Satzfehler in Bach's Schlüsselchoral?

Die Ausgabe von Wiener Urtext, herausgegeben von Walter Dehnhard, hat übrigens genau diese Lösung gewählt: Der Tenor in T. 11 ist e-f#-g ...
Vielen Dank für die Info: ich bin derzeit nicht zu Hause (wo ich die Henle- und eine alte Peters-Ausgabe habe) und mußte die IMSLP-Veröffentlichung (die alte BG-Ausgabe) zu Rate ziehen. Ich bin also einer verdorbenen Stelle aufgesessen. Bitte um Entschuldigung.
 
Ich habe jetzt in den anderen Exemplaren nachgeschaut:

#281778, #395118 - B, C, keine Spur einer Korrektur.
#73879 - C, B, beides offensichtlich handschriftlich

Die Fassung B, C müsste die ursprüngliche Druckversion sein.



Dies scheint also nicht der Fall zu sein.

Die Frage ist: woher haben #76512 und #73879 ihre Korrekturen? Kann es sein, dass das C nur eine persönliche Vermutung seitens der Besitzer dieser Exemplare gewesen ist (unterstützt durch die etwas zu hohe Position des gestochenen Notenkopfs und auch durch, wie ich meine, musikalische Gründe)?

Philologisch gesehen hängt jetzt die Echtheit der Korrekturen mit der Geschichte der obengenannten Exemplare zusammen. Leider ist darüber auf IMSLP nichts zu finden. Was sagt die NBA dazu?
Danke fürs Nachschauen und Mitteilen! Ich bin erst in der 2. Januarwoche wieder zu Hause und habe dann leicht Zugang zum krit. Bericht der NBA, der sich in mehreren öffentl. Frankfurter Bibliotheken befindet. Was wäre zu tun, wäre man selbst der Herausgeber einer wiss. untadeligen Ausgabe? Fehlt das Autograph wie hier, entsteht in der Regel eine schwierige Situation. Man müßte tatsächlich sämtliche erhaltenen und zugänglichen Exemplare des Originaldrucks in 1. und 2. Auflage von der 1. bis zur letzten Seite durchsehen und prüfen. Und natürlich sind auch die Abschriften sorgsam zu prüfen und zu vergleichen; manchmal sind sogar solche aus dem 19. Jhd. noch von Belang. Ich denke, diese Arbeit wurde im Rahmen der NBA geleistet. Will man Editionstechnik üben, kann man selbst zB die auf IMSLP verfügbaren Druckexemplare vergleichen, daraus eigene Schlüsse ziehen und erst dann die NBA-Ergebnisse mit den eigenen Resultaten vergleichen.

Ich glaube mich aus der lange zurückliegenden Lektüre des krit. Berichts der NBA zu erinnern, daß zumindest ein handschriftlich korrigiertes Exemplar der 6 Partiten nicht nur an unserer, sondern auch noch an vielen anderen Stellen Korrekturen aufweist. Und die Zusammenschau aller Änderung läßt eben dann auch Rückschlüsse auf den Urheber dieser Änderungen zu. Die NBA hält die Änderungen jedenfalls für echt und hat sie daher in den Hauptnotentext aufgenommen. Ich werde das aber nochmal nachlesen.

Was mich selbst stutzig gemacht hat, war der von Dir mitgeteilte 2. Druckfehler im selben Takt (c''' statt b''). Denn meine Ausgangsfrage war ja nicht: stammt das c''' des 1. Tons von Bach oder nicht, sondern sie war lediglich: ist dieses c''' eine Revisionskorrektur der ursprünglichen Lesart b'' oder war das c''' schon immer die allein richtige Lesart? Vielleicht gibt der krit. Bericht darauf eine noch zuverlässigere Antwort. Wir werden sehen.

