Werktreue

Zitat von rolf:
...sehr scharfsinniger Vergleich..... sag: wie viele Malhobbyisten und Malschüler malen in einem Monetbild herum? finden wir auf Youtube malende Steckenpferdreiter, die das Auge des Betrachters mit ihren willkürlich abgeänderten Monet-Seerosen peinigen?

Es geht, aus meinem Blickwinkel betrachtet, nicht darum, existierende Meisterwerke zu verpfuschen, zum Beispiel, um bei der Musik zu bleiben, Horowitz' Träumerei oder Polka de W.R. zu nehmen, und mit elektronischen Mitteln darin Rubati, Lautstärkeänderungen u.ä. zu erzeugen, und einen fetten Pop-Beat darüberzulegen... das dürfte musikalisch ziemlich übel in den Graben gehen.

Es geht eher darum, ein genauso schönes Bild wie diesen Monet zu malen, das aber anders aussieht. Man kann ja auch nicht sagen, daß ein Bild mit Rosen immer schöner ist als eines mit Tulpen.

Transkriptionen wandeln Kompositionen auch um - und man kann nicht generell sagen, daß Original besser ist als Kopie, oder umgekehrt. Bei Variationen das gleiche. Daß bei beiden die künstlerische Schaffenstiefe weit höher ist, als in einer Kleinkomposition vier Nötchen anders zu setzen, oder wegzulassen, oder eine (hoffentlich) hübschere Coda sich auszudenken, ist für mich nicht von Belang.

Man kann sich natürlich die Frage nach dem Respekt vor dem Künstler (Komponisten) oder dem Werk (der Partitur) an sich stellen. Allerdings, geht es beim Musikmachen nur in zweiter Linie um den Komponisten oder die Partitur.

Es geht hauptsächlich darum, schöne Musik zu machen.

So oder so sollte man aber - bedauerlicherweise - schon wissen, was man tut. Oder zumindest glauben, es zu wissen... (?)

Könnte es nicht spannend sein, eine neue kompositorische Fassung einer Partitur zu hören? Spannend insofern, da man ja nicht weiß, was verändert worden ist, und ein Stück, das man schon ewig kennt, ein wenig mehr "Überraschung" bieten kann...? Vielleicht sogar: angenehme Überraschung...?

Oder ist das grundsätzlich zum Scheitern verurteilt? Muß ich musikalisch genialer sein als ein Komponist XY, um an einem einfachen Stück, mit dem ich mich ein Leben lang beschäftigt habe (und mit Musik sowieso), ein paar winzige Änderungen zu machen, bei denen meine Erfahrung mir sagt: so müßte es aber schöner sein...?

Waren Komponisten unfehlbare Götter, die mit jeder Komposition gleichzeitig vollendete Perfektion geschaffen haben?

Und warum soll man Hobby-Musiktreibenden verbieten (wollen), in ihrem Sinne und nach ihrem Gusto kreativ mit Partituren umzugehen...? Und sogar selbst dann, wenn der Betreffende jetzt mal nicht das personifizierte Musikgenie ist?

Im schlimmsten Falle passiert das, was vermutlich für jeden Musikhörer und -Liebhaber alltäglich ist: man hört sich etwas an - und es gefällt einem halt nicht...
 
Und warum soll man Hobby-Musiktreibenden verbieten (wollen), in ihrem Sinne und nach ihrem Gusto kreativ mit Partituren umzugehen...? Und sogar selbst dann, wenn der Betreffende jetzt mal nicht das personifizierte Musikgenie ist?

Im schlimmsten Falle passiert das, was vermutlich für jeden Musikhörer und -Liebhaber alltäglich ist: man hört sich etwas an - und es gefällt einem halt nicht...

Dem Hobby-Musizierenden kann / will sowieso niemand etwas verbieten. Wie denn auch, warum denn auch.

Die ganze Frage wird erst in dem Augenblick relevant, in dem eine wie auch immer geartete "Öffentlichkeit" (abseits des trauten Tête-à-Tête mit dem Instrument) ins Spiel kommt.

