Ich lehne mich jetzt mal aus dem Fenster und behaupte, daß eine einzige didaktisch richtig aufgezogene 90min-Einführungsdoppelstunde durch einen fähigen Klavierlehrer schon sämtliche Anfänger-Online-Tutorials komplett obsolet macht.
Ich würde sogar noch weiter gehen und fragen: Wozu überhaupt diese Unterrichtsform? Die reine Wissensvermittlung ist nur eine Komponente unter vielen eines erfolgreichen Unterrichts - möglicherweise noch nicht mal die wichtigste. Sehr entscheidend ist es nämlich, das Lernen selbst zu lernen:
- Wie erkenne ich das Wesentliche?
- Wie strukturiere ich die Inhalte, um sie verstehen, aufnehmen und verinnerlichen zu können?
- Gibt es Dinge, die die Wissensverarbeitung stören?
- Ist die Anwendung der erworbenen Kenntnisse in sich stimmig?
- Gelingt es mir, die Bewältigung von Schwierigkeiten zu automatisieren oder ist das saubere, souveräne und differenzierte Spiel eher Glückssache?
- Kann ich das Gelernte auf neue Projekte selbständig übertragen?
...und so weiter. Die Erfordernisse füllen einen ganzen Katalog und deren erfolgreiche Bewältigung setzt Supervision von außen voraus, zumal vier Ohren mehr hören und vier Augen mehr sehen als jeweils deren zwei. Mit dem Anfertigen und Auswerten von Audio- und Video-Dokumenten kann man dieses Gegenüber teilweise, aber nicht zur Gänze ersetzen.
Solche Online-Angebote präsentieren allein die Lerninhalte und oftmals schon diese nicht einmal gut. Der Lernende wird dann vor dem Bildschirm allein gelassen und muss selbst schauen, was er mit dem Dargebotenen anfangen kann. Ob die Inhalte eher richtig oder eher falsch aufgenommen werden, stellt sich erst heraus, wenn die Unzulänglichkeiten so groß geworden sind, dass man selbst ohne gewachsenes Verständnis das Misslingen irgendwann nicht mehr übersehen, sondern bestenfalls verdrängen kann.
Das Lernen selbst ist ein stetiger Prozess und nicht das Aneinanderreihen von Momentaufnahmen - oft schon am Wortlaut der Einzeldisziplinen erkennbar: Nicht umsonst lautet der Begriff für die Entwicklung eines sensiblen und differenzierten Hörens "Gehör
bildung", es genügt nicht, das richtige Hören einmal demonstriert zu bekommen und darauf zu vertrauen, dass alles weitere schon von selbst folgen wird.
Denkbar wäre allenfalls, dass ein ausgebildeter Konzertsolist und erfahrener Pädagoge
teilweise mit solchen Tutorials zurecht käme, wenn er ein neues Blas- oder Streichinstrument erlernen wollte, da er die erwähnten Lerntechniken aus der eigenen Praxis als Berufsmusiker bereits kennt. Trotzdem würden die meisten Kolleginnen und Kollegen dankend auf solche Videos verzichten und sich die Bogenhaltung oder den Ansatz lieber in der Praxis im Dialog mit einem Experten vermitteln lassen.
Persönliches Fazit: Wer mit diesen Tutorials arbeiten könnte, möchte dies nicht - und wer wirklich auf solche Online-Angebote reagiert, landet schnell auf dem Boden der Tatsachen. Für die Profi-Kollegen machen Piano-Tutorials schon deshalb keinen Sinn, weil diese spätestens im Rahmen ihres Studiums das Nebenfach Klavier belegen müssen und selbst bei wenig Interesse am Instrument schon bessere Fertigkeiten besitzen als solch ein Tutorial zu vermitteln vermag. Wer zumindest von Zeit zu Zeit mal wieder eine Musikhochschule von innen sieht, wird sich von dieser Realität schnell überzeugen können.
LG von Rheinkultur