Daß die NBA andererseits nicht immer ins Schwarze trifft, brauche ich wohl nicht eigens zu erwähnen. Es wurde ja inzwischen die h-moll-Messe neu ediert, und m.W. ist für etliche andere Werke ebenfalls eine Korrekturedition geplant. Ich hatte mal kritisiert, daß der Worttext der Kantaten und anderer wortgebundener Werke in modernisiertem Deutsch abgedruckt ist, und tatsächlich wird man jetzt die Texte in der Originalfassung nachreichen. Mit Sicherheit aber nicht, weil ich es kritisiert habe, sondern es eine ganze Reihe anderer Leute auch gestört hat. Wenn ich in der Matthäuspassion höre: "Ihr wisset, daß nach zweien Tagen Ostern ist", dann bin ich schon verärgert, weil es den ursprünglichen Text (nach zween Tagen) verfälscht.

Ich könnte jetzt noch viele Seite vollschreiben, möchte aber das eigentliche Thema nicht aus dem Mittelpunkt drängen und wünsche allen Lesern schon mal ein fröhliches Silverstfest.
 
Vielen Dank für die Info: ich bin derzeit nicht zu Hause (wo ich die Henle- und eine alte Peters-Ausgabe habe) und mußte die IMSLP-Veröffentlichung (die alte BG-Ausgabe) zu Rate ziehen. Ich bin also einer verdorbenen Stelle aufgesessen. Bitte um Entschuldigung.

Zur Information: fast alle anderen Ausgaben haben C#. Bei Henle wird die Stelle nicht mal im kritischen Bericht erwähnt. Ich gehe davon aus, dass die Version mit E nichts anderes als eine gut gemeinte Verbesserung ist. Deine vorige Ausführung bleibt also durchaus relevant.
 
Zur Information: fast alle anderen Ausgaben haben C#. Bei Henle wird die Stelle nicht mal im kritischen Bericht erwähnt. Ich gehe davon aus, dass die Version mit E nichts anderes als eine gut gemeinte Verbesserung ist. Deine vorige Ausführung bleibt also durchaus relevant.
Danke für die Neuigkeiten! Die Stelle ist als Diskussionsstoff wunderbar geeignet. Ich werde auch hierzu den krit. Bericht der NBA noch lesen und die Info dann hier nachreichen (falls es nicht vorher schon jemand anders macht).
Als Herausgeber würde ich mich so entscheiden wie Walter Dehnhard (Wiener Urtext), das heißt ich würde eine Konjektur vornehmen und den haarsträubenden Fehler c# in e korrigieren - natürlich samt ausführlicher Begründung im krit. Bericht. Im übrigen halte ich es schlicht für eine Schlamperei, wenn Henle noch nicht mal eine Anmerkung zu der Stelle bietet.
Der Benutzer einer Ausgabe sollte immer die Möglichkeit haben, eine eigene Entscheidung zu treffen, dazu dient der krit. Bericht. Ich selber werde also in meiner Henle-Ausgabe die Version mit e eintragen, und alle hier im Forum, die lieber c# spielen wollen, können das natürlich weiterhin tun, aber sie tun es als Wissende, und das ist entscheidend.
 
Als Herausgeber würde ich mich so entscheiden wie Walter Dehnhard (Wiener Urtext), das heißt ich würde eine Konjektur vornehmen und den haarsträubenden Fehler c# in e korrigieren - natürlich samt ausführlicher Begründung im krit. Bericht. Im übrigen halte ich es schlicht für eine Schlamperei, wenn Henle noch nicht mal eine Anmerkung zu der Stelle bietet.

Ich kann die Lage bei Henle schon nachvollziehen, wenn es tatsächlich so ist, dass Cis die eindeutig authentische überlieferte Fassung ist, und E nur die persönliche Vermutung eines Herrn Dehnhard. Der kritischer Bericht ist vor allem da, um die Quellenlage zu erklären und daraus entstehende Entscheidungen zu melden und zu begründen; hält der Herausgeber eine Stelle nicht für zweifelhaft, ist es ihm keine Pflicht, in seinem kritischen Bericht darauf aufmerksam zu machen, dass andere Herausgeber nicht derselben Meinung sind.

Das ist rein theoretisch; über so eine Stelle würde ich auch in jedem kritischen Bericht lesen wollen, auch wenn nur eine Bemerkung, die Lesart sei authentisch ungeachtet verschiedener Verbesserungsvorschläge. Die alte BGA hat, mit den eingesetzten Fragezeichen bei vermutlichen Fehlern, eine mir durchaus sympathische Lösung gefunden.
 
