hallo,
leider teilen uns die Noten der ersten Invention auf den ersten Blick nicht mehr mit, als die Töne: keine Melodiebögen, keine Dynamikvorschriften, keine Artikulationszeichen, lediglich ein par wenige Verzierungen (deren Herkunft kritisch diskutiert wird).
Wenn man diesen kargen Notensatz in ein Notenprogramm eingibt und dann abspielen lässt, wird sich das Ergebnis dieser Mühe ziemlich leblos und nur mechanisch anhören. Genau das will man aber nicht haben!
Hallo leoniesophie,
zunächst einmal ist es klasse, dass Du dieses Stück spielen willst - ich hoffe, Dir helfen ein paar Überlegungen dazu.
Damit nun diese Invention nicht leblos und mechanisch abgespielt wird, ist es hilfreich, zu verstehen, was dort alles passiert.
Mit Ausnahme des allerletzten Taktes, er spielt einen C-Dur Akkord, fällt auf, dass dieses Stück überall zweistimmig ist, und dass diese zwei Stimmen sehr ähnliche Sachen machen. Die Noten sehen also ganz anders aus, als man es ansonsten kennt: sie sind nicht in Melodie und Begleitung getrennt.
Das ist ein ganz großer Vorteil, denn so lernen beide Hände, dass sie so zu sagen gleichgut spielen. Das testet man am besten, indem man sie abwechselnd wirklich dasselbe spielen läßt und darauf achtet, dass sie es gleichgut tun:
Übung 1
die ersten drei Takte (oder mehr) sowohl abwechselnd, als auch parallel gleichzeitig mit beiden Händen spielen (die linke Hand spielt halt eine Oktave tiefer)
- aufpassen, dass beide es wirklich gleich gut hinkriegen und nicht unterschiedlich klingen! das ist ganz wichtig
- im Notenbeispiel sind ein paar musikalische Bestandteile durch Farben angedeutet. Im dritten Takt etwa wird der fragende Teil des Themas gespiegelt: stell Dir vor, Du schreibst das Thema auf, machst wie in Mathe einen langen Strich darunter, und dieser ist dann wie eine Achsenspiegelung - du malst es dann gespiegelt darunter. Das ist kinderleicht zu verstehen: wenn Du die Fingerfolge 1-2-3-4-2-3-1-2 mit beiden Händen total gleichzeitig spielst, dann entsteht zugleich das Theme und seine Spiegelung:
Verständnisübung (beide Daumen auf c):
1-2-3-4-2-3-1-2 rechts - Thema
1-2-3-4-2-3-1-2 links - Spiegelung
zu spiegeln ist ein kompositorischer "Trick"
Wenn Du nun das ganze Stück der Reihe nach durchschaust, wirst Du finden, dass die meisten Takte sich mit den einzelnen Segmenten (oder Teilen) befassen, aus denen das Thema (Frage und Antwort) und seine gespiegelte Variante zusammengesetzt sind.
Abweichend sind nur die Stellen, bei denen es sich anhört, als könnte es jetzt fertig sein bzw. aufhören. Das sind kadenzierende Schussfloskeln, die den melodischen Verlauf einteilen. Insgesamt fünf mal könnte das Stück aufhören - wenn Bach das gewollt hätte, aber er wollte nicht: es hört erst nach der sechsten Schlussfloskel auf.
Diese sechs vom thematischen Material (Frage, Antwort, Spiegelung) abweichenden Stellen könntest Du Dir angedeutet wie mit "festlichen Barocktrompeten" vorstellen (so a la Weihnachtsoratorium).
Anmerkung:
Ich habe Dir - hoffentlich sieht man das - durch " ` " im ersten Beispiel eingetragen, wo man "Atem holen" bzw. neu ansetzen sollte - - es würde nicht schön klingen, wenn man die ersten 7 Takte in der rechten Hand durchgehend legato spielen würde.
(wie man neu ansetzt, also wie ein Sänger "Atem holt", wird Dir sicher Dein KL zeigen können)
Auch in diesem Stück sollten die melodischen Bestandeile von beiden Händen wie gesungen (cantabile) gespielt werden, damit es lebendig klingt. Ganz allgemein: eine Melodie (bzw. unter einem Melodiebogen) macht zum Spitzenton bzw. zum wichtigsten Ton hin etwas crescendo, ihr Abschluß zum Bogenende hin meist etwas diminuendo.
Übung 3 "cantabile"
Du könntest Dir die Bestandteile (Frage, Antwort, Spiegelung, Schlussfloskeln) wie mit einem Txt unterlegt vorstellen (die Silben passen exakt zum Anfang):
ich es-se furcht-bar ger-ne Chips, und da-von viel,
Das würde man ja auch nicht in einem Atem sprechen oder singern, sondern zwischen "Chips" und "und" eine Zäsur machen.
Zuletzt:
Schaut man sich die ersten Takte jetzt an, mit all den Informationen, so sieht man, dass die zweite Stimme (linke Hand) die erste Stimme (rechte Hand) imitiert. Ein wenig erinnert das an einen Kanon. (wir haben hier noch keine Fuge, sondern Imitationsstimmern).
Hört man sich die ersten Takte an, so sind sie doch ein wenig tänzerisch, beinahe beschwingt - auf keinen Fall ernst, gravitätisch, gewichtig.
Zuletzt muß man wie im Ballett choreografieren und inszenieren. Ein Vorschlag hierzu:
- Barockkostüme auf einer Bühne
- selbstsicher und wichtig kommt Pantomime 1 (erste Stimme) auf die Bühne
- ein wenig diese veräppelnd, parodierend kommt Pantomime 2 (zweite Stimme) auf die Bühne dazu - - vielleicht so wie eine große Barockfürstin und ihre Zofe, wobei die Zofe ein wenig frech ist (sich hinter vorgehaltener Hand über Madame lustig macht)
- - diesen Tanz führen nun beide auf.
Tatsächlich muss man überall die linke Hand etwas zurückgenommen, etwas leiser als die rechte Hand spielen: das liegt an den Eigenschaften des Klaviers, wo die höheren Töne eher verklingen als die tieferen. Als ungefähre Richtlinie: spielt die Oberstimme mf, dann sollte die Unterstimme mp spielen.
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Wie Du siehst, empfehle ich, beim sich Erarbeiten und Gewöhnen an dieses Stück
-------zunächst zu verstehen, woraus es besteht (die Thementeile)
-------dann motorisch umsetzen (z.B. den Anfang mit beiden Händen, jede Hand gleich gut im Gestalten des musikalischen Materials, cantabile usw.)
-------und davon ausgehend dem Ganzen einen Sinn geben: choreographieren und inszenieren (das entspricht dem, was man "Klangvorstellung" nennt)
Ich hoffe, diese Anregungen helfen Dir für diese wunderschöne Invention.
Gruß, Rolf
p.s. @ alle: ich habe versucht, auf möglichst einfachem (!!!) Weg die Bestandteile der Invention anzudeuten - evtl. mag man andere Begriffe für Details einsetzen, aber das könnte verwirren. Ich wollte leoniesophie einen Einstieg anbieten - vertiefen und verbessern kann man das sicherlich.
Auf eine Erklärung der Harmonik habe ich verzichtet, das wäre hier zunächst zu umfangreich. Die vorletzte Schlussfloskel enthält tatsächlich das Theme in meinem Notenbeispiel: das zeigt, dass sich die kadenzierende Schlusswendung natürlich organisch aus dem Thema entwickelt und nicht wie ein plötzlich andersfarbiger Bauklotz dasteht.