Wenn Pianist Y z.B. auftritt, im Programm steht das Stück X, die Leute haben Geld dafür bezahlt - dann sollte auch X drin sein. Anders wäre es, wenn im Programm stünde "Eigene Variationen über X". Oder "X in Bearbeitung von Y".

Oder Hobbyist Z erzählt: "Ich kann X spielen", lässt aber die Hälfte der Noten weg (oder spielt es in einer stark vereinfachten Bearbeitung) - dann stimmt das halt nicht. Was nicht dramatisch ist, denn andere Hobbyisten übertreiben im Freundeskreis vielleicht auch mit ihrem Können.

Fakt ist aber: Das Stück X gibt es. Es wurde komponiert und veröffentlicht. Ab diesem Zeitpunkt ist es in der Welt und führt ein Eigenleben.

Das Eigenleben von Kompositionen unter den Fingern von "Interpreten" lässt sich vielleicht noch am ehesten mit Übersetzungen von Texten vergleichen. Eine Übersetzung kann (und sollte) kongenial sein - also möglichst präzise Qualität und Aussage des Ursprungstextes spiegeln. Sie wird aber niemals eins zu eins "dieselbe" sein. Zwei (oder noch mehr) Übersetzer können u.U. zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Der eine übersetzt "wörtlich" (was gerade bei historischen Texten ... irritierend sein kann), der eine "passt modernen Sprachgewohnheiten an" (entfernt sich dadurch vom Ursprungstext, macht ihn aber für seine Zeitgenossen und ihre Sprachgewohnheiten begreiflicher) oder dergleichen Abstufungen mehr.

Der Interpret einer Komposition arbeitet m. E. ähnlich wie ein Übersetzer, der möglichst wörtlich übersetzt. Wenn die Angaben des Komponisten eher spärlich sind, greift er auf historische Informationen zurück, die ähnlich vage sind wie die Suprasegmentalia in einem Text.
 
Irrtümer gab es schon immer un wird es immer geben. Auch die Musikforschung ist keine hermetische Wissenschaft - da werden sich auch in Zukunft neue Erkenntnisse auftun.

Ich hatte mal eine interessante CD, auf der Ausschnitte verschiedener Interpretationen der Matthäus-Passion von JS Bach zusammengestellt waren. Leider erinnere ich mich nicht mehr im einzelnen an alle Aufnahmen. Ich weiß aber noch, dass eine mit Furtwängler dabei war, bei der es für den heutigen Hörer schwierig war, überhaupt zu erkennen dass es sich um Musik von Bach handelte ;). Dann war eine Aufnahme mit Karl Richter dabei (heute vielgeschmäht, obwohl man im Zusammenhang mit den weiteren älteren Aufnahmen auf dieser CD gehört hat, wieviel Richter im Hinblick auf die "Entstaubung" der Bachschen Musik geleistet hat). Hört man dann dazu noch aktuellere Versionen, z.B. von Herreweghe oder Jacobs, merkt man, wie stark sich die Bach-Aufführungspraxis in den letzten Jahrzehnten gewandelt hat.

Sind die Interpretationen von Furtwängler oder Richter nicht werktreu gewesen? Ich stimme Dir zu, dass der Begriff "Werktreue" in erster Linie eine Haltung beschreibt. Und den genannten Künstlern unterstelle ich, dass sie nicht Willkür haben walten lassen. Ich gehe sogar fest davon aus, dass die beiden ebenfalls zeitgenössische Quellen berücksichtigt haben. Trotzdem sind sie zu ganz anderen Ergebnissen gekommen als heutige Interpreten. War das damals ein Irrtum? Sind die heutigen Aufführungen "richtig"?

