Habe kürzlich einen 190er Blüthner von 1894 ohne Aliquot probiert, der auch komplett und liebevoll überholt war. Das war einer der faszinierendsten Flügel, die ich je gespielt habe. So einen cremigen und präsenten Ton mit soviel Bassvolumen aus der kurzen Länge hatte bislang kein zweiter.
Viele Grüße
Michael.
Hallo dermb/Michael,
was du beschreibst, kommt mir sehr bekannt vor - allerdings mit einem etwas anderen Erfahrungswert, der dich vielleicht verblüfft. Nach meiner Erfahrung sind die 190er von Blüthner, mindestens ab ca. 1890 bis ca. 1920er Jahre, irgendwie
alle so. Wenn man die richtig mit Liebe ausarbeitet, kommt da ein Klang raus, der unentrinnbar den Eindruck erweckt: es gibt sehr wohl
andere Instrumente, und die darf es auch geben, weil die Geschmäcker verschieden sind. Aber
bessere als diese Blüthner 190...? - Nun gut, die mag es für extreme Ansprüche auch geben. Aber als normal sterblicher klangbegeisterter Mensch hat man erstmal keine Fragen mehr, angesichts dieser Instrumente. Der Blüthner-190 aus den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende (vom 19. zum 20. Jh.) zählt m. E. zu den besonders gelungenen und ausgewogenen und charakterstarken, also insgesamt überzeugenden Flügelklangkonzepten.
Allerdings mit einer gewissen Nebenwirkung - wo Licht ist, ist auch Schatten. Bei Blüthner hat man offensichtlich auf größtmögliche Klanglänge aus kompakter Gesamtlänge gesetzt. Eigentlich müsste der 190er etwa 200 bis 210 cm lang sein (dem entspricht auch der Bassklang, den du erwähntest). Dann wäre er nämlich auch mechanisch optimal. Doch die Mechanik beim damaligen Blüthner-190, und genau so sogar beim 210er, war knapp und kurz bemessen.
Wenn man heute solch ein Exemplar mit
Normalmechanik bekommt, dann ist man noch recht gut bedient. Mit den Tastenhebeln, die deutlich kürzer sind als z. B. bei zeitgenössischen Ibach-Flügeln, kann man dennoch prima leben, sogar professionell.
Dumm wird es allerdings mit der sehr häufigen Blüthner Patent-Mechanik. Wegen ihrer anderen Konstruktion sind bei ihr die Tastenhebel anders konstruiert, und die Länge der vorderen Tastenhebel ist noch kürzer und demgemäß wirklich knapp. Die Patentmechanik ist eigentlich klasse (aber nur bei kluger Einrichtung), aber kurze Tastenvorderhebel sind was für Kleinklaviere. Und nicht für konzerttaugliche Flügel.
Nicht zuletzt deshalb wird sich die Patent-Mechanik auch irgendwann überlebt haben. Bislang kenne ich lediglich einen Flügel, bei dem die Blüthner-Patentmechanik mit langen Tastenhebeln zusammenwirkte. Die spontan erlebbare Spielart war schon ein erstaunliches Aha-Erlebnis... aber dieser Flügel war nicht von Blüthner selbst gebaut. Sondern von einem schlauen Leipziger Lizenznehmer (Carl Lerpée, kennt wohl kaum jemand), der diese Mechanik in eine Ibach-ähnliche Flügelkonstruktion eingebaut hatte.
Die drei Bilder zeigen
a) die Blüthner-190-Normalmechanik (Tastenlänge akzeptabel)
b) die Blüthner-190-Patentmechanik (Tastenvorderhebel sehr kurz)
c) Tasten des zeitgenössischen Ibach-200 aus anderem Blickwinkel, aber auch so als deutlich länger als bei Blüthner-190-Normalmechanik erkennbar
Gruß
Martin
PianoCandle
... und aus Krach wird Klang