Was ist am Notenlernen so schwierig?

  • Ersteller des Themas DonMias
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Es ist sicherlich ein nicht gerade oberflächliches Thema der Hirnforschung, aber ich könnte mir anhand meines eigenen Gespürs vorstellen, dass beim Notenlesen auch der Hörsinn im Wesentlichen aktiv ist. Noten rufen im Kopf ein Hörbild hervor, und sitzt man an einem Instrument, spielt man dem innerlich Gehörten nach. Der 1. Schritt geschieht sofort, wenn man Noten sieht, und der 2. ist dann gleich wie Spielen nach Gehör. Insofern gebe ich zu bedenken, ob das wirklich so eindeutig ist: "Stark visuelle Typen sind den reinen Hörtypen überlegen, was das Notenlesen betrifft."
Am Anfang trifft es sicherlich zu, zB wenn der 1. Schritt nicht stattfindet (d.h. wenn man beim trockenen Notenlesen noch nichts "hört") aber danach ist es schon ein Vorteil, Spielen nach Gehör gut zu können, vermute ich. Noten kann man in der Tat nur schnell lesen (mit ohne oder Instrument), wenn sie auch gut oder zumindest sinnvoll klingen. Andernfalls müssen selbst geübte Notenleser wieder auf Anfängerverfahren zurückgreifen – vielleicht weil der Hörsinn und das Vermögen des Spielens nach Gehör* nicht mithelfen können?

* Dass ein ähnliches Vermögen mechanisch unglaublich leistungsstark sein kann zeigt die Tatsache, dass man im Erlernen einer Sprache oft Dinge richtig ausspricht, wenn man sie unmittelbar zuvor gehört hat, und sonst nicht. Das heißt, der Sprechapparat kann Klänge produzieren, die er gar nicht kennt, allein dank dem Imitationsvermögen.
 
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Bevor es im Kopf klingen kann, dieses Hörbild, müssen die Nervensignale vom Auge erst verarbeitet werden. Notenköpfe, -hälse, -fähnchen und Balken, Taktstriche und Bögen und Ornamentik wollen erst mal identifiziert und dann in einen strukturellen Sinnzusammenhang gebracht werden, und Teilinformationen und Zwischenstände, die in diesem Prozess anfallen, müssen im visuellen Arbeitsgedächtnis zuvelässig abrufbereit abgelegt werden. Erst auf Grundlage dieser Details können Makros gebildet werden, von denen @Häretiker gesprochen hat

Das kognitiv fundierte Sehen, also die symbolische Mustererkennung, ist neurophysiologisch sehr anspruchsvoll, und in den zeitlichen Maßstäben der Evolution des homo sapiens von einem ganz anderen Kaliber als Spurenlesen am Boden oder mimische Sensorik als Beispiele viel älterer Grundkompetenzen, da die räumliche Informationsdichte um Zehnerpotenzen größer ist. Das kann noch heute nicht jeder auf gleich gutem Niveau. Die Legastheniequote im Bildungsbereich, sowie der Siegeszug der Emoticons bezeugt es.

Hab so einiges Interessante mitgenommen aus einem Buch über das Lesen, dessen Titel mir leider entfallen ist. Unter anderem, dass das infantile In-den-Mund-Nehmen von allerlei Gegenständen nicht nur das Immunsystem trainiert, sondern auch das visuelle Begreifen. Wem als Kleinkind verboten wurde, Gegenstände in den Mund zu nehmen, wer früh vor dem Fernseher geparkt und ruhiggestellt wurde, der hat nicht so gute Chancen, späterhin mit Musiknoten viel anfangen zu können. Das ist aber nur eine Vermutung, die ich aus dem Gelesenen abgeleitet habe.

Auch legastheniegeplagte reine Hörtypen können das sicher lernen. Für sie bedeutet das Notenlesen dennnoch einen höheren Energieaufwand. Verständlich, dass sich manche darum drücken, das Musizieren lieber imitativ lernen statt kognitiv. Diese haben im Extremfall vielleicht schon mit den Noten von "Alle meine Entchen" ähnliche Probleme wie ich bei Black MIDI.

Dass ein ähnliches Vermögen mechanisch unglaublich leistungsstark sein kann
Ich verstehe das nicht. Mechanik und kognitive Leistung haben ungefähr nix miteinander zu tun. Leistungsstark wirkt auch wie ein falsches Wort. Was meinst du?
 