Ich glaube nicht, dass Furtwängler oder Richter im Irrtum waren, also etwas objektiv "falsch" gemacht haben. Ich stelle mir vor, dass auch im Rahmen werktreuer Interpretation dem Interpreten ein (wirklich sehr!) weiter Spielraum bleibt, der nach dessen (natürlich zeitgebundenen) Geschmack ausfüllbar ist.
 
wir finden auch kaum veränderte Goethetexte, also einen Hobbyfaust, der etwas abweicht (a la "yeah, ich bin cool, bei mir fasst der Faust dem Gretchen derb ans Gemelk, weil das find ich cooler und zeitgemäßer als das Geschwalle vom ollen Johann Wolfgang")
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wir finden auch kaum veränderte Goethetexte, also einen Hobbyfaust, der etwas abweicht (a la "yeah, ich bin cool, bei mir fasst der Faust dem Gretchen derb ans Gemelk, weil das find ich cooler und zeitgemäßer als das Geschwalle vom ollen Johann Wolfgang")

Sowas sieht man regelmäßig auf deutschen Bühnen! :D

Eine andere Variante der Ausübung interpretatorischer Freiheit habe ich mal vor ein paar Jahren in einer Theateraufführung von Dantons Tod erlebt: das Stück wurde rückwärts gespielt (also mit der letzten Szene angefangen, mit der ersten Szene aufgehört) - was, zumindest meiner Meinung nach, nicht notwendigerweise eine werktreue Widergabe im Hinblick auf die dramatische Konzeption Büchners darstellt. Man stelle sich vor, man würde die Neunte Sinfonie von Beethoven mit "Oh Freunde, nicht dies Töne" anfangen und mit dem ersten Satz beenden... werktreu? ;)
 
Die ganze Frage wird erst in dem Augenblick relevant, in dem eine wie auch immer geartete "Öffentlichkeit" (abseits des trauten Tête-à-Tête mit dem Instrument) ins Spiel kommt.

So ist es... im "stillen Kämmerlein" kann ein jeder tun und lassen was er will. Und bereits mit dem Reden darüber, was man so treibt, verläßt man im Grunde genommen das stille Kämmerlein ;)
Wenn Pianist Y z.B. auftritt, im Programm steht das Stück X, die Leute haben Geld dafür bezahlt - dann sollte auch X drin sein. Anders wäre es, wenn im Programm stünde "Eigene Variationen über X". Oder "X in Bearbeitung von Y".

Das ist zumindest die heute übliche Erwartungshaltung in der klassischen Musik.
Oder Hobbyist Z erzählt: "Ich kann X spielen", lässt aber die Hälfte der Noten weg (oder spielt es in einer stark vereinfachten Bearbeitung) - dann stimmt das halt nicht.

Dann kommt das irgendwo zwischen "unpräzise" und "angeberisch" zu liegen. Das eine ist aber nicht das andere - und auch nicht jeder, der sich unpräzise ausdrückt, ist gleich ein Angeber.
Fakt ist aber: Das Stück X gibt es. Es wurde komponiert und veröffentlicht. Ab diesem Zeitpunkt ist es in der Welt und führt ein Eigenleben.

So ist es wohl.
Das Eigenleben von Kompositionen unter den Fingern von "Interpreten" lässt sich vielleicht noch am ehesten mit Übersetzungen von Texten vergleichen. Eine Übersetzung kann (und sollte) kongenial sein - also möglichst präzise Qualität und Aussage des Ursprungstextes spiegeln. Sie wird aber niemals eins zu eins "dieselbe" sein. Zwei (oder noch mehr) Übersetzer können u.U. zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Der eine übersetzt "wörtlich" (was gerade bei historischen Texten ... irritierend sein kann), der eine "passt modernen Sprachgewohnheiten an" (entfernt sich dadurch vom Ursprungstext, macht ihn aber für seine Zeitgenossen und ihre Sprachgewohnheiten begreiflicher) oder dergleichen Abstufungen mehr.

Vergiß' aber dabei bitte nicht, daß Dolmetschen und Musizieren sich in einem wichtigen Punkt unterscheiden: das erstere ist eine Dienstleistung - und das letztere: eine Form der Kunst. Mit völlig anderen Regeln, Intentionen, Wirkungen...
Der Interpret einer Komposition arbeitet m. E. ähnlich wie ein Übersetzer, der möglichst wörtlich übersetzt. Wenn die Angaben des Komponisten eher spärlich sind, greift er auf historische Informationen zurück, die ähnlich vage sind wie die Suprasegmentalia in einem Text.

