Reaktionen auf Neue/zeitgenössische Musik

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partita

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15. Dez. 2009
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"Es ist wunderlich, wohin die aufs Höchste gesteigerte Technik und Mechanik die neuesten Komponisten führt; ihre Arbeiten bleiben keine Musik mehr, sie gehen über das Niveau der menschlichen Empfindungen hinaus, und man kann solchen Sachen aus eigenem Geist und Herzen nichts mehr unterlegen... Mir bleibt alles in den Ohren hängen."

Eine Reaktion auf zeitgenössische Musik - allerdings handelt es sich um Goethes Reaktion von 1827 auf Mendelssohns Klavierquartett Nr.4 h-moll (Goethe zu Eckermann, 12. Januar 1827). Diese Reaktion ist ein schönes Beispiel dafür, wie sehr Hörerlebnisse und darauf beruhende Werturteile an die Konvention der Gewohnheit geknüpft sind. Sie zeigt, wie vorsichtig man mit der Ableitung eines Qualitätsurteils allein aus den Hörgewohnheiten heraus sein sollte, da man Musikgeschichte im Grunde immer erst im Nachhinein schreiben kann. Es zeigt aber vor allem, wie sehr es sich lohnt, offen zu sein und sich auf Neues einzulassen!

Ich würde mich freuen, wenn wir hier unsere eigenen Erfahrungen im Erleben zeitgenössischer Musik zusammentragen könnten! Da mir das Thema sehr am Herzen liegt, bitte ich inständig um eine faire Behandlung eines jeden, der sich hier äußert, auch wenn man selbst einen anderen Standpunkt vertritt. Mir geht es um einen ernsthaften Dialog, wie unterschiedlich unsere Neue Musik erfahren und aufgenommen wird. Es geht mir insbesondere auch darum, zu erfahren, was Leute am Hören und Erleben Neuer Musik schwierig finden, da ich mir auch gerade sehr viele Gedanken darum mache, wie Musik wirkt, wie gute Musik geschrieben ist und wie sie sich ihren Hörern vermittelt. Das bedeutet, dass sich bitte sehr gerne auch diejenigen äußern sollen, die der zeitgenössischen Musik kritisch gegenüberstehen (aber bitte konstruktive Beiträge, da es mir darum geht, herauszufinden, an welchen Stellen man genau Probleme beim Erleben dieser Musik hat)!

Wie ihr an meiner Wortwahl schon sehen könnt, müssen sich die Berichte eures eigenen Erlebens von Musik nicht streng um zeitgenössische Musik handeln (der Komponist muss nicht mehr leben), aber es sollte doch Neue Musik sein im schwammigen Sinne dessen, was man darunter alles fassen mag. Erklärung dazu: Es ist immer und immer wieder die Frage, wo man mit "Neu" ansetzt - "Neu" ist ja nicht mit einer Jahreszahl zu definieren - nach 1950 entstandene Musik kann zwar neu geschrieben, aber trotzdem nicht wirklich neu sein, genauso wie es auch vor 1950 schon wirklich neue/Neue Musik gibt. Sehr erwünscht sind natürlich auch Beiträge, die etwas zum historischen Erleben von zeitgenössischer Musik beizutragen haben wie z.B. das Eingangszitat, da wir auf diese Weise einen sehr interessanten Vergleich zwischen den Jahrhunderten bekommen und der Frage etwas auf den Grund gehen können, ob sich denn die Rezeption von zeitgenössischer Musik immer an denselben Stellen schwertut.

Ich bin gespannt auf eure Beiträge!

Liebe Grüße,
Partita
 
Liebe partita,

das Thema, das du hier erstellt hast, finde ich sehr interessant! Allerdings bin ich mir nicht so sicher, was du hier alles unter den Begriff "zeitgenössische Musik" fassen möchtest.

Ich habe kürzlich zufällig im Autoradio zeitgenössische Musik des us-amerikanischen Komponisten John Adams gehört, die mir spontan sehr interessant erschien und gut gefiel. Es handelte sich um ein kleines Stück aus der Chamber Symphony. (Ein Faden, den ich zu diesem Komponisten eröffnet habe, fand jedoch kein Interesse!).

Mehr zu diesem Komponisten unter dem folgenden link: John Adams | Biography und auch bei wikipedia.

Ich habe auch vor, mir noch mal gezielt und intensiver Musik von ihm anzuhören. Dann kann ich auch detaillierter meine Hörerfahrungen hierzu wiedergeben. Der erste Eindruck dieser Art von zeitgenössischer Musik war jedenfalls durchaus positiv.