Ich kann die Lage bei Henle schon nachvollziehen, wenn es tatsächlich so ist, dass Cis die eindeutig authentische überlieferte Fassung ist, und E nur die persönliche Vermutung eines Herrn Dehnhard.
So einfach ist das nicht. Keineswegs ist nämlich das c# eindeutig authentisch. Denn von den Englischen Suiten gibt es kein Autograph, sondern nur Abschriften, und Abschriften enthalten immer Fehler (wenn es nicht ganz kurze Stücke sind). Außerdem läßt Du außer Acht, daß Dehnhard in einer Abschrift ein Indiz für einen Kopierfehler gefunden hat und seine Konjektur damit eben BEGRÜNDET und damit keine bloße persönliche Vermutung ist.
 
"Ich kann die Lage bei Henle schon nachvollziehen, wenn es tatsächlich so ist, dass Cis die eindeutig authentische überlieferte Fassung ist, und E nur die persönliche Vermutung eines Herrn Dehnhard."

So einfach ist das nicht. Keineswegs ist nämlich das c# eindeutig authentisch. Denn von den Englischen Suiten gibt es kein Autograph, sondern nur Abschriften, und Abschriften enthalten immer Fehler (wenn es nicht ganz kurze Stücke sind). Außerdem läßt Du außer Acht, daß Dehnhard in einer Abschrift ein Indiz für einen Kopierfehler gefunden hat und seine Konjektur damit eben BEGRÜNDET und damit keine bloße persönliche Vermutung ist.

Und deshalb das Wort "wenn". Mir liegt nicht vor, was Dehnhard dazu geschrieben hat. Könntest Du das freundlicherweise genauer mitteilen?
 
Und deshalb das Wort "wenn". Mir liegt nicht vor, was Dehnhard dazu geschrieben hat. Könntest Du das freundlicherweise genauer mitteilen?
Tut mir leid, ich habe übersehen, daß die entsprechende Info von Gaston gar nicht hier, sondern in der Unterhaltung "Nochmal 3. englische Suite, Allemande T11" gegeben wurde. Er schreibt: "Dort [in der Wiener Urtext Edition] ist auch in einer kritischen Anmerkung folgendes dargestellt: Alle verwendeten Quellen haben "cis-d-e" an dieser Stelle. Ein einziges Indiz, dass "e-fis-g" gemeint sein könnte, ist ein zu einem Kreuz korrigiertes Auflösungszeichen (es -> e) in einer der Quellen."

Darauf hatte ich mich bezogen. Aus eigener Erfahrung kann ich noch sagen, daß die alten Herausgeber der BG viel mehr Konjekturen gemacht haben als die der NBA. Die NBA hat diese teilweise wieder kassiert, doch nicht immer zu Recht, wie ich finde. An den Konjekturen kann man nicht zuletzt die Qualität eines Herausgebers ablesen, und in der alten BG haben nach meinem Urteil zum Teil hervorragende Fachleute mitgearbeitet. Ich bin daher gar nicht unglücklich, daß viele Musiker Bach bis auf den heutigen Tag nach BG musizieren...

Wer kennt noch weitere fragwürdige Stellen in den Englischen Suiten?
 
Habe jetzt alle Abschriften der Allemande des 18. Jhds. durchgesehen, die auf "Bach digital" als Digitalisate vorhanden sind. Die von Dehnhard angeführt Abschrift, in der ein Auflösungszeichen vor der 1. Note zu einem Kreuz korrigert ist, konnte ich nicht sicher identifizieren.

Vielleicht ist es diese: D-B Am.B 489, Partitur; Schreiber: Anon. J. S. Bach XXXVI, Anon. J. S. Bach XXXV, Agricola, Johann Friedrich (1720–1774), Kirnberger, Johann Philipp (1721–1783);
Entstehungszeitraum: Mitte des 18. Jahrhunderts (ca. 1740–1759).

