Habe mir den Choral "Bin ich gleich von dir gewichen" angeschaut: Tatsächlich findet sich in T. 4 eine Quintparallele zwischen Sopran und Tenor. Mich stört sie allerdings nicht, und ich hätte sie auch nicht bemerkt ohne den ausdrücklichen Hinweis, für den ich mich bedanke. Ich gehe davon aus, daß Bach diese Parallele nicht aus Versehen unterlaufen ist, sondern er sie als unbedenklich angesehen hat. In diesem Fall zB handelt es sich um eine unbetonte Durchgangsnote, die den Regelverstoß verursacht. Ich nehme den Fall als Unterrichtseinheit des Lehreres Bach, für die ich dankbar bin und die meine Hochachtung vor seiner Kompositionskunst steigert.
Nun gibt es ja sogar aus Bachs Schülerkreis "verbesserte" Varianten von Choralsätzen des Meisters, in denen satztechnische Kühnheiten beseitigt sind mit der Absicht, das Material für den Kompositionsunterricht tauglich zu machen. Bach wäre sicher erzürnt gewesen über diesen Eingriff, denn oft haben satztechnische Kühnheiten in seiner Musik rhetorische Qualität und dienen damit der musikalischen Textauslegung. (Anmerkung: in dem besprochenen Choral sehe ich die Quintparallele nicht als rhetorisch bedingt - das wäre überinterpretiert, und vor Überinterpretation muß man warnen, denn man schüttet das Kind mit dem Bade aus).
Bach selbst hat ja an seinen Werken immer wieder geändert, und solche Änderungen beleuchten manchmal auch satztechnische Probleme. Aus dem Gedächnis führe ich den Fall der c-moll-Partita BWV 826, Andante der Sinfonia, an, wo Bach im Nachhinein die Dissonanz A-b" auf der Eins von T. 21 durch eine abgemilderte Version "entschärft" hat. Ich bin froh, daß meine Henle-Ausgabe noch den Text ante correcturam bringt, da ich beim Spiel diese betonte Dissonanz stets als besonders schön und ausdrucksvoll empfunden habe. NBA hat die abgemilderte Lesart post correcturam, was philologisch nicht angreifbar ist, musikalisch aber eine Verarmung bedeutet, jedenfalls aus meiner Sicht.