Beste Grüße

Debbie digitalis
 
"Musik wird oft nicht schön gefunden,
Weil sie stets mit Geräusch verbunden." (Wilhelm Busch "Dideldum" 1874)

Besteht Musik tatsächlich nicht mehr aus Tönen, Melodien oder Harmonien sondern lediglich aus Geräuschen, gehöre ich zu den ersten, die vor ihr fliehen. Mich interessiert in diesem Fall überhaupt nicht, welch künstlerische Gedanke hinter dieser Lärmquelle steckt. Atonale Musik macht mich in erster Linie nervös und agressiv und geht somit in keinster Weise konform mit dem Zweck, der Musik für mich persönlich bedeutet, nämlich: Freizeit, Hobby und Entspannung, Tüftelei

Daher für mich: Zeitgenössische Musik ja, solange sie tonal ist. Eine Serenade für Autohupe, Dudelsack und schrille Singstimme werde ich mir freiwillig aber niemals antun.

Die Begründung mag vielleicht tatsächlich in den Hörgewohnheiten liegen, doch irgendwo habe ich mal gelesen, dass bestimmte harmonische Grundmuster wohl angeboren seien, da sie bei allen Völkern zu finden seien. Dennoch hat "Neue Musik" ihre Anhänger - bin gespannt auf deren Beiträge hier im Faden.
 
Ihr Lieben,

herzlichen Dank für die ersten Beiträge! Aufgrund Mangels von Zeit kann ich gerade leider nur kurz antworten, möchte aber ganz kurz Folgendes kommentieren/nachfragen:

@Klimperline:

Besteht Musik tatsächlich nicht mehr aus Tönen, Melodien oder Harmonien sondern lediglich aus Geräuschen, gehöre ich zu den ersten, die vor ihr fliehen. (...) Atonale Musik macht mich in erster Linie nervös und agressiv (...)

Auch wenn ich glaube zu wissen, was du meinst, möchte ich der Begriffsklärung halber nachfragen. "Geräusch" und "Atonalität" gehören zu zwei völlig verschiedenen Bereichen: Das, was wir in der Umgangssprache als "Ton" bezeichnen, ist (physikalisch gesehen) eine periodische Schwingung und somit eine Summe von Sinusschwingungen (also physikalisch gesehen sogar schon eine Summe aus "Tönen" im Sinne von Sinustönen). "Geräusche" sind im Unterschied dazu nichtperiodisch.
"Atonalität" beschreibt nicht die Abwesenheit von Tönen in obigem Sinne, sondern eine Art und Weise, wie Töne miteinander in Beziehung stehen - es fehlt ein tonales Zentrum wie es z.B. bei Dur oder Moll durch den Grundton/die Grundtonart geliefert wird. Darüber hinaus gibt es verschiedenste Versionen von "Atonalität".

Magst du nun nur keine Geräusche oder auch sowas wie Zwölftonmusik nicht? Warum? Hast du z.B. den Eindruck, dass sich dir die Struktur nicht so vermittelt wie bei einem dur/moll-tonalen Stück? Bezieht sich diese Schwierigkeit im Hören nur auf die Harmonik und Melodik oder auch auf die gesamte Form? Hättest du z.B. in tonaler Musik ein Problem damit, wenn du ein Stück vorgesetzt bekommst mit unklarer Form? Umgekehrt: Hilft es dir in zeitgenössischer Musik, wenn du glaubst, eine bestimmte Form erkennen zu können?

(...) irgendwo habe ich mal gelesen, dass bestimmte harmonische Grundmuster wohl angeboren seien (...)

Wahrscheinlich meinst du die Existenz der Obertonreihe, aus der man, wenn man denn möchte, Spannungsverhältnisse von Intervallen oder auch von Tonika, Subdominante und Dominante ableiten kann. Die Obertonreihe ist physikalisches Faktum und in der Tat etwas, das der Mensch verinnerlicht hat, ob er will oder nicht. So gibt es z.B. den sogenannten nicht messbaren, aber doch hörbaren Residualton, den der Kopf aus gleichzeitig erklingenden Sinustönen errechnet (oder auch bei sehr grundtönigen Instrumenten wie z.B. bei Blockflötenensembles). Man rechnet über die Obertöne automatisch auf den Grundton zurück - eine Sache, die sich die Sänger zunutzen machen, wenn sie mit "Sängerformant" einen bestimmten Bereich an Obertönen verstärken und wir im Publikum mithilfe dieser Obertöne den eigentlichen Grundton verstärkt hören.

Ob jenseits der Obertonreihe harmonische Grundmuster wirklich angeboren sind, ist schon die Frage, wenn man sich anschaut, dass in anderen Kulturen die Oktave ganz anders geteilt ist.

@ Debbie:
Ich weiß, dass ich nicht genau präzisiert habe, was ich unter "Neuer Musik" alles fassen möchte. Erstens ist dies auch schwierig festzulegen und zweitens möchte ich die Antworten hier nicht unnötig beschränken: Wenn jemand über die Wirkung von Strauss' Salomé schreiben möchte oder über Stravinskys Sacre, kann er das genauso tun wie über Schönberg, Webern, Berg oder aber Stockhausen oder Kagel oder Komponisten, die heute noch leben.