Wem als Kleinkind verboten wurde, Gegenstände in den Mund zu nehmen,
Dieses In-den-Mund-Nehmen hat mit Musiknoten wohl nichts zu tun. Nicht alles in den Mund zunehmen, braucht einen niemand zu verbieten, man lernt es sehr schnell von allein. Werde nie vergessen, wie lecker ein kleines Häufchen frischer Hühnerkacke aussah und was für einen ekelhaften Geschmack diese auslöste. Obwohl ich diese gleich wieder ausspuckte, der widerliche Geschmack blieb in der Erinnerung erhalten.


Vielleicht bei Menschen, die sich seit frühster Kindheit oder Jugend damit beschäftigen, bei mir jedenfalls eher nicht. Ein Beispiel aus den letzten Wochen:
Bei einem heute noch öfters interpretierten Song soll die erste Veröffentlichung der Melodie 1726 erfolgt sein. Zumindest steht es so geschrieben. Aus der Melodie von 1726 hörte ich aber nicht viele Ähnlichkeiten heraus. Was ich meinte herauszuhören, hätten auch Zufälligkeiten sein können. Und in PDFs von den alten Büchern erkannte ich anfänglich ebenfalls kaum größere Ähnlichkeiten. Das änderte sich erst, als ich die Notenköpfe farblich absetzte.

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Ich verstehe das nicht. Mechanik und kognitive Leistung haben ungefähr nix miteinander zu tun. Leistungsstark wirkt auch wie ein falsches Wort. Was meinst du?
Nennen wir es das "imitative System". Ich meine, dass dieses Leistungen erbringt, die, gemessen am Ergebnis, das übertreffen können, was ein kognitives Verfahren zustande bringen würde. Mit "mechanisch" meinte ich "motorisch".
 
Ich kannte die Noten im Violinschlüssel aus der Kindheit, und muss jetzt neu die Noten im Bassschlüssel lernen.
Das Problem bei mir ist ganz klar: die gleiche Note in der gleichen Zeile ist mal ein a und mal ein c, nur weil ein anderer Schlüssel am Anfang steht.
Was hier vielleicht helfen kann: sich von dem Gedanken lösen, dass es die gleiche Zeile ist. Nur weil die Grundstruktur (5 Linien übereinander) an sich optisch gleich aussieht, handelt es sich nämlich nicht um die gleiche Zeile bzw. das gleiche System, sondern um ein komplett anderes System.

Achtung, jetzt wird es ein bisschen abgefahren, aber meine Klavierlehrerin hat mir das ganze irgendwann mal versucht mit dem folgenden Gedankenexperiment klarzumachen:

Ein guter Freund und ich kaufen uns jeder eine leerstehende Wohnung - beide Wohnungen haben 5 Zimmer, sind im Grundriss exakt gleich geschnitten und befinden sich in zwei übereinanderliegenden Stockwerken. Bevor wir die Zimmer einrichten, sehen beide Wohnungen exakt gleich aus. Ich stelle nun mein Bett (mit grünen Kissen) in das dritte Zimmer von links, und meinen Esstisch (helles Holz) in das erste Zimmer von links. An die Wand zwischen zweitem und drittem Zimmer hänge ich eine Digitaluhr. Mein Freund stellt sein Bett (mit roten Kissen) in das fünfte Zimmer, seinen Esstisch (dunkles Holz) in das dritte Zimmer und hängt eine Analoguhr an die Wand zwischen viertem und fünftem Zimmer. An meine Wohnungstür hänge ich einen Violinschlüssel, der Freund hängt einen Bassschlüssel an seine Wohnungstür.

Wenn ich mir von Anfang an klar mache, dass es sich trotz identischem Grundriss/Aussehen um zwei verschiedene Wohnungen handelt, werde ich keine Probleme haben, mich in der Wohnung meines Freundes zu orientieren. Ich kenne meine eigene Wohnung und deren Einrichtung selbstverständlich hervorragend. Wenn ich meinen Freund nun besuche, muss ich mich aber auch in seiner Wohnung orientieren. Das werde ich vermutlich so erledigen, dass ich mir einmal einpräge, wo er seine Einrichtungsgegenstände stehen hat und das dann weiß. Ich werde nicht auf die Idee kommen, mit zu überlegen, wo er seine Einrichtung im Vergleich mit meiner eigenen Einrichtung stehen hat und dann versuchen zu berechnen, wo denn nun der Tisch sein müsste. Ich merke mir einfach: sein Tisch steht im dritten Raum. Das kann ich mir direkt einprägen und das mit dem Bild der Wohnung meines Freundes verknüpfen. Dabei muss ich nicht darüber nachdenken, dass in meiner Wohnung im dritten Raum das Bett steht, bzw. dass der Tisch in meiner Wohnung im ersten Zimmer ist. Ich kann selbstverständlich darüber nachdenken, aber es wird mich in diesem Moment nur verwirren.