Hier sieht das Kreuz vor dem c am ehesten korrigiert aus; genauso bemerkenswert in dieser Handschrift ist allerdings das fehlende Auflösungszeichen vor dem dritten 16-tel (es), das in anderen Quellen vorhanden ist. Denn dieses Auflösungszeichen fehlte natürlich in der von mir jetzt vermuteten authentischen Version e-f-g (anstatt cis-d-e), so daß mit dem Befund des fehlenden Auflösungszeichens vor dem dritten 16-tel bereits ein weiteres Indiz für einen Kopierfehler vorliegt.

Um nun die authentische, d.h. Bachsche, Version von T. 11 zu rekonstruieren, schaue ich in die Parallelstelle des 2. Teils der Allemande, also T. 23, und postuliere, die harmonischen Funktionen sollten in beiden Takten gleich sein. Im 1. Viertel von T. 23 erklingt der verminderte Septakkord fis-a-c-es mit allen 4 Tönen. Auf T. 11 übertragen wären das die Töne cis-e-g-b, aber hier erklingt der Ton g nur in der Version e-f-g; gleichzeitig erlaubt diese Überlegung die Feststellung, daß ab dem 4. 16tel b die Abschriften von T. 11 wieder korrekt sind, denn ab diesem Ton entsprechen sich beide Takte. Im Gegensatz zu Dehnhard (und zu meinem früheren Beitrag) glaube ich allerdings, daß das zweite 16-tel in T. 11 nicht fis, sondern f lauten muß.

Wenn nun das vollständige Sequenzmotiv in T. 11 ursprünglich e-f-g-B-A-G-F-E-F gelautet hatte, so sieht man, daß das Intervall zwischen 3./4. Ton g-B auf eine große Sexte ausgeweitet ist, während es bei den anderen Trägern des Motivs nur eine übermäßige Quart ist. Dieser Umstand mag den Kopierfehler mit verursacht haben, der sich in dieser Beleuchtung nun allerdings als absichtliche Verschlimmbesserung des Kopisten darstellt: Um die vermeintlich richtige Version des Sequenzmotivs mit übermäßiger Quarte zwischen 3./4. Ton wiederherzustellen, änderte er die ersten drei Töne in cis-d-e, was ihm umso plausibler erschienen sein mag, als das Motiv auch in T. 23 mit übermäßiger Quarte dasteht. Die nun aber entstehende, stümperhaft wirkende Oktavparallele T.10/11, die der Ausgangspunkt für unsere Unterhaltung war, hätte er dann freilich nicht bemerkt.
 

Nochmal zur Partita BWV 826

Habe inzwischen den krit. Bericht der NBA (Serie V/Band 1) von Richard Douglas Jones eingesehen. Er stammt von 1978, wobei ein Nachtrag aus dem Jahr 1997 beigefügt ist, der einen wichtigen Aufsatz von Christoph Wolff (Textkritische Bemerkungen zum Originaldruck der Bachschen Partiten, Bach-Jahrbuch 1979, S. 65ff.) berücksichtigt. Das alles ist sehr interessant und daher zur Lektüre zu empfehlen, denn man findet dort wichtige Lesartenverbesserungen.

Ich berichte jetzt aber nur zu dem von uns betrachteten Fall BWV 826, Sinfonia T. 21. Die 7 erhaltenen Exemplare des Einzeldrucks von 1727 lesen alle b''/c''' für 1./10. Zeichen im Diskant. Von den 28 erhaltenen Exemplaren der Sammelausgabe von 1731 findet sich in 4 (G 23‑26 in NBA-Klassifizierung) eine handschriftliche Korrektur dieser beiden Noten, wobei die 1. Note zu c''' und die 10. Note zu b'' verändert ist. In dem Exemplar aus der British Library, London, Signatur: Hirsch III.37 (=G 23/NBA) sieht Jones Bachs Handexemplar und legt es seiner Edition zugrunde.

Der Gesamtbefund läßt m.E. darauf schließen, daß die ursprüngliche Lesart b''/c''' für 1./10. Zeichen einen Stichfehler darstellt und dementsprechend die spätere Korrektur in c'''/b'' die einzig richtige Lesart ist.
 
