Warum kein Lehrer?

Das bleibt mir jetzt ein wenig im Ungefähren; wo geschieht das denn? Und warum wehren die betroffenen Musiker eine solche Zumutung nicht mit dem nachdrücklichen Hinweis ab, daß sie von der Ausübung ihrer Musik ebenso leben müßten wie die Frau / der Herr Pfarrer von der Verkündung der Frohbotschaft? Und warum lehnen sie die Offerte nicht einfach ab, wenn sie nicht nachgebessert wird? Wenn es das Budget dann nicht hergibt - und tatsächlich ist das Kirchenmusikbduget der Gemeinden in der Regel lächerlich klein - muß man halt auch konsequent sein und ablehnen, sonst begibt man sich auf den selbstverschuldeten Weg in den Honorarverfall.

Hi sla019,

Bitte hab Verständnis dafür, dass ich keine Namen öffentlich nennen werde. Warum Dein A-Musiker sich mit der B-Bezahlung zufrieden gibt, und warum die Opern- und Hochschulmusiker unter dem Preis spielen, kannst Du sie selber fragen.

Mein Eindruck ist, dass die Musiker oft Idealisten sind. Wenn sie sich gebraucht fühlen, dann geben sie. Außerdem kam die Verschlechterung schleichend. Einmal 50 Euro weniger, das ist noch zu verkraften, insbesondere wenn man merkt, dass die Gemeinde dankbar ist. Zehnmal 50 Euro weniger macht sich aber bemerkbar, vor allem, wenn gleichzeitig die Lebensunterhaltungskosten steigen, und die Gemeinde nicht mehr dankbar ist, weil sie sich dran gewöhnt hat. Auch bei der Umstellung auf Spendenbasis ändert sich zuerst praktisch nichts, weil die Gemeinde dankbar ist und entsprechend spendet. Die Gewöhnung tritt aber bald ein, und dann kann man froh sein, wenn jemand einen 5 Euro Schein in den Beutel tut (und nicht 1 Euro oder 2 Euro).

So ein Erklärungsversuch.
 
Ich weiß nicht, wie oft es vorkommt das jemand im Berufsleben immer ausgezeichnete Leistungen bescheinigt bekommt, aber dennoch nie vorwärts kommt... Ihm ist es auf jeden Fall immer so ergangen dass seine Loyalität einfach ausgenutzt wurde.

Oft. Sehr oft. Leider kommen heutzutage nur die Blender vorwärts, diejenigen, die sich gut verkaufen und selbst darstellen. Diejenigen, die die Knochenarbeit erledigen, haben dafür keine Zeit, treten beruflich und finanziell auf der Stelle. Es werden ihnen immer die Karotten vor die Nase gehängt, die sie naturgemäß nie erreichen können.

"Wenn Arbeit reich machen würde, würden den Eseln alle Mühlen gehören."
 
Ich jedenfalls habe mehr Respekt für Leute, die versuchen, auf die Missstände aufmerksam zu machen, als für Leute, die resignieren und nett bleiben, weil eh keiner auf sie hören würde.

Am meisten habe ich Respekt vor Leuten, die sich für andere einsetzen. Dafür braucht man Kontakte. Kontakte hat man nur, wenn man "sociable" ist (die Franzosen haben ein Wort dafür, das im Deutschen nur behelfsmäßig mit "umgänglich" zu übersetzen ist). Mit "resignieren und nett bleiben" hat das nichts zu tun. "Netten" Menschen wird von privat eher geholfen als Menschen, die einen Zaun aus Stacheldraht um sich ziehen und überdies noch mit verbalen Feuerwaffen jede Annäherung abwehren.

Das zeigt, in welchen Kreisen du (schon immer) verkehrst. Da kann ein Hartzer i.d.R. nicht mithalten.