Der Interpret tut aber noch viel mehr: er bringt seine persönlichen, subjektiven Ansichten über ein Werk gezielt ein. Er sucht aktiv nach alternativen Darstellungen (eine gute Interpretation zeigt dem kundigen Hörer neue, unbekannte Aspekte des Werkes) und versucht, sich von anderen Interpreten abzugrenzen.

Als Künstler ist er nicht an einer möglichst rational-nüchternen Erledigung einer Aufgabe interessiert. Vielmehr will er die Menschen bewegen.
 
War das damals ein Irrtum? Sind die heutigen Aufführungen "richtig"?

Künstlerische Darbietungen sind wahrscheinlich dann "richtig", wenn sie das Herz (kundiger) Menschen erfreuen können ;)

Immer der Fall ist das ja nicht:
das Stück wurde rückwärts gespielt (also mit der letzten Szene angefangen, mit der ersten Szene aufgehört)

klingt nach einem Auswuchs des sog. "Regietheaters"... ;)
 
Vergiß' aber dabei bitte nicht, daß Dolmetschen und Musizieren sich in einem wichtigen Punkt unterscheiden: das erstere ist eine Dienstleistung - und das letztere: eine Form der Kunst. Mit völlig anderen Regeln, Intentionen, Wirkungen...[...]

Als Künstler ist er nicht an einer möglichst rational-nüchternen Erledigung einer Aufgabe interessiert. Vielmehr will er die Menschen bewegen.

"Die Menschen bewegen" ist allerdings ein bisschen vage. Ich habe mal erlebt, wie eine umstrittene Fidelio-Interpretation die Menschen "bewegte" - nämlich laut schimpfend aus den Publikumsreihen hinaus.

Umgekehrt - ist eine kongeniale Ilias-Übersetzung mit poetischem Anspruch "nur" eine Dienstleistung?

Alles in allem glaube ich nicht, dass man mit wissenschaftlicher Trennschärfe über Werktreue befinden kann/sollte. WAS man aber konstatieren kann:

1. Ist die Partitur korrekt wiedergegeben.
2. Ist das, was nicht in der Partitur steht, in einen plausiblen Sinnzusammenhang gerückt.
 
"Die Menschen bewegen" ist allerdings ein bisschen vage. Ich habe mal erlebt, wie eine umstrittene Fidelio-Interpretation die Menschen "bewegte" - nämlich laut schimpfend aus den Publikumsreihen hinaus.

vielleicht sollte man sagen: "Die Menschen begeistern"...? Das wäre in der Tat wohl der bessere Ausdruck... ;)
Umgekehrt - ist eine kongeniale Ilias-Übersetzung mit poetischem Anspruch "nur" eine Dienstleistung?

Nein ;) Hier beginnt dann bereits Kunst (in diesem Fall, solche mit Worten).
Alles in allem glaube ich nicht, dass man mit wissenschaftlicher Trennschärfe über Werktreue befinden kann/sollte. WAS man aber konstatieren kann:

1. Ist die Partitur korrekt wiedergegeben.
2. Ist das, was nicht in der Partitur steht, in einen plausiblen Sinnzusammenhang gerückt.

So in etwa sehe ich es auch.
 
Transkriptionen wandeln Kompositionen auch um - und man kann nicht generell sagen, daß Original besser ist als Kopie, oder umgekehrt. Bei Variationen das gleiche. Daß bei beiden die künstlerische Schaffenstiefe weit höher ist, als in einer Kleinkomposition vier Nötchen anders zu setzen, oder wegzulassen, oder eine (hoffentlich) hübschere Coda sich auszudenken, ist für mich nicht von Belang.
...was für dich privat von Belang ist, interessiert vorhandene musikalische Gattungen in keiner Weise - aber um dir ein diskussionswerte Meinung überhaupt erst bilden zu können, solltest du dich darüber informieren, dass Transkription, Paraphrase und Variation eigene musikalische Gattungen sind und deswegen nicht mit irgendeinem beliebigen "das erleichter ich mir" oder "aber hier finde ich C7 hübscher als dem Frederic seine Dissonanz" in einen Topf geworfen werden können! ;)

grobschlächtiger gesagt: es ist ein Unterschied, ob Brahms ein Schumannthema variiert oder irgendein Laie in einem Schumannstück eigenmächtig mit Änderungen herumspielt. :D
 
