Lieber Ambros,
in aller Kürze, ganz unwissenschaftlich und ohne Quellen: Schostakowitschs Erste ist ein Wunderwerk an Reife - in Hinblick auf sein künftiges Schaffen, denn sie nimmt Charakteristika seiner späteren Symphonik (vor allem die Finalproblematik) vorweg.
Als Hörer muß man sich von den Wesensmerkmalen deutsch-österreichischer Muster befreien, die die klassisch-romantische Symphonik geprägt haben (gewisse Aspekte bei Mendelssohn, Schubert und Bruckner mal außer Acht gelassen), vor allem vom Ideal der Entwicklungslogik, d.h. einer die ganze Symphonie durchziehenden Durchführungstechnik bzw. motivisch-thematischen Arbeit.
Nicht daß es diese in der osteuropäischen Symphonik nicht gäbe. Aber im Osten hat sich eine stärkere Orientierung an großen, in sich geschlossenen Formblöcken herausgebildet (Exposition, Reprise, A-B-A'-Liedform, Rondo und Couplet etc.), zu denen eine eher liedhafte bzw. ariose Melodik paßt. Reine Durchführungsabschnitte sind oft nur Episoden zur Überbrückung zwischen den großen Formteilen. In der Durchführung bleiben die Themen oft unverändert und werden nur andersartig umspielt. Das vorherrschende Reihungsprinzip folgt dabei einer eigenen, schwer zu beschreibenden und nicht zu unterschätzenden Logik.
So viel zum richtigen Hören dieser Musik - wenn man nicht (als Westler) dauerhaft irritiert bleiben möchte. Schostakowitsch modernisiert dieses Denken in Formblöcken, indem er es mit dem zu seiner Zeit gerade hochmodernen Montage-Prinzip (mosaikartige Verknüpfung von Formteilen, Ideal: die Diskontinuität, der extreme Gegensatz zur Entwicklungslogik) verbindet. Das ist grandios: die Rekonstruktion der romantischen Symphonie aus dem Geist der Montagetechnik. Dazu leistet sich Schostakowitsch den Luxus, in der Aufeinanderfolge diskontinuierlich wirkender Episoden motivisch-thematisch zu arbeiten.
Zur Ersten: Das Beste ist zweifellos der zweite Satz, ein vor Ideen nur so sprühendes Scherzo mit einem interessanten Formplan: Teil 3 ist die Addition der Teile 1+2, eine in Osteuropa besonders favorisierte Kontrapunkttechnik: das quodlibet-artige Übereinandertürmen von Melodien. Das Klavier wird in dem Satz übrigens nicht als Perkussions-, sondern als den anderen gleichwertiges Melodieinstrument eingesetzt.
Der dritte Satz ist leider zu lang. Ihm hätten ein paar Striche gut getan - was in gewisser Weise auch für das Finale gilt, wo allerdings die Länge, das qualvolle Suchen nach dem Ende, richtig auskomponiert ist. Das Finale nimmt die für spätere Schostakowitsch-Symphonien (ab Nr.5) typische Entwicklung vorweg: Auf den final-typischen Aufschwung folgt ein jäher, katastrophaler Absturz, aus diesem ein unruhiges Tasten und Suchen nach neuer Entfaltungsmöglichkeit des Materials, woraus aber nichts wird - außer der Kapitulation am Schluß, dem Hineinsteuern in in eine kurze, wie angeklebt wirkende "freudige" Coda. Das Finalproblem der Unmöglichkeit affirmativer Abschlüsse hat Schostakowitsch von Mahler geerbt.
Herzliche Neujahrsgrüße
Gomez
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