Da kann und will ich Dir nicht widersprechen. Die Jugendlichen, die ich angesprochen habe, stammten aus "kleinen Verhältnissen", sonst hätte ich sie ja nicht angesprochen - die eine z. B. habe ich seit ihrem 14. Lebensjahr kostenlos meine Pferde reiten lassen, mir war bekannt, dass in der Familie das Geld nicht locker sitzt. Eine andere war Halbwaisenrentenbezieherin und die dritte weiß ich jetzt gar nicht mehr. Hartzer waren es nicht, das stimmt. Den Arbeiter, dem ich das Auto letztlich geschenkt habe, kannte ich nicht, aber ich kannte den Kleinunternehmer, der wiederum ihn kannte und wusste, dass er was fürs ganz kleine Geld (oder für umme) sucht.

Das war es auch, was ich mit "sozialen Kontakten" meine. Man kennt Leute, die wiederum kennen auch Leute (und so weiter). Irgendjemand (A) hat ein Anliegen, teilt dies seinen Kontakten (A²) mit, und wenn diese selbst nicht helfen können, "hören sie sich mal um" (A² hoch A² - man verzeihe die Unbeholfenheit des Versuchs einer mathematischen Darstellung). Damit potenziert sich der "Bekanntenkreis". Irgendjemand kennt irgendjemanden, der sich um das Anliegen eines ihm unbekannten Menschen kümmert, um demjenigen einen Gefallen zu tun, der ihn angesprochen hat. Damit wird wieder ein neuer Kontakt geknüpft.

Oder: Jemand sucht einen Job, bittet seine Kontakte "hört Euch mal um". Die Kontakte "schwärmen aus" und irgendjemand von all diesen angesprochenen Leuten kennt jemanden, der gerade jemanden sucht. Problem dabei: Der Kontaktvermittler ist gewissermaßen der Bürge. Deshalb profitieren von diesem System in der Regel vor allem Leute, die "sociable", zuverlässig und empfehlenswert sind.

So funktioniert Zivilgesellschaft.

Man bleibt ja mehr unter sich. Das ergibt sich aus ganz profanen Alltagsgegebenheiten. Beispiel gefällig? Ich wurde im Jazzchor mehrmals gefragt, ob ich nach der Probe mit essen ginge. Natürlich nicht, weil ich mir sowas nicht leisten kann. Dann wurde mir nett angeboten, daß ich ja auch nur so dabei sitzen könne, vielleicht mit einem Wasser. Jo klar, hättest du da Bock drauf? Den anderen beim Spachteln zuzusehen? Nein, da verzichtet man ganz und gehört halt nicht dazu -- so einfach ist das. Es läge mir auch fern da um Spenden zu betteln.

Du beschreibst leider einen Teufelskreis. Man fand Dich offenbar nett und hätte Dich gern dabeigehabt. Du hast Dich zurückgezogen. Das ist schade - es geht bei solchen lockeren Treffchen sicher nicht darum, wer das teuerste Essen bestellt, sondern wer ein angenehmer Typ ist, mit dem man Spaß haben kann. Ob der jetzt bei einem Glas Wasser oder einem Château Margaux dabei ist, interessiert doch niemanden.

Sie lernen sehr früh, sich für ihr bloßes Dasein zu schämen. Das ist sehr übel.

Ich befürchte, das ist der Auslöser für diesen Teufelskreis. Nach allem, was Du so andeutest, hast Du keinen Grund, Dich "für Dein bloßes Dasein" zu schämen. Du hast aber offenbar seit langer Zeit verinnerlicht, was Du oben schreibst, und stößt Deinerseits Leute (siehe Beispiel Jazzchor) zurück, die offenbar tatsächlich gern mit Dir zusammen wären - und zwar mit Dir als Mensch, als Kumpel, nicht mit Deiner "Rolle".

Wahrscheinlich steckst Du in einer Spirale der "self-fulfilling prophecy". Du hast in einer prägenden Phase Deines Lebens Zurückweisung und Erniedrigung empfunden/erfahren und gehst unbewusst davon aus, das das immer so weitergeht. Woraufhin Du Dich so verhältst, dass es auch tatsächlich so weitergeht.

