Sokolov in Palma
Hier mein lange versprochener Bericht über das Konzert von Sokolov im Auditorium von Palma de Mallorca. Reichlich verspätet, ich weiß, aber solche Eindrücke verjähren ja nicht:
"Sokolov im Auditorium (10.08.2017)
Die Bühne des Auditoriums lag in kontemplativem Halbdunkel, was sich auch nicht änderte, als er die Bühne betrat: Grigory Sokolov, den Kenner zum größten Pianisten unserer Tage gekürt haben. Es blieb so dunkel, dass man das Firmenlogo des Flügels nicht erkennen konnte.
steinway? Bösendorfer? Spätestens nach zehn Minuten verlor diese Frage jegliche Bedeutung; hier brachten magische Hände einen Mechanismus zum Singen, den man durchaus auch zu den Schlaginstrumenten zählen kann. Und spätestens bei den Forte-Zweiunddreißigsteln im Più allegro von Mozarts c-moll-Fantasie hätte man den Flügelbauern des 19.Jahrhunderts auf Knien dafür danken mögen, dass sie das Hammerklavier der Klassik weiter entwickelt und ihm sozusagen Gesangsstunden gegeben haben. Nur: der
flügel allein tut’s nicht, es braucht einen Pianisten, der das sangliche Potenzial eines modernen Flügels auch zum Leben erwecken kann. Einen Pianisten wie Sokolov, der in allen Registern über eine phänomenale Farbpalette verfügt. Wie er diese Fantasie mit ruhigem Atem zu kantablem Leben erweckte, war ein kleines Klangwunder.
Doch der Reihe nach. Der Abend begann mit der von Anfängern tausendfach zu Tode geklimperten Sonata facile, KV 545. Wie irreführend das Pädikat „leicht“ ist, zeigt sich, wenn ein Meister an das Werk herangeht. Sokolov gestaltete die Ecksätze bedächtig-bedachtsam, verlieh jeder Note, sogar den Alberti-Bässen der Linken, Bedeutung und nahm sich und schenkte dem Publikum die Zeit für sämtliche Wiederholungen. Das Andante kam wirklich „gehend“ daher und wurde nicht zu einem sentimentalen Adagio zerdehnt. Der Pianist nahm sich die Freiheit zu kleinen Verzierungen, wie sie auch bei Mozart selbst damals üblich waren. Die Anfangsterz des Finalrondos verkam nicht zum Glöckchen-Geklingel. So wurde gleich mit dem ersten Stück (das von weniger großen Geistern als Warmspiel-Etüde missbraucht wird) die Aura des Bedeutsamen geschaffen.
Dann, wie schon gesagt, die große c-moll-Fantasie KV 475. Die auf den ersten Blick kaleidoskopartig aneinandergereihten musikalischen Einfälle verband Sokolov zu einem großen formalen Ablauf. Die chromatisch aufsteigende Linie des Beginns stellt quasi eine Frage, die in den sechs Abschnitten unterschiedlich „beantwortet“, erneut gestellt, moduliert und in der Coda wieder aufgenommen wird. Dass diese Fantasie die spätere Niederschrift einer improvisierten Darbietung ist, für deren Kunstfertigkeit Mozart berühmt war, ist kaum denkbar, auch Sokolovs Spiel betonte bewusst das Strukturierte der Komposition. – Ohne Pause schloss sich die Sonate KV 457, in der gleichen Tonart, an. Die Nähe der beiden Werke zueinander beschränkt sich ja auch keineswegs auf die Tonart. Auch die Sonate beginnt mit einer aufsteigenden Linie, aber diatonisch und damit affirmativer als in der Fantasie. In dieser fast trotzigen Grundhaltung ist sie einzigartig in Mozarts Sonaten-Kosmos. Dieser singulären Bedeutung trug Sokolovs Interpretation Rechnung. Auch hier wirkte nichts hastig und übereilt, mit ruhigem Atem breitete der Pianist die formal gebändigten musikalischen Ideen vor dem Zuhörer aus. Und wieder einmal wurde deutlich, dass Mozarts Sonaten nicht als Übungsmaterial für seine Schüler missverstanden werden dürfen und durchaus auf dem Niveau der Klavierkonzerte dieser Schaffensperiode stehen.
Natürlich hatte Sokolov mehr zu bieten als nur „Formen“ in den musikalischen Raum zu stellen. Sein Klangsinn und der dynamische Nuancenreichtum seines Spiels machten Fantasie und Sonate zu einem (auch) kulinarischen Genuss.