Nachtrag zur Allemande der 3. Englischen Suite:

Habe NBA samt krit. Bericht (1981) eingesehen. Herausgeber ist Alfred Dürr, und nicht von ungefähr hat einer der erfahrensten Bach-Philologen diese Aufgabe übernommen, denn sie ist sehr knifflig. Warum? Weil das Autograph bzw. die Dedikations-Reinschrift fehlt - von letzterem wäre auszugehen, wenn die Englischen Suiten tatsächlich, nach Forkel, ein Auftragswerk für einen Engländer waren. Ausgangsquelle für die erhaltenen Abschriften war nun aber, das lassen die zahlreichen Lesartenunterschiede vermuten, entweder eine autographe Konzeptschrift mit vielen Änderungen oder eine wenig zuverlässige Abschrift von fremder Hand, die Bach gleichwohl als Handexemplar benutzt hat.

Dürr legt seiner Edition die älteste erhaltene Abschrift (Mus. ms. Bach P 1072) zugrunde, die von Bernhard Christian Kayser, stammt, einem Schüler Bachs, der Bach von Köthen nach Leipzig gefolgt war. Hinzu kommen drei weitere Abschriften, die unmittelbar auf der verschollenen Vorlage fußen und entsprechende editorische Berücksichtigung finden: Es sind die Abschriften von Bammler, Agricola und Penzel. Bis auf die letztgenannte sind alle auf "Bach digital" als Digitalisate vorhanden. Daneben werden von Dürr noch Einzellesarten aus anderen als den genannten Quellen berücksichtigt bzw. diskutiert, auf die ich jetzt nicht weiter eingehe. Bemerkenswert ist nun, daß die Abschrift Kayser einen Eintrag von Bachs Hand enthält, nämlich die Takte 181-187 des Prélude unserer Suite, welcher den Übergang zum Da capo des Satzes enthält. Das beleuchtet die zweifelhafte Qualität der Ausgangsquelle besonders hell, denn was sonst könnte den autographen Eintrag in der Schüler-Abschrift veranlaßt haben?

Zurück zu Takt 11 der Allemande: Sämtliche berücksichtigten Quellen bringen in der Oberstimme die mit cis beginnende Lesart , wobei die Abschriftenguppe Agricola mehrheitlich das dritte 16tel es anstatt e liest. Darüber hinaus problematisiert Dürr die Stelle nicht. Ich selbst sehe andererseits in diesem Befund keinen Grund, von meiner vorigen Meinung abzugehen, daß nämlich die ersten drei 16tel der Oberstimme von Takt 11 verdorben sind und die von uns beanstandete Oktavparallele d-cis, insbesondere im zweistimmigen Satz, einen ziemlich groben Fehler darstellt. Diesen absichtlich begangen zu haben kann man Bach umso weniger unterstellen, als er ihn leicht hätte vermeiden können: Hätte er den Baß auf der 1. ZZ von Takt 11 anstatt auf Cis aufs Kontra-A geführt, wäre satztechnisch alles in Ordnung gewesen; lediglich die harmonische Verwandtschaft zum Paralleltakt 23 hätte Schaden genommen, eine Petitesse im Vergleich. Das Kontra-A wird übrigens auch im Prélude (T. 115) gefordert und wäre somit nicht aus dem Rahmen gefallen.

Auf eine Lesarten-Problematik in diesem Prélude möchte ich noch hinweisen. In den Takten 9, 11 und 13 ist jeweils die 1. Note der Mittelstimme unklar: entweder verusacht sie eine Dissonanz oder eine Konsonanz. Bereits die früheste Abschrift Kayser bringt 2x Konsonanz, 1x Dissonanz, während dann zB die Abschrift Scholz auch noch in T. 13 das dissonante g' durch ein konsonantes a' ersetzt. Vergleicht man nun die nächste Parallelstelle, Takt 75-79, so sieht man die entsprechenden Mittelstimmentöne in jedem Falle dissonierend. Ich schließe daraus, daß zB die Henle-Ausgabe richtig verfährt, wenn sie die dissonierende Mittelstimme auch in den Takten 9-13 wiederherstellt. Als einzige Quelle, die das halbwegs unterstützt, kann ich (ohne den krit. Bericht zu befragen) die Hs. Agricola anführen, wo die ursprünglich dissonante Mittelstimmennote in Takt 9 (b') und 11 (a') allerdings jeweils in die konsonante (c'' bzw. b') korrigiert ist.
 