Das ist wirklich übel. Du hast doch was drauf. Es gibt keinen Grund, diesen Panzer aus Stacheldraht aufrecht zu erhalten. Die Zurückweisung, die Du z. B. hier erfährst, beruht ausschließlich auf dem Stacheldraht - Du weißt, worauf ich anspiele. ;-) Wie wär´s - innere kopernikanische Wende vollziehen, die anderen nicht als Deine potenziellen oder tatsächlichen Gegner ansehen und entsprechend behandeln, sondern einfach mal davon ausgehen, dass die allermeisten Leute "sociable" sind und nicht dazu neigen, jemanden zurückzuweisen - jedenfalls nicht aufgrund seiner finanziellen Situation?
 
Am meisten habe ich Respekt vor Leuten, die sich für andere einsetzen. Dafür braucht man Kontakte. Kontakte hat man nur, wenn man "sociable" ist (die Franzosen haben ein Wort dafür, das im Deutschen nur behelfsmäßig mit "umgänglich" zu übersetzen ist). Mit "resignieren und nett bleiben" hat das nichts zu tun. "Netten" Menschen wird von privat eher geholfen als Menschen, die einen Zaun aus Stacheldraht um sich ziehen und überdies noch mit verbalen Feuerwaffen jede Annäherung abwehren.

Hi Barratt,

Gerade bei Themen, wo man sich schämt (bzw. sich schämen muss, weil man durch die Gesellschaft stigmatisiert wurde bzw. wird), finde ich es eine große Leistung, trotzdem den Mund aufzumachen, auch wenn viel Gegenwind zu erwarten ist. Dass das Thema Missbrauch in die Öffentlichkeit kam, liegt nur dran, dass mehr Betroffene sich als solche bekannt haben, anonyme Internetforen sind für solche Themen natürlich ein Segen, weil man einen gewissen Schutz hat und merken kann, dass man nicht alleine ist. Oft haben Menschen, die sich schämen müssen, nur die Wahl zwischen Kämpfen (dann ist man eben auch nicht immer umgänglich, weil man auch unbequeme Tatsachen aussprechen muss und dafür "gemaßregelt" wird) oder sich verstecken und nett sein, um zu Überleben (was die Betroffenen durchaus versuchen, z.B. den Missbrauch verschweigen und eine Ausbildung machen und hoffen, dass man ein neues Leben aufbauen kann). Die Tatsache ist aber, dass man die eigene Lebensgeschichte nicht auslöschen kann, ein Löschungsversuch rächt sich irgendwann gesundheitlich.

Den Teufelskreis beschreibst Du schon treffend, wer von klein an immer als Schmarotzer beschimpft wurde und sich geschämt hat, der Gesellschaft auf der Tasche zu liegen, möchte nicht wieder in dieselbe Situation kommen, wo man anderen aus dem Chor auf der Tasche liegt und sich schämen und wie Mitglied 3. Klasse fühlt. Wie demütigend das sich anfühlt (weil man die Demütigung schon zu gut kennt), kann, glaube ich nicht jeder nachfühlen.

Von den anderen Jugendlichen kann man nicht erwarten, das Angebot so zu gestalten, dass man nicht an Würde und Stolz des Betroffenen kratzt. Es wäre aber natürlich schön gewesen, wenn z.B. der Chorleiter sich was ausgedacht hätte in die Richtung.

Ich finde es gut, dass Rastamann sich hier gewagt hat, gegen Vorurteile und Angriffe ("steh mal morgens auf") zu wehren und zu kämpfen.
 
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Naja, aber wenn man als anwesender Normalverdiener dann jemanden, der gerade knapp bei Kasse ist (das muss nicht mal ein Hartzer sein) aus Sympathie und reiner Freundlichkeit heraus einfach spontan einladen will, dann ist dem das auch wieder nicht recht... Das Gefühl kenne ich nämlich von der Seite her auch, und dann kann man nun leider wirklich nix mehr machen.
Naja das für mich schlimme ist ja, dass man anbietet der bekannt mittelose könnte ja bei einem Glas Wasser dabei sitzen. Die normale soziale Reaktion wäre gewesen, dass entweder die Gruppe dem finanziell unpässlichen kurz gemeinsam das gleiche Essen und Trinken spendiert, oder dass derjenige, der zuerst den bekanntermaßen unterfinanzierten aufgefordert hat doch mitzukommen, sofort auch eine herzliche Einladung ausspricht - und dass das auch durchgesetzt wird, trotz verständlicher Abwehrreaktionen des Eingeladenen. Einer aufoktroierten Einladung muss man sich nämlich auch nicht verpflichtet fühlen, und das wissen auch die Einladenden.
 