Es ist viel logischer, mir beim Betreten seiner Wohnung (der Bassschlüssel-Wohnung) beim Übertreten der Schwelle kurz zu vergegenwärtigen, in welcher Wohnung ich mich befinde und wie sie eingerichtet ist, als mir beim Betreten der Bassschlüssel-Wohnung vorzustellen, wo denn nun in der Violinschlüsselwohnung das Bett, der Tisch, die Uhr etc. wäre. Der Vergleich hilft mir überhaupt nicht, da mir ja absolut bewusst ist, dass es eine absolut andere Wohnung ist, die mit meiner Wohnung überhaupt nichts zu tun hat.

Und selbstverständlich ist auch die Einrichtung bei genauerer Betrachtung nicht identisch. Seine Bett (nenn wir es das "cis-Bett") hat rote Kissen, mein Bett (nenne wir es das "cis'-Bett") hat grüne Kissen. Beide Betten erfüllen den selben Zweck, aber es sind trotzdem noch unterschiedliche Betten, die miteinander auch nichts gemeinsam haben (außer der Tatsache, dass es Betten sind) - ebenso wie das kleine cis im Bassschlüssel und das eingestrichene cis' im Violinschlüssel zwei eng miteinander verwandte, aber dennoch zwei unterschiedliche Töne sind.

... und wenn ich frisch einziehe und das gesamte Haus erst kennenlerne, sollte ich mich erst mal in den Wohnungen, in denen ich mich Hauptsächlich aufhalte (meine und die meines guten Freundes) aufhalten. Den seltsamen Herrn Stockhausen aus dem Erdgeschoss, der auch manchmal in der Badewanne schläft und das dann "graphische Notation" nennt, oder den alten Herrn Ockeghem, der gegenüber in nur vier Räumen wohnt und seine Möbel als "Neumen" bezeichnet, kann ich ja auch irgendwann später erst noch besuchen.
 
Ich würde zu diesem ganzen Faden ja sagen, wer mit Noten auf Kriegsfuss steht, hat sich dafür mit Klavier das ungünstigste Instrument überhaupt ausgesucht. Oder gibt es eines, bei dem es noch mehr Noten gleichzeitig zu lesen gibt? :konfus:

Ich muss allerdings auch zugeben, dass ich zwar alle Noten schon auf einen Blick erkenne (ausser so ab der zweiten, dritten Hilfslinie zwischen den Zeilen oder so...), aber bei so einem Notengewusel, wo man mit jeder Hand 3,4 Noten gleichzeitig lesen soll, womöglich noch Achtel oder 16tel, da muss ich mich auch echt jedesmal aufraffen, das auseinanderzudröseln.

Wir gaben ein Notenheft Klavier-Querflöte, also die Flötennoten sind dagegen schon irgendwie niedlich...
 
Andererseits gibt es einige Pianisten, die blind waren / sind, z.B. Stevie Wonder, Ray Charles, Joaquin Rodrigo, Art Tatum, George Shearing. Ertasten und vor allem das Hören sind viel bedeutsamere Voraussetzungen.
 
Ich lerne auch sehr schnell auswendig und "brauche" die Noten nicht mehr. (allerdings ist das oft auch trügerisch)

Ich habe mich bisher vor dem konsequenten Zählen und dem gründlichen Notenlese-spielen gedrückt.
Meine Lehrerin brachte mir dann ein Heft mit. John Kember Piano Sight-Reading. Ich übe seit einigen Wochen damit und mache Fortschritte. Die kurzen Stücke aus der RKS, die ich noch nicht kenne, nehme ich auch dazu, um weiter am Blattspielen zu üben. Das macht sogar Laune. Wenn ich nicht so auf der Tastatur klebe, ist das viel angenehmer. Blind-Schreiben auf der Tastatur ist ja auch entspannter.

Die Intervalle und Strukturen von Notengruppen zu erkennen ist wohl ein wichtiger Punkt, um flüssig lesen zu können, das sind dann die "Wörter ", die wir im Buch auch auf einem Blick erkennen können.
 

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