Jenseits der Pubertät? Aber ja doch! Wenn Du so einen Männergesangverein dirigierst, kannst Du das Missverständnis des Bibelworts "Wenn Ihr nicht werdet wie die Kinder..." am eigenen Leibe miterleben. Da sorgen die meist im Rentenalter befindlichen aktiven Mitglieder im Einzelfall sehr wirkungsvoll dafür, dass da mitunter fast Anarchie herrscht: Wenn Champions League in der Glotze läuft, gehe ich doch nicht singen - Mein Enkel feiert seinen vierten Geburtstag (natürlich abends um neun...) - Ich fahr' jetzt erst mal wieder in Urlaub (zum fünften Mal in diesem Jahr und dass nächsten Samstag Konzert ist, interessiert mich nicht) - Wehe, ich stehe beim Auftritt nicht in der ersten Reihe, obwohl ich dieses Jahr erst zweimal bei der Probe dabei war... . Und wenn etwas schiefgeht, ist der blöde Chorleiter schuld, der hat mit seinem sowieso viel zu hohen Honorar gefälligst dafür zu sorgen, dass ich meine Stimme kann und damit basta. Als ob der Chorleiter so eine Art esoterischer Guru oder Wunderheiler ist, der aus einem grölenden Sauhaufen einen Meisterchor zaubern kann - vergleichbar einem Sportverein, mit dem man Meister wird, ohne trainieren zu müssen und dabei ins Schwitzen zu geraten. Selbstverständlich weiß man nach Erhalt der Ehrennadel für vierzig Jahre Singen im Chor mehr über Musik als der blöde professionelle Chorleiter, der beim eigenen Beitritt zum Verein noch nicht mal auf der Welt war oder damals allenfalls "inne Bux jeschisse hädd"... . Der jahrzehntelange Aufenthalt im Probelokal ist gebührend zu würdigen, sonst erfolgt umgehend der Vereinsaustritt und die Einstellung der Beitragszahlungen.
Sicherlich geht mit einer vergleichbaren Einstellung so mancher zum Arzt: Doktor, Du kriegst eh viel zu viel Kohle, also mach' mich endlich gesund, aber dalli! Dass so eine Behandlung oder Therapie auf aktive Mitarbeit des Patienten angelegt ist, der unter fachkundiger Anleitung seine angegriffene Gesundheit wieder in Ordnung bringt, ist eine unbequeme Erkenntnis, aber die Realität. Wer diese Erkenntnis nicht an sich heran lässt, tourt dann durch viele Warte- und Behandlungszimmern von Ärzten, die natürlich alle nichts taugen.
Das "in Ordnung bringen" beim Chor macht neben der Überzeugungskraft eines erfahrenen musikalischen Leiters die Mitwirkung eines handlungsfähigen Vorstandsteams erforderlich: Die Maxime "großer Verein gleich guter Verein" ist überholt, "lieber halbherzige Mitglieder als gar keine" gehört ebenfalls in die Tonne. Es kann sinnvoller sein, personellen "Ballast" abzuwerfen und schlimmstenfalls einen mehrheitlich von Lethargie und Desinteresse geprägten Verein aufzulösen - lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Auch als Chorleiter sollte man den Mut haben, einen künstlerisch unbefriedigenden Auftrag ohne Perspektive an den Nagel zu hängen. Es verwundert mich in keinster Weise, dass es beim Klavierunterricht ähnliche Konstellationen geben kann.
LG von Rheinkultur