Eine Anmerkung gönn' ich mir:

Was mich sehr nervt, ist, dass die (ich nenne sie mal einfach so) Reichen alles für selbstverständlich nehmen.
dickes Bankkonto mit 12, Führerschein mit 16 angefangen, immer die tollsten und modernsten Sachen. Oder Taschengeld 50€.

Wenn Du als Kind aus einer Familie kommst, die sich das alles nicht leisten kann, kommt dann das Unverständnis und das dumme Nachfragen, warum Du das nicht auch hast .

Die sind dann auch noch stolz, dass sie das haben, obwohl Mutti und Vati alles bezahlt haben. :dizzy::dizzy:
Ich muss mal ehrlich sagen, so eine Reaktion unter Jugendlichen ist eigentlich unvorstellbar, genauso wie das Markensachenangeben. Also in der eigenen Schulzeit und mit meinen Kindern habe ich nie solche Argumentationen gehört, oder von anderen als hörensagen vernommen.

Ich meine, da werden einfach die Aussagen von einigen wenigen sozialamputierten Unterbelichteten hochgerechnet. Jedes Kind weiß doch ganz genau, dass es von den anderen in der Regel wegen Kameradschaftlichkeit, Aufgeschlossenheit, Unternehmenslustigkeit, und letztendlich auch wegen angenehmer "Schwatzeigenschaften" gemocht wird. Ein paar werden noch mehr angehimmelt, weil die schon früh Führungskompetenzen durch eine gewisse anziehende Aura entwickeln (und mit Geist verbinden). Es wird immer nur eng, wenn solche Leithammel ihre Aura missbrauchen und es genug hirnlose Hammel gibt, die dann beim Bashing eines Opfers mitmachen - welches man übrigens mit höherem Bildungsgrad nicht nur aber meist auch einhergehendem hohen Grad an Selbstbewusstsein weniger findet.
 
Ich muss leider Ludwig beipflichten und wundere mich, dass du, elli, dich über Ludwigs Aussagen wunderst.
Vor allem bei deinem "Jedes Kind weiß doch ganz genau..." - Satz musste ich zweimal lesen, um sicher zu gehen, dass ich keine Ironie überlesen habe (und bin immer noch ein wenig unsicher.)
Aber ich kenne mehrere Personen, die es wie du sehen und leite daraus ab, dass ich mehrere oder andere Einblicke in derartige Gefüge habe.


Anekdote: Angesichts einer der ersten Blechkisten, die ich als Auto fuhr, meinte eine Kommilitonin ernsthaft überrascht: "Wollen deine Eltern nicht, dass du ein sicheres Auto fährst?"
 
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Ich finde es schrecklich herrlich, wie viele sach- und methodenfähige Personen hier im Forum einige Zeit zusammenrecherchieren, wie ein Kind oder Jugendlicher sich und sein Klavierspiel trotz schlechter finanzieller und sozialer Lage voranbringen könnte - und allein dabei auf Hindernisse und Widersprüche treffen. Dabei frage ich mich, ob hier wirklich noch ernsthaft jemand meint, dass diese Arbeit das betreffende Kind (inklusive Behördengänge oder Vorsprechen bei den Rotariern etc) tatsächlich alleine meistern würde.
Das ist doch Unfug.
"Da mache ich mich doch mal auf die Suche, ob mich armen Tropf nicht jemand unterstützen möchte." SO denkt ein Kind nicht oder nur ein minimaler Bruchteil, der zufällig erfährt, dass es außer den Eltern noch andere Personen gibt, die grundsätzlich Hilfe anbieten.
 
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Angesichts einer der ersten Blechkisten, die ich als Auto fuhr, meinte eine Kommilitonin ernsthaft überrascht: "Wollen deine Eltern nicht, dass du ein sicheres Auto fährst?"
Die beste Antwort auf so was ist blanker Sarkasmus :-D. Auf dein Beispiel bezogen wäre eine gute Antwort:
"Nein, sie wollen dass ich einen Unfall baue und dabei sterbe. Darum haben Sie auch die Airbags ausgebaut und die Bremsleitungen durchgeschnitten!"
 