. Einen stark romantisierten Bach, der die Werke bis "zur Unkenntlichkeit verunstaltet", bekommt man heutzutage wirklich nur noch selten zu hören.

LG, Mick

das stimmt, an welchen Pianisten von früher aber denkst du dabei?

Z.B. gelten die Aufnahmen Wilhelm Kempffs als recht "romantischer" Bach, weich im Zugriff und relativ viel Pedal, Verzierungen oft völlig weggelassen und Vorschläge fast immer als "kurze Vorschläge".
Trotzdem gehören seine Bach-Einspielungen zum schönsten, das ich kenne.
 

...was für dich privat von Belang ist, interessiert vorhandene musikalische Gattungen in keiner Weise - aber um dir ein diskussionswerte Meinung überhaupt erst bilden zu können, solltest du dich darüber informieren, dass Transkription, Paraphrase und Variation eigene musikalische Gattungen sind und deswegen nicht mit irgendeinem beliebigen "das erleichter ich mir" oder "aber hier finde ich C7 hübscher als dem Frederic seine Dissonanz" in einen Topf geworfen werden können!

grobschlächtiger gesagt: es ist ein Unterschied, ob Brahms ein Schumannthema variiert oder irgendein Laie in einem Schumannstück eigenmächtig mit Änderungen herumspielt.

Genau das meinte ich doch mit "künstlerischer Schaffenstiefe". Was der eine macht (eine gescheite Transkription, Paraphrase, oder was auch immer komponieren, auf der Basis seines Berufes) , braucht etwas mehr Zeit und Hintergrundwissen, als das, was der andere macht.

Aber der reine Zeitaufwand sagt gar nicht so sehr viel aus über die Qualität und den Reiz künstlerischer Arbeiten. Der eine klotzt diszipliniert 'ran wie ein Ackergaul, und der andere hat die richtige Eingebung in einer kreativen Phase, zur richtigen Zeit.

Das eine kann schon mal was Durchschnittliches werden... das andere, schon mal ein Welterfolg.
 
Ich hatte mal eine interessante CD, auf der Ausschnitte verschiedener Interpretationen der Matthäus-Passion von JS Bach zusammengestellt waren. Leider erinnere ich mich nicht mehr im einzelnen an alle Aufnahmen. Ich weiß aber noch, dass eine mit Furtwängler dabei war, bei der es für den heutigen Hörer schwierig war, überhaupt zu erkennen dass es sich um Musik von Bach handelte ;).

Sind die Interpretationen von Furtwängler oder Richter nicht werktreu gewesen?

Ich glaube nicht, dass Furtwängler oder Richter im Irrtum waren, also etwas objektiv "falsch" gemacht haben. Ich stelle mir vor, dass auch im Rahmen werktreuer Interpretation dem Interpreten ein (wirklich sehr!) weiter Spielraum bleibt, der nach dessen (natürlich zeitgebundenen) Geschmack ausfüllbar ist.


die Furtwängler Aufnahme der Matthäus-Passion , die ich kenne und als LPs haben, ist ein live Mitschnitt mit etlichen Strichen (traute sich heute natürlich keiner mehr) , aber eine herrliche Interpretation ( warum man den Bach da nicht erkennen soll verstehe ich nicht so wirklich)

Anderes Beispiel : Händels Messiah unter Adrian Boult (mit dem hinreißenden Schotten Kenneth McKellar als Tenor), SEHR romantsich, breiter Streicherklang, aber für mich himmlisch schön, die schönste Messias Aufnahme, die ich je hörte ( auch sängerisch mit Bumbry, Sutherland, Ward,, McKellar)- Gesamtaufnahme zur Zeit leider vergriffen.
Oder nochmals Boult mit Bach und Händel als Dirigent für Kathleen Ferrier !! alles sehr romantisch, schöner geht's trotzdem nicht !
 
