Nachtrag zur Allemande der 3. Englischen Suite:
Habe NBA samt krit. Bericht (1981) eingesehen. Herausgeber ist Alfred Dürr, und nicht von ungefähr hat einer der erfahrensten Bach-Philologen diese Aufgabe übernommen, denn sie ist sehr knifflig. Warum? Weil das Autograph bzw. die Dedikations-Reinschrift fehlt - von letzterem wäre auszugehen, wenn die Englischen Suiten tatsächlich, nach Forkel, ein Auftragswerk für einen Engländer waren. Ausgangsquelle für die erhaltenen Abschriften war nun aber, das lassen die zahlreichen Lesartenunterschiede vermuten, entweder eine autographe Konzeptschrift mit vielen Änderungen oder eine wenig zuverlässige Abschrift von fremder Hand, die Bach gleichwohl als Handexemplar benutzt hat.
Dürr legt seiner Edition die älteste erhaltene Abschrift (Mus. ms. Bach P 1072) zugrunde, die von Bernhard Christian Kayser, stammt, einem Schüler Bachs, der Bach von Köthen nach Leipzig gefolgt war. Hinzu kommen drei weitere Abschriften, die unmittelbar auf der verschollenen Vorlage fußen und entsprechende editorische Berücksichtigung finden: Es sind die Abschriften von Bammler, Agricola und Penzel. Bis auf die letztgenannte sind alle auf "Bach digital" als Digitalisate vorhanden. Daneben werden von Dürr noch Einzellesarten aus anderen als den genannten Quellen berücksichtigt bzw. diskutiert, auf die ich jetzt nicht weiter eingehe. Bemerkenswert ist nun, daß die Abschrift Kayser einen Eintrag von Bachs Hand enthält, nämlich die Takte 181-187 des Prélude unserer Suite, welcher den Übergang zum Da capo des Satzes enthält. Das beleuchtet die zweifelhafte Qualität der Ausgangsquelle besonders hell, denn was sonst könnte den autographen Eintrag in der Schüler-Abschrift veranlaßt haben?
Zurück zu Takt 11 der Allemande: Sämtliche berücksichtigten Quellen bringen in der Oberstimme die mit cis beginnende Lesart , wobei die Abschriftenguppe Agricola mehrheitlich das dritte 16tel es anstatt e liest. Darüber hinaus problematisiert Dürr die Stelle nicht. Ich selbst sehe andererseits in diesem Befund keinen Grund, von meiner vorigen Meinung abzugehen, daß nämlich die ersten drei 16tel der Oberstimme von Takt 11 verdorben sind und die von uns beanstandete Oktavparallele d-cis, insbesondere im zweistimmigen Satz, einen ziemlich groben Fehler darstellt. Diesen absichtlich begangen zu haben kann man Bach umso weniger unterstellen, als er ihn leicht hätte vermeiden können: Hätte er den Baß auf der 1. ZZ von Takt 11 anstatt auf Cis aufs Kontra-A geführt, wäre satztechnisch alles in Ordnung gewesen; lediglich die harmonische Verwandtschaft zum Paralleltakt 23 hätte Schaden genommen, eine Petitesse im Vergleich. Das Kontra-A wird übrigens auch im Prélude (T. 115) gefordert und wäre somit nicht aus dem Rahmen gefallen.
Auf eine Lesarten-Problematik in diesem Prélude möchte ich noch hinweisen. In den Takten 9, 11 und 13 ist jeweils die 1. Note der Mittelstimme unklar: entweder verusacht sie eine Dissonanz oder eine Konsonanz. Bereits die früheste Abschrift Kayser bringt 2x Konsonanz, 1x Dissonanz, während dann zB die Abschrift Scholz auch noch in T. 13 das dissonante g' durch ein konsonantes a' ersetzt. Vergleicht man nun die nächste Parallelstelle, Takt 75-79, so sieht man die entsprechenden Mittelstimmentöne in jedem Falle dissonierend. Ich schließe daraus, daß zB die Henle-Ausgabe richtig verfährt, wenn sie die dissonierende Mittelstimme auch in den Takten 9-13 wiederherstellt. Als einzige Quelle, die das halbwegs unterstützt, kann ich (ohne den krit. Bericht zu befragen) die Hs. Agricola anführen, wo die ursprünglich dissonante Mittelstimmennote in Takt 9 (b') und 11 (a') allerdings jeweils in die konsonante (c'' bzw. b') korrigiert ist.