Man versteht ja, wie eine solche, auf den ersten Blick naiv anmutende Frage zustande kommt.
Damals war mir aber eher unklar, wo überhaupt der Zusammenhang zwischen meinem Auto und meinen Eltern sein sollte.


@Nebentopic: Was man vielleicht noch erwähnen sollte, ist, dass es insgesamt schon mehr Anlaufstellen als früher gibt und das ist doch gut.
 

Ich wurde im Jazzchor mehrmals gefragt, ob ich nach der Probe mit essen ginge. Natürlich nicht, weil ich mir sowas nicht leisten kann. Dann wurde mir nett angeboten, daß ich ja auch nur so dabei sitzen könne, vielleicht mit einem Wasser. Jo klar, hättest du da Bock drauf? Den anderen beim Spachteln zuzusehen? Nein, da verzichtet man ganz und gehört halt nicht dazu -- so einfach ist das. Es läge mir auch fern da um Spenden zu betteln.
Insofern schade, als ein Chor grundsätzlich so funktionieren sollte, dass beim Singen in Gemeinschaft eigentlich alle auf Augenhöhe agieren sollten. Egal was jemand sonst beruflich macht und wie seine Brieftasche gefüllt ist - beim Singen sind in ihrer jeweiligen Stimme alle gleich, keiner soll sich hervortun und keiner soll als entbehrlich aussortiert werden. Wie wollte man sonst als Chorleiter gemeinsam mit den Chormitgliedern am Ensembleklang feilen? In optischer Hinsicht soll das Miteinander durch eine identische Chorkleidung, Sängeruniform oder Tracht hervorgehoben werden, wobei in den letzten Jahren der Trend von der "Uniformierung" wegführt, die eigentlich mal gut gemeint war: Es sollten nicht die einen im schicken Maßanzug und die anderen mit der sichtbar in die Jahre gekommenen Kaufhaus-Kombination von der Stange auf die Bühne gehen, um soziale Unterschiede im Verein zu betonen.

Da "gut gemeint" nicht identisch mit "gut gemacht" ist, haben Traditionsvereine singender Laien mit Nachwuchssorgen zu kämpfen. Viele der immer älter werdenden Mitglieder kann man gutbürgerlichen Gesellschaftsschichten zurechnen, in denen man keine materiellen Sorgen mehr kennt. Teilweise wird der Vereinsbetrieb massiv durch den Umstand beeinträchtigt, dass man sich mehrere Urlaubsreisen im Jahr leisten kann und des öfteren nur die halbe Mannschaft da ist. Und jetzt kommt der entscheidende Anknüpfungspunkt: Warum nicht weniger betuchte Gesellschaftsschichten kontaktieren, in denen man auch gerne singt? Da organisiert man also Begegnungen mit gut deutsch sprechenden Spätaussiedlern, mit Geringverdienern, Frührentnern, Hartz-IV-Empfängern oder Studenten, denen man problemlos Zahlungsverpflichtungen (Mitgliedsbeiträge, Reisekosten, Umlagezahlungen für Notenmaterial und dergleichen) zu erlassen bereit wäre, zumal in vielen Vereinen kameradschaftliche Strukturen existieren: Umzugshilfe, handwerkliche Dienstleistungen, Kinderbetreuung, Wohnungssuche - in allen von mir geleiteten Chören könnte ich eine lange Liste von hilfsbereiten Mitmenschen erstellen, die man im Bedarfsfalle sofort um Unterstützung bitten könnte und die in vergleichbaren Lebenslagen immer zugepackt haben, ohne darüber große Worte zu verlieren. Selbst wenn gerne und gut singende Interessenten finanziell wenig bis überhaupt nichts beisteuern könnten, würden sie nicht abgewiesen werden - aus der Praxis "meiner" Vereine weiß ich, dass es immer einen Lösungsweg gibt. Der gehässige Satz, dass man beim ADAC ja auch ohne Leistung keine Gegenleistung bekäme, würde bei uns keinem Vorstandsmitglied über die Lippen kommen.