Zuletzt bearbeitet:
(traute sich heute natürlich keiner mehr) ,

...eben!

aber eine herrliche Interpretation ( warum man den Bach da nicht erkennen soll verstehe ich nicht so wirklich)

Deshalb habe ich da den Smiley ;) hingesetzt, weil das natürlich eine maßlose Übertreibung ist. :D

Was ich damit zum Ausdruck bringen wollte: die Interpretation unterscheidet sich sehr von den heutigen Gepflogenheiten in Bezug auf Chorwerke von JS Bach.

Im Folgeabsatz, den Du ja auch zitiert hast, habe ich ja extra geschrieben, dass ich nicht glaube, dass die alten, romantischeren Interpretationen nicht werktreu oder gar falsch waren. Heute spielt und singt man die Werke aber eben trotzdem anders und wer sie heute noch so spielen würde, würde sicher keine guten Kritiken darüber in der Zeitung lesen.

Nichtsdestotrotz steht es natürlich jedem frei, die alten Aufnahmen zu lieben!

Ich höre in der Weihnachtszeit ja auch immer die WO-Aufnahme mit Karl Richter, Gundula Janowitz, Christa Ludwig, Fritz Wunderlich und Hans Crass hoch und runter, auch wenn mein Mann, ein glühener Originalklang-Verfechter, sich noch so sehr darüber lustig macht...:oops:
 
das stimmt, an welchen Pianisten von früher aber denkst du dabei?

Z.B. gelten die Aufnahmen Wilhelm Kempffs als recht "romantischer" Bach, weich im Zugriff und relativ viel Pedal, Verzierungen oft völlig weggelassen und Vorschläge fast immer als "kurze Vorschläge".
Trotzdem gehören seine Bach-Einspielungen zum schönsten, das ich kenne.

Ich denke dabei an keine konkreten Pianisten - das "bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet" habe ich aus dem Beitrag zitiert, den ich mit meinem Post kritisiert habe. Ich schätze Wilhelm Kempff auch sehr, allerdings mehr seine Beethoven-, Schubert- und Schumann-Interpretationen. Bei Bach bevorzuge ich einen etwas anderen Zugang - wobei man schon sagen muss, dass Bachs Musik so universell ist, dass sie auch bei Interpretationsansätzen funktioniert, die ihr Klangideal aus dem 19. Jahrhundert beziehen. Svjatoslav Richters WTK höre ich mir auch gerne an, obwohl ich das selbst ganz anders spiele.

Zu Kempffs Zeiten waren viele Quellen, aus denen wir heute einigermaßen rekonstruieren können, wie damals artikuliert und verziert wurde, noch nicht so recht erschlossen. Im Gegensatz zu beispielsweise Liszt gibt es bei Bach auch keine lückenlose Aufführungstradition - Bachs Klavierwerke waren zwar immer bekannt, wurden aber über lange Zeit so gut wie nicht öffentlich gespielt. Pianisten wie Kempff (und Dirigenten wie Furtwängler) haben deshalb Bach zwangsweise durch die Brille des 19. Jahrhunderts betrachtet und trotzdem hörenswerte Aufführungen zustande gebracht - einfach, weil sie überragende Musiker waren. Ich vermute aber, dass Kempff heute Bach anders spielen würde. Eine Interpretation richtet sich ja nicht nur nach dem Werk selbst, sondern wird auch von der Hörerfahrung des Interpreten und des Publikums beeinflusst.

LG, Mick
 
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Ich schätze Wilhelm Kempff auch sehr, allerdings mehr seine Beethoven-, Schubert- und Schumann-Interpretationen. Bei Bach bevorzuge ich einen etwas anderen Zugang - wobei man schon sagen muss, dass Bachs Musik so universell ist, dass sie auch bei Interpretationsansätzen funktioniert, die ihr Klangideal aus dem 19. Jahrhundert beziehen.