Sokolov ist kein „glamour-boy“ wie etwa Lang Lang, kein Show-Mann, der mit virtuosen Effekten zu beeindrucken sucht. (Vielleicht war deshalb das Auditorium nicht ausverkauft.) Er kann „nur“ unglaublich gut Klavier spielen. Das ist kein Euphemismus, denn hinter diesem „nur“ verbirgt sich – neben einer phänomenalen Technik – absolut uneitle künstlerische Aufrichtigkeit, musikalische Leidenschaft, die sich nie durch publikumswirksames Auftrumpfen zur Schau stellt. Das macht das Besondere dieses Pianisten aus: dass es sich eben nie als Besonderes geriert, dass es nicht plakativ in den Vordergrund drängt.
Nach der Pause dann Beethoven: die jeweils zweisätzigen Sonaten op. 90 und op. 111. – Beethovens Sonatenwelt ist eine völlig andere als die zu Beginn noch stark vom Rokoko geprägte Mozarts: klassische Klarheit und Ausgewogenheit scheinen aufgegeben, der Ton wird rigoroser und schroffer, heftige Ausbrüche statt melodienseligen Wandelns in „lichten Höhen“. Das birgt für den Interpreten natürlich die Gefahr des Über-Pathetisierens.
Sokolov unterliegt ihr aber zu keinem Zeitpunkt. Sein Ton ist kraftvoll, vermeidet jedoch das Abgleiten ins vulgäre Überakzentuieren – und bleibt selbst im Fortissimo „schön“.
Den Beginn des zweiten Satzes von op. 90 hat man oft mit Schubert verglichen. Kein Wunder, dass diese Stelle Sokolov, der ja auch ein großer Schubert-Interpret ist, besonders (am Herzen) liegt. Für Momente eines kurzen Klavier-Glücks entführt er den Hörer in die luzide Impromptu-Welt der Schubertiaden.
Über op. 111, Beethovens letzte Sonate, haben sich alle möglichen (und unmöglichen) Exegeten die Köpfe zerbrochen. Von Thomas Mann bis Adorno wurde munter herumgedeutelt. Am ehesten einleuchtend ist noch die knappe Feststellung Alfred Brendels (selbst ein bedeutender Beethoven-Pianist), dieser Schlussstein in Beethovens Sonatengewölbe wirke „als abschließendes Bekenntnis seiner Sonaten und als ein Präludium des Verstummens“.
Beethoven hat dafür c-moll gewählt, die Tonart der „Pathétique“. An sie erinnert auch die Grave-Einleitung, der Sokolov nobles Gewicht verleiht. Das ganze Stück über bleibt der Ton edel, vernebelt aber nie die z.T. komplexen polyphonen Strukturen.
Das Finale ist ein Variationssatz und mit 20 Minuten doppelt so lang wie der erste. Natürlich war man auch an diesem Abend wieder gespannt auf die dritte Variation. Strawinsky fühlte sich bei ihr durch den Wechsel zwischen 32-teln und 64-teln in der Hand und der überbundenen Synkopen in der jeweils anderen Hand an einen Boogie-Woogie oder Ragtime erinnert. Da ist die Versuchung zu jazzen natürlich groß. Aber anders als beispielsweise der Jazz-affine Fazil Say vermeidet es Sokolov – dazu ist seine musikalische Haltung einfach zu vornehm – sein Publikum in den Bier- und Tabakdunst einer Honky-Tonk-Kneipe zu stoßen.
Frenetischer Beifall belohnte den Pianisten für zwei Stunden Klavierspiel auf allerhöchstem Niveau. Und Sokolov bedankte sich in gewohnt großzügiger Weise: sechs(!!!) Zugaben – darunter tut er’s selten. So bekam das Publikum in einem halbstündigen „Encore-Marathon“ noch Schubert und Chopin (u.a. das Regentropfen-Prélude, danach hielt es die Zuhörer nicht mehr auf den Sitzen) zu hören und verließ glücklich und reich beschenkt das Auditorium, hoffend, dieser großartige Pianist möge doch bald wieder nach Palma kommen. Diesem Wunsch schließt sich der Rezensent vollumfänglich an"
Dieser Abend war der Höhepunkt von insgesamt 12 Konzerten, die ich innerhalb von vier Monaten auf Mallorca besucht habe. Bin momentan in Deutschland, kehre aber rechtzeitig zu "Le nozze di Figaro" am 23.September in Palma auf "meine" Insel zurück.
Liebe Grüße
Martin