Warum es in den Gemeinschaften trotzdem sehr wenige Mitglieder gibt, die sich nicht gutbürgerlichen Milieus zurechnen wollten, hat vermutlich andere Gründe. Aus @Rastamans Beobachtungen beim Jazzchor könnte man diverse Motive ableiten: Die anderen trinken Sekt und man selber muss sich mit Selters begnügen, mitleidige Blicke der Nebensitzer inklusive. Die anderen essen à la carte und man selber leistet sich nicht einmal die Tagessuppe. Was also tun? Andere anbetteln? Andere anpumpen? Sich als wirtschaftlich unterlegen outen und auf Mitleid spekulieren, damit einem die anderen den Deckel zahlen? Es ist leicht nachvollziehbar, dass man sich dabei nicht wohlfühlt, vor anderen "die Hosen runter zu lassen". Da hilft es vermutlich auch nicht, wenn man dies nicht vor allen versammelten Mitgliedern tut, sondern dem Vorsitzenden unter vier Augen beichtet, dass man leider sehr knapp bei Kasse ist. Wird Gesichtsverlust befürchtet, bleibt man lieber ganz weg und zementiert damit letztlich die sozialen Gegensätze, die man eigentlich überwinden wollte.

Nur sehr bedingt eine Lösung sind die in den letzten Jahren entstehenden Chorprojekte, in denen man unter sich bleibt, wenn man wenig oder gar kein Geld hat: "Straßenchor", "Arbeitslosenchor" oder ähnlich betitelte Initiativen schaffen zwar für entsprechende Bevölkerungsschichten Betätigungsmöglichkeiten, nicht aber die Perspektive, damit allein einen sozialen Aufstieg zu bewerkstelligen. Aber vielleicht gelingt damit immerhin ein Anfang.

Abschließend sei gesagt, dass ich der Einschätzung als "bildungsbürgerlicher" Chorleiter mit dicker Brieftasche vermutlich nicht annähernd entspreche: Das von @Barratt zum bestandenen Abitur einst zu schenkende Auto würde ich aufgrund meiner Sehbehinderung gar nicht fahren können; ein Führerschein ist für mich lebenslang nicht drin. Die Aufwendungen für eine exzellente künstlerische Ausbildung hatten für mich zur Folge, mir Urlaubsreisen und eine kostspielige Lebensführung gar nicht leisten zu können - aber eigentlich auch gar nicht zu wollen. Und einen Großbildfernseher mit Sky-Abo sucht man in unserem Haushalt vergebens. Wozu auch? Ich stehe in dieser Zeit lieber vor meinen Chören, sitze auf der Orgel- oder Klavierbank oder schreibe die Noten für das nächste Bühnen- oder Ensembleprojekt. Wichtig ist es, bei der Prioritätensetzung im Leben eindeutig Ja sagen zu können statt verpassten Gelegenheiten hinterher zu trauern.

LG von Rheinkultur

P.S.: Ein gemeinsames Essen nach erfolgreichen Projekten und zur Jahreshauptversammlung gehört bei den meisten "meiner" Chöre zum Vereinsalltag - selbstverständlich aus der Chorkasse finanziert. Es sollte demnach nicht nur ein weniger betuchtes Mitglied auf so einen Anlass monatelang sparen müssen, sondern sich auch ruhig eine Vereinsführung mal Gedanken darüber machen, wie man eine Gemeinschaft harmonisch zusammen wachsen lässt. Über das ambitionierte Musizieren hinaus sollte nicht in Vergessenheit geraten, das dieses von ganz normalen Menschen ausgeübt wird.
 
Naja, Mindestlohn heißt ja, du kriegst jetzt ne Teilzeitstelle - verlange aber von dir vollzeit zu arbeiten. Sonst wirste entlassen.

Das erste was ich in meinem Vorstellungsgespräch vor zwei Jahren sagte, dass ich 0% Reisebereitschaft habe. Und ich wurde tatsächlich genommen..
Bestimmt als Wachmann vorm Buckingham-Palast !
 

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