LG, Mick

sehr schön gesagt!

Kennst du WTK mit Kempff? Leider hat er es nur ausschnittweise eingespielt, aber manches ist herrlich dabei. Richter nimmt es ja auch mit viel Pedal, (sehr hallige Aufnahme ist das obendrein), auch Edwin Fischers Einspielung würde ich in diese Interpretations-Kategorie einordnen.
Dass Kempff Bach heute anders spielen würde, ist eine interessante Theorie, bei den Verzierungen hast du sicher recht ( bei seiner Goldbergvariationen Einspielung z.B.), bei Artikulation und Dynamik bin ich mir nicht ganz so sicher, dass andere Hörerfahrungen in der Ausbildungszeit einen Künstler mitprägen ist aber sicher zutreffend, im reiferen Alter lässt das aber nach, die "großen Alten" kannten ja zB Goulds Interpretationen und viele lehnten sie grundweg ab und blieben "ihrem" Stil treu.

lG
 
Hallo liebe Foris,

vielleicht lohnt einmal ein Faden zu dem brisanten Thema "Werktreue".

Ich habe kürzlich gehört, daß Komponisten, die ihre eigenen Partituren spielen, sich über selbige schon mal hinwegsetzen. Dies wurde als Argument dafür genannt, daß man "über" die Partitur selbst auch seine eigenen Ideen setzen darf.

Wie seht ihr das?

Was ist "Werktreue", wo fängt sie an, wo hört sie auf, und: brauchen wir sie...?

Viel Spaß bei der Diskussion wünscht
Dreiklang
Eine ähnliche Disskussion hatte ich vor einigen Jahren. Heute stehe ich auf dem Standpunkt, dass Interpretation alles ist.

Das heißt, ein Interpret darf das Werk beliebig gestalten, auch verhunzen, solange er seine Aussage deutlich macht. In dem Moment in dem der Komponist ein Werk veröffentlicht, ist es nicht mehr sein Eigentum und er hat kein Recht über die "richtige" Aufführung, er wird zu einem der Interpreten, ohne Hoheitsrecht über das Werk.

Das hieße, dass erst eine Interpretation ein Werk zum Leben erweckt. Ein Text ist eine Abfolge von Buchstaben und Leerzeichen. Erst beim Vortragen wird ein Inhalt deutlich.
 
Zuletzt bearbeitet:
Eine ähnliche Disskussion hatte ich vor einigen Jahren. Heute stehe ich auf dem Standpunkt, dass Interpretation alles ist.

Das ist inzwischen auch meine Einstellung, im großen und ganzen.
Das heißt, ein Interpret darf das Werk beliebig verhunzen, solange er seine Aussage deutlich macht.

Meinst Du: seine eigene Aussage, oder die Aussage des Werkes?
In dem Moment in dem der Komponist ein Werk veröffentlicht, ist es nicht mehr sein Eigentum und er verliert jedes Recht über die "richtige" Aufführung, er wird zu einem der Interpreten, ohne Hoheitsrecht über das Werk.

De facto ist das genau so... denn er kann ja auch gar nicht verhindern, daß jemand anderes das Werk aufgreift, und umgestaltet (es sei denn, er beruft sich auf das Urheberrecht).
Das hieße, dass erst eine Interpretation ein Werk zum Leben erweckt.

insbesondere bei der Musik, einer Kunstform, die auf dem Hören basiert.
Ein Text ist eine Abfolge von Buchstaben und Leerzeichen. Erst beim Vortragen wird ein Inhalt deutlich.

Gut, still innerlich hörend lesen kann ich einen Text ja auch, genauso eine Partitur. Der Sinninhalt in beiden ist davon aber unabhängig.
 
Das ist inzwischen auch meine Einstellung, im großen und ganzen.

Meinst Du: seine eigene Aussage, oder die Aussage des Werkes?
Das Empfinden des Interpreten beim Werk.

