Liebe Frigitte,
ich halte grundsätzlich Begriffe wie "Selbstlerner" für problematisch, denn ohne selbst etwas zu lernen, kann man überhaupt nichts lernen, sei es mit oder ohne Unterricht.
Diejenigen, die Unterricht nehmen, sind selbstverständlich auch "Selbstlerner", denn die meiste Zeit sitzen sie ohne Klavierlehrer am Instrument und unterrichten sich selbst.
Deswegen ist auch die Trennung einer autodidaktischen Herangehensweise und einer Herangehensweise mit Klavierlehrer aus meiner Sicht nicht zielführend, denn die beiden Arten vermischen sich in der Regel:
a) der autodidaktische Lernende unterrichtet sich nicht ausschließlich selbst, sondern sucht sich Materialien, Vorbilder und Möglichkeiten heraus, von denen er sich Orientierung und einen Leitfaden verspricht. Im Grunde ist das kein echtes autodidaktisches Vorgehen, denn man lässt sich von anderen leiten, von deren Ideen und Maßgaben. Das können Klavierschulen, Tutorials, Videos etc. sein.
Echtes autodidaktisches Vorgehen wäre, wenn ein Kind ein Klavier sieht und ganz allein, ohne jemand anderen, daran rumprobiert und sich ohne didaktisch-methodische Einflüsse von außen (was Tutorials, Klavierschulen etc. ja sind) musikalisch und pianistisch entwickelt.
b) der Klavierunterricht nehmende Lernende vertraut seinem Klavierlehrer, dass dieser die für ihn passende Methodik auswählen wird, seine individuellen Wünsche berücksichtigt und ihm das beibringt, was er gern lernen möchte. Er sieht den Klavierlehrer als erfahrenen Begleiter und Unterstützer auf dem Weg zu einem erfüllenden Klavierspiel, der aus der Vielzahl der Möglichkeiten die für ihn passenden und sinnvollen auswählt. Für einen Erfolg bracht er trotzdem viel Eigeninitiative, Eigenmotivation und Zeit, in denen er übt und sich selbst unterrichtet.
Ein "Autodidakt", der mithilfe von Tutorials, Klavierschuelen etc. Klavier lernen möchte, hat das Problem, das er sich nicht auskennt. Er muss also probieren und Irrwege in Kauf nehmen. Da ist grundsätzlich nichts Schlechtes dran, denn manche Menschen wollen eben "selbst probieren" und sich nicht von einem anderen Menschen leiten lassen. Sie beziehen daraus viel für sich selbst. Ich finde das völlig in Ordnung.
Nur kann es leider auch sein, dass die Irrwege nie zum Ziel führen und man sich tatsächlich "verirrt". Es kann auch sein, dass man selber das nicht merkt, weil man sich eben nicht auskennt. Dieser Herangehensweise fehlt das Element des Austauschens, des Dialogs, des Feedbacks. Mit einem Klavierlehrer bekommt man in jeder Stunde neue Anreize und Ideen, er ist Ansprechpartner für Probleme und Fragen. Ein Klavierlehrer nimmt dem Lernenden nicht das Lernen ab, aber er verhindert solche Irrwege und die Ziele werden immer klarer.
Wenn man ohne Lehrer Klavier lernen möchte, kommt es zudem sehr auf die Fähigkeiten des Lernenden an und auf seine Vorkenntnisse. Wer wie Peter in seiner Kindheit eine musikalische Ausbildung hatte, wird sich leichter tun, die richtigen Wege zu finden. Wer auf nichts aufbauen kann, tut sich deutlich schwerer. Wer eine motorische Begabung hat und gut hört, wird sich leichter tun als jemand, der verkrampfter ist und schlecht hört.
Die (wenigen) Autodidakten, die hervorragende Künstler geworden sind, haben sehr viel Zeit und Mühe aufgewendet und waren außerordentlich begabt.
Was nun dich angeht, liebe Frigitte, ist es völlig normal, dass du so viele Wege ausprobiert hast. Die Frage ist allerdings, ob du das, was du lernen wolltest, auch erreicht hast. Bist du zufrieden?
