfigur den Takt überlappt. Dadurch verschiebt sich auch die Begleitung zur Melodie. Chopin hat das auch schon gelegentlich gemacht, Skrjabin war aber ein großer Fan davon und brachte die Technik recht häufig zum Einsatz, oft auch kombiniert mit Polyrhythmik.
In diesem relativ frühen Stück finden sich also schon viele Sachen, die Skrjabin sein ganzes Leben lang beibehalten wird. Es folgt eine ruhige, ornamentale Übergangs-Passage in H-Dur. Ab Takt 46 kann man von einem Seitenthema reden, das in mittlere Lage gelegt ist und von Ornamenten umringt ist. Man kann dieses Thema also als Synthesethema bezeichnen. In Takt 58 beginnt so etwas wie eine Durchführung, die nur ca. 30 Takte (bis Takt 86 um genau zu sein) andauert und eher als dramatischer Kontrast und nicht als Themenverarbeitung dient. Das Seitenthema kommt gar nicht vor. Die Durchführung steigert sich zum Fortissimo. Den Kopf der Reprise bildet das verkürzte Anfangsmotiv, diesmal fortissimo und dadurch mit völlig anderem Ausdruck. Der Rest des ersten Satzes steht in E-dur (Subdominante der Tonikaparallele), sonst passiert nichts Aufregendes mehr. Der erste Satz endet mit dem Klopfmotiv pianissimo.
Ganz anders präsentiert sich der zweite Satz. Im Presto mit Triolen in der rechten und Oktaven in der linken Hand stellt sich zu Beginn fast ein etüdenhafter Charakter ein. Thematisch sind beide Sätze eng miteinander verwoben, wegen der sehr unterschiedlichen Charaktere wird man das aber ohne genaueres Hinsehen kaum bemerken. Wer Lust hat, kann ja mal ohne hier gleich weiterzulesen versuchen, das Klopfmotiv im
zweiten Satz zu finden oder sogar
rauszuhören. Ich warte so lange…
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Gefunden? :) Man findet es in Takt 19 und Takt 23 im Bass angedeutet und wie ein Echo an den ersten Satz wirkend.
In der Überleitung zum Seitenthema des zweiten Satzes in es-Moll, verbirgt sich ein Anklang an den Überleitungsgedanken in H-dur des ersten Satzes (Takt 12 bis 45 im ersten Satz). Sehr interessant ist, was Skrjabin in diesem Seitenthema des zweiten Satzes anstellt. Den Zielton b2 (als Quinte zum Grundton es) vermeidet er in der Melodie konsequent. Diesen erreicht er erst in der Reprise (Takt 99), diesmal als dis3 (also als Quinte zum dortigen Grundton gis) zum ersten Mal als Spitzenton des Themas. Ich kann nur jedem empfehlen, mal anhand der Noten zu versuchen, das nachzuvollziehen und genau hinzuhören, wie sich das auswirkt. So was kann tatsächlich spannend sein. ;) Der gesamte zweite Satz ist fließend und im Charakter recht unterschiedlich im Vergleich zum ersten Satz. Erstaunlich ist die thematische Verflechtung der beiden Sätze, obwohl der erste Satz 1892 und der zweite 1897 geschrieben wurde. Beide Male befand sich Skrjabin in der Nähe des Meeres. So legte Skrjabin dem Stück auch ein kleines Programm zugrunde, das das Meer behandelt. Der erste Satz soll die abendliche Ruhe an einer Meeresküste darstellen, der E-Dur-Abschnitt stellt dabei den Mondschein in der frühen Dunkelheit dar. Interessant ist, dass auf Skrjabins später entworfenem Farbenklavier tatsächlich der Ton E zu blau-weißlich, mondfarben passt. Der zweite Satz dagegen mit seiner strickten Periodenstruktur (jeweils 4+4 Takte) und seinen wellenförmigen Figuren stellt das stürmisch bewegte Meer dar. Wassermusik? Tatsächlich wird diese Sonate gelegentlich mit dem Impressionismus in Verbindung gebracht. Ob gerechtfertigt oder nicht sei mal dahingestellt.
Auch diese Sonate gehörte nicht unbedingt zu Skrjabins größten Lieblingen (im Gegensatz zu den beiden folgenden sowie der siebenten und der neunten Sonate), dennoch erfreut sie sich einer gewissen Beliebtheit. Yuja Wang hatte sie kürzlich im Programm, Evgeny Kissin wird sie in der nächsten Saison spielen.
Hier sind die Noten.
Und hier meine Lieblingseinspielung.
Ashkenazy_ Skrjabin Sonate Fantaisie op.19 in gis-Moll 1.Satz;
2.Satz
Viele Grüße!