Zuletzt bearbeitet:
Der Gesamtbefund läßt m.E. darauf schließen, daß die ursprüngliche Lesart b''/c''' für 1./10. Zeichen einen Stichfehler darstellt und dementsprechend die spätere Korrektur in c'''/b'' die einzig richtige Lesart ist.

Oder, dass 4 Leute irgendwann gemerkt haben, dass da etwas nicht stimmte, und die naheliegende Doppelkorrektur eingetragen haben, ohne dass ihnen eingefallen ist, der 1. Ton sei vielleicht doch kein Fehler.

... spricht advocatus diaboli.

Bei dieser Stelle stimme ich Dir völlig zu.

Zurück zu Takt 11 der Allemande: Sämtliche berücksichtigten Quellen bringen in der Oberstimme die mit cis beginnende Lesart , wobei die Abschriftenguppe Agricola mehrheitlich das dritte 16tel es anstatt e liest. Darüber hinaus problematisiert Dürr die Stelle nicht. Ich selbst sehe andererseits in diesem Befund keinen Grund, von meiner vorigen Meinung abzugehen, daß nämlich die ersten drei 16tel der Oberstimme von Takt 11 verdorben sind und die von uns beanstandete Oktavparallele d-cis, insbesondere im zweistimmigen Satz, einen Fehler darstellt, den absichtlich begangen zu haben man Bach wohl kaum unterstellen kann.

Glaubst Du also, dass im verschollenen Autograph E zu finden wäre, und dass die Abschreiber alle denselben Fehler begingen? oder dass Bach selber Cis niederschrieb?

Persönlich kann ich mir aus Komponistensicht weder vorstellen, Cis mit Kreuz zu schreiben während man innerlich E hört, noch innerlich Cis zu hören ohne die Oktavenparallele zu merken.
 
Glaubst Du also, dass im verschollenen Autograph E zu finden wäre, und dass die Abschreiber alle denselben Fehler begingen? oder dass Bach selber Cis niederschrieb?

Wie ich schon oben sagte, war die heute verschollene Quelle für die Abschreiber bereits unzuverlässig, also entweder eine stark korrigierte autographe Konzeptschrift oder eine fehlerhafte Abschrift, die Bach nicht mehr gründlich durchgesehen hat und die ihm trotzdem als Handexemplar diente. Und: Ja, die Oktavparallele ist höchstwahrscheinlich bereits in dieser Quelle enthalten, davon gehe ich aus.

Mit Dürr vermute ich, daß ursprünglich eine autographe Reinschrift, ein Widmungsexemplar, existierte, das Bach an den Auftraggeber der Suiten gab und von dem sich keinerlei Spur, insbesondere auch keine Abschrift, erhalten hat. Und natürlich kann ich mir nicht vorstellen, daß sich die Oktavparallele sogar in dieser Reinschrift befunden hat.

Wenn man dennoch cis-d-e, und damit die Oktavparallele, als echt verteidigt, dann möchte ich eine unzweifelhaft echte vergleichbare Stelle im Bachschen Oevre gezeigt bekommen, insbesondere muß es ein Beispiel im zweistimmigen Satz sein und als Autograph vorliegen. Auch sollte das Beispiel zeitlich nicht vor Köthen liegen.

Ehe ich nicht durch ein solches Beispiel widerlegt werde, widerrufe ich auch nicht. Da halte ich's ganz mit Luther...
 
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Ich schließe noch ein paar Bemerkungen zur 3. Englischen Suite an.