Was mich in deinem Beitrag verwundert, ist dies hier:
Wie lange ich spiele, kann ich überhaupt gar nicht so sagen: Stunden sind es eher nie, denn selbst am Wochenende unterbreche ich ständig, um was anderes (Trinken, Essen, Toilette, irgendwas findet sich immer), täglich versuche ich schon, manchmal so abartig, dass ich nur in Fernsehwerbepausen spielen. Es gibt da nämlich ein kleines (heimliches) Ziel im Herbst: Auf einem Chorwochenende ein Klavier und ein Flügel in Reichweite, da würde ich schon gern was können können.
und
Letze Planänderung: Ich habe begeistert Franz Titscher für mich entdeckt: Nie mehr üben, nur noch spielen:
und
Im Sommer 2016 kamen einfach zu viele Anreize zusammen für Klavier/Keyboard, um sie zu ignorieren:
- Eine Reportage im TV, dass Klavierlernen im Alter gut für’s Gehirn und gegen dessen Abbau ist.
- Das eine schöne Klavierstück, das im TV ständig im Hintergrund zu hören war und sich als „River flows in You“ von Yiruma entpuppte
- Das amüsante Kinderbuch „Das Leben ist kein Klavier“ von Linda Urban
- Ein Chorprojekt für das ich eigenständig Noten lernen musste und mir das gerne auf einem Klavier hätte vorspielen können.
- Meine Chornebensitzerin: „Mach doch, mit 80 bereust Du‘s vielleicht.
- Dass praktischerweise jemand sein Zweitkeyboard übrig hatte.
Ich vermisse hier eine aus meiner Sicht unerlässliche Voraussetzung, um Klavier spielen zu lernen, sei es mit oder ohne Lehrer:
Leidenschaft!
Ein Lamb hat mit Sicherheit nicht nur kurz am Klavier gesessen, sondern sich sehr ausdauernd mit der Materie beschäftigt. Die Klänge erkunden, mit glühenden Ohren am Klavier sitzen, das Sinnliche genießen, wenn die Fingerkuppen die Tasten berühren - von all dem steht nichts in deinem Beitrag!
Du schreibst begeistert "Nie mehr üben, nur noch spielen". Es ist auch sehr sinnvoll, wenn man sein Üben als Spielen begreift (übrigens auch umgekehrt :D), aber Franz Titscher hat natürlich die Sinnhaftigkeit eines guten Blattspiels für ein schnelleres Fortkommen auch beim Üben gemeint. Ich verstehe deine Begeisterung so, dass du eher ungern übst, aber viel lieber mehr spielen möchtest. Ohne Üben kann man aber nicht Klavier spielen lernen. Man kann aber wiederum so üben, dass es Spaß macht und dem Spielen sehr nahe kommt, was wiederum u.a. ein guter Klavierlehrer zeigen kann. :D
Und dann schreibst du als ersten Punkt, der dich zum Klavier spielen lernen motiviert hat: "Eine Reportage im TV, dass Klavierlernen im Alter gut für’s Gehirn und gegen dessen Abbau ist."
Auch hier vermisse ich die Leidenschaft für Musik und das Klavierspielen.
Vielleicht ist also deine bisherige Herangehensweise mit allen Irrungen und Wirrungen genau das Richtige für dich. Wenn du dich nun allerdings in einem Klavierforum anmeldest, was ich sehr schön finde, denn offenbar hast du ja doch das Bedürfnis nach Feedback und Austausch, ist es kein Wunder, dass viele dir sagen, dass du einen Klavierlehrer zumindest ausprobieren solltest. Der Appetit kommt beim Essen und wenn du nur noch gute Kost vorgesetzt bekommst, kann auch die Motivation steigen. Es kann auch sein, dass du erkennst, "nee, Klavierlehrer, das ist nichts für mich!" Ohne Ausprobieren kann man es halt nicht beurteilen. :)
Liebe Grüße, halt die Ohren steif! :D
chiarina