Von der Tannhäuser-Overtüre von Richard Wagner gibt es verschiedene Aufführungen auf Youtube. Jede ist anders, jede beleuchtet das Bild neu. Manchmal frage ich mich, was sich Wagner wirklich dachte. Auf der anderen Seite würde es dem Werk den Zauber nehmen wenn ich wüsste, was denn nun "richtig" wäre.

(Abschweifung vom Thema: Bei Lang Lang ist mir die Aussage unklar. Seine technischen Fähigkeiten möchte ich nicht in Zweifel stellen, aber ich frage mich, was er mir mitteilen möchte außer dass er gut klavierspielen kann.)

De facto ist das genau so... denn er kann ja auch gar nicht verhindern, daß jemand anderes das Werk aufgreift, und umgestaltet (es sei denn, er beruft sich auf das Urheberrecht).

insbesondere bei der Musik, einer Kunstform, die auf dem Hören basiert.

Gut, still innerlich hörend lesen kann ich einen Text ja auch, genauso eine Partitur. Der Sinninhalt in beiden ist davon aber unabhängig.
Ein Bekannter von mir ist Bassist in einer Metal-Band die unter anderem Air von Bach interpretierte. Das Werk wurde dabei zerstört, trotzdem scheint der Genius von Bach durch.

Ist das Rachmaninoff-Werk Präludium Nr. 5 Opus 23 ein heiteres oder ein schweres Stück? Auf jeden Fall ist es ein Siegesmarsch ("Sinn") doch wie marschiert wird, gibt der Interpret vor.

Bei Beethoven finde ich die ganze Dunkelheit der menschlichen Existenz, aber auch die Höhen, bishin zur Transzendenz. Doch wenn Lang Lang spielt, empfinde ich nichts, mit Ausnahme meiner Hochachtung vor seinen Klavierspiel-Fähigkeiten.
 
Zuletzt bearbeitet:
Liest sich wie eine Garantieklausel. :D
"Bitte machen sie keine eigenmächtigen Änderungen. Für Änderungen im Notentext suchen sie eine Fachwerkstatt auf, sonst erlischt die Garantie" :D
(zürne nicht, es geht nur darum, dir klar zu machen, worum es geht)
natürlich darf jeder überall "Änderungen" vornehmen und sich dabei geistreich und schlau vorkommen :D
man darf auch, um ein dir geläufiges Sujet zu verwenden, bei der Reparatur eines undichten Daches statt einer Dachziegel einen frischen Hundehaufen nehmen und man darf dazu auch sagen, dass das cool, super, geistreich und überhaupt top seie - wenn es dann aber durch den Hundehaufen hindurch weiter in die Hütte hineinregnet, wird man Probleme wegen der Rechnung bekommen... :D

natürlich kommt kein Dachdecker auf die bescheuerte Idee, eine defekte Ziegel anstatt mit einer intakten Ziegel mit einem Hundehaufen zu ersetzen :)

...aber sich selbst für spitzfindig haltende Laien kommen gerne auf die Idee, "beim Chopin oder Schumann dies oder das zu ändern" (warum auch immer) - im übertragenen Sinn "leisten" diese dann dasselbe, wie der Spinner, der ein Dach mit einem Hundehaufen repariert :D

ja ja... jetzt kann man natürlich Kirkpatrick und Horowitz zitieren: der Cembalist Kirkpatrick hatte Horowitz bei dessen legendärer Scarlattiaufnahme beraten und ihm empfohlen, manches zu oktavieren (was nicht im Originaltext Scarlattis stand!) -- das allerdings ist eine Anpassung der für Cembalo komponierten Partitur an den modernen Flügel, kein Freibrief für jedermann, allerlei zu verändern und sich dabei gewitzt, kreativ und vorbildlich vorzukommen.

klar?
nein?...wirklich nicht?
...wenn nicht, dann ist Hopfen und Malz verloren... dann kann man auch Cola kaufen, in welcher Leberwurst schwimmt (weil irgendein Schlaumeier die Cola verändert hat - und wehe man beschwert sich darüber...)
 

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