Leider kann ich Alfred Dürr auf die Oktavparallele nicht mehr ansprechen, denn er lebt nicht mehr. Aber er gehörte zu den aufrichtigen und völlig uneitlen Bachforschern, denen immer nur an der wissenschaftlichen Wahrheit lag und niemals am eigenen Ego. So jedenfalls habe ich ihn kennengelernt. Übrigens hätte ich auch von ihm ein Beispiel für eine unzweifelhaft echte Bachsche Oktavparallele verlangt - wie ich es oben in #55 tat -, wenn er die Stelle verteidigt hätte.

Nun, wie dem auch sei - vielleicht kommt das Beispiel ja noch aus dem Forum. Ich hätte jedenfalls nicht gedacht, mich nochmal mit diesen Stücken zu beschäftigen, da ich bis auf die a-moll-Suite nichts von ihnen gespielt habe und mir die wegen ihrer Gigue geliebte 6. Suite aufgrund der Triller in eben dieser Gigue technisch zu schwer erscheint. Die 3. Suite werde ich jetzt aber am Cembalo einüben und sie dabei näher kennenlernen. Vielleicht werde ich auch meiner Leidenschaft, und das ist nunmal die Bachphilologie, frönen und die ganze Suite neu edieren. Dabei werde ich mit Sicherheit noch viele neue Einsichten gewinnen.

Zum Schluß - oder sagen wir besser: vorläufig - möchte ich mich bei allen, die sich an der Diskussion in diesem Forum beteiligt haben, für die vielen Anregungen herzlich bedanken.
 
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«Schließe, mein Herze» aus dem Weihnachtsoratorium?
 
Auf eine Lesarten-Problematik in diesem Prélude möchte ich noch hinweisen. In den Takten 9, 11 und 13 ist jeweils die 1. Note der Mittelstimme unklar: entweder verusacht sie eine Dissonanz oder eine Konsonanz. Bereits die früheste Abschrift Kayser bringt 2x Konsonanz, 1x Dissonanz, während dann zB die Abschrift Scholz auch noch in T. 13 das dissonante g' durch ein konsonantes a' ersetzt. Vergleicht man nun die nächste Parallelstelle, Takt 75-79, so sieht man die entsprechenden Mittelstimmentöne in jedem Falle dissonierend.

Laut Dürr, KB (der mir jetzt in Kopie vorliegt), sind die Dissonanzen die spätere Lesart, und die Konsonanzen die frühere. Bach hätte aber zunächst die späteren Parallelstellen korrigiert und die Rückübertragung der Korrektur in die Takte 9 und 11 vergessen. Wenn es so war, dann finde ich allerdings seltsam, daß T. 13 die spätere Lesart hat und nur 9 und 11 nicht. Die drei Stellen gehören zusammen, und Bach als Korrektor sollte vergessen haben, daß nach 13 auch noch 11 und 9 zu berichtigen waren? Gut, vielleicht wurde er bei der Arbeit gestört, das Handy hat geklingelt oder was ähnliches...
 
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«Schließe, mein Herze» aus dem Weihnachtsoratorium?
Gerne habe ich die Arie angeschaut. Interessant. Sie zeigt ganz einfach, was Bach satztechnisch für möglich hält. Hinzufügen muß man: zum Zeitpunkt, als er die Arie komponierte, da seine Ansichten zu bestimmten kompositorischen Problemen im Lauf seines Lebens sich änderten. Und auch dazu wäre Alfred Dürr ein kompetenter Auskunftgeber gewesen, jedenfalls finden sich entsprechende Hinweise ab und zu in seinen Schriften.

Die Verwandtschaft zur Allemande ist mir zu schwach, um mich zu überzeugen. Die Frage: zeigt Takt 11 der Allemande, was Bach satztechnisch für möglich und erlaubt hält, beantworte ich somit weiterhin mit Nein. Und allein diese Frage ist die mich interessierende. Sie ist nicht endgültig beantwortet. Es bleibt also spannend...
 
Zum Prélude von BWV 808:

In Takt 15, Tenor, 1. Note liest die Kayser-Quellegruppe es', die anderen Quellengruppen aber d'. NBA hat das richtige d', Henle es'. Wer, wie ich, die Henle-Ausgabe benutzt, sollte es' in d' korrigieren.
 

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