Liebe Grüße,
Partita
 
Magst du nun nur keine Geräusche oder auch sowas wie Zwölftonmusik nicht? Warum? Hast du z.B. den Eindruck, dass sich dir die Struktur nicht so vermittelt wie bei einem dur/moll-tonalen Stück? Bezieht sich diese Schwierigkeit im Hören nur auf die Harmonik und Melodik oder auch auf die gesamte Form? Hättest du z.B. in tonaler Musik ein Problem damit, wenn du ein Stück vorgesetzt bekommst mit unklarer Form? Umgekehrt: Hilft es dir in zeitgenössischer Musik, wenn du glaubst, eine bestimmte Form erkennen zu können?


Liebe partita,

das finde ich ganz hervorragende Fragen!!! Es wäre interessant, hier dazu Antworten zu lesen!

Mein Mann hat eigentlich als Laie mit zeitgenössischer Musik nichts am Hut. Als ich neulich eine CD von Ligeti hörte, die ich von einer sehr netten Person :D geschenkt bekommen habe, kam er ins Wohnzimmer und wandte sich unter dem Eindruck einer undefinierbaren quietschenden Geräuschkulisse schaudernd ab. :p Dann aber hörten wir die Stücke von Anfang an und siehe da - er war völlig begeistert! Dort konnte er auf einmal eine Struktur, eine klangliche Entwicklung erkennen und konnte den selben Klang, den er vorher *gruselig, schief und scheußlich* gehört hatte, nun einordnen und verstehen.

Wenn man also von außen solche Musik hört, wird man vielleicht erst einmal abgestoßen sein. Lässt man sich mal auf diese Klangwelt ein, können dabei Erlebnisse und Erkenntnisse von hohem Gewinn heraus kommen.

Das gleiche erlebt man auch oft bei Uraufführungen in Konzerten. Bei Orchesterkonzerten ist es durchaus nicht selten, ein Programm so zu gestalten, dass neben klassischen Werken eben auch ein Stück uraufgeführt wird. Und da wird das Publikum/der Hörer quasi gezwungen, der Entwicklung zu lauschen und sich mit dem Stück zu beschäftigen. Das sorgt oft für einen Überraschungseffekt - dass nämlich die Leute feststellen, dass diese Musik eine große Ausstrahlung haben kann, weil gerade sie gewohnte Bahnen verlässt. Eines meiner einducksvollsten Erlebnisse waren z.B. die Teile von Stockhausens Oper "Licht" in Köln.

Nebenbei kann man diese Musik m.E. aber nicht hören.

Liebe Grüße

chiarina
 
Liebe Partita,

Wenn dieser Faden pertinent geführt wird, wird sich hier bald ein virtuelles Symposium für zeitgenössische Musik abspielen, ansonsten riskiert die Sache in plärrende Streitereien abzurutschen.

Das Hauptproblem besteht m.E. in der überaus kurzen Distanz, oder sollte man sagen in der überaus großen zeitlichen Nähe in welcher wir zu den Werken stehen.

In ein paar Sätzen.

Bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts beschäftigte sich das gesamte Musikleben ausschließlich mit zeitgenössischer Musik. Dann kam ein junger Herr Mendelssohn, der wollte unbedingt die Matthäus-Passion eines Johan Sebastian Bachs aufführen, was dann allmälig eine Rückbesinnung auf die alten Meister hervor rief. Diese Rückbesinnung hielt sich anfangs noch sehr in Grenzen, so dass die lebenden Komponisten immer noch vorrangig auf jeden Spielplan standen. Heute aber, nach über 150 Jahren Konzertbetrieb, ist die Wage komplett gekippt: über 90 Prozent „Leichen“ besetzen weltweit die Konzertbühnen, und die „Lebenden“ warten sehnsüchtig auf ihren Tod um auch einmal gespielt zu werden. Nur die Toten füllen die Kassen. Dies ist aber auch zum Teil auf das Wachsen des Selbstbewusstseins der Künstler zurück zu führen, die ab dem 19ten Jahrhundert konsequent mit dem „Angestelltenkünstler“ brachen und ganz bewusst ihr künstlerisches Ego in den Mittelpunkt ihres Schaffens stellten. (Da schwirrt mir noch irgendwo im Kopf eine Behauptung Beethovens „Das wird ihnen in 50 Jahren gefallen“.) Man sagt ja dass die Künstler heute ihrer Zeit weit voraus seien. Dieser Bruch, oder dieses Ausreißen ist aber sicher nicht jedermanns Geschmack.

Doch nun zum eigentlichen Thema.

Nein, ich schotte mich nicht gegen die zeitgenössische Musik ab, selbst wenn sie nur marginal zu meinem Wirkungsgrad gehört. Wenn ich mich mal gelegentlich mit ihr beschäftige, kann ich ihr fast nur Gutes, Schönes und Großes abgewinnen. Es ist natürlich in verschiedenen Situationen ungemein schwer, mit ihr klar zu kommen, eben wegen der oben erwähnten Zeitnähe. In den paar Fällen, wo ich mich schriftlich mit ihr auseinander setzen musste, erbat ich mir jeweils Einlass zu einer oder mehreren Proben, oder ich erbat mir eine Partitur.

Vom 29 September bis zum 08 Oktober 2000, veranstaltete die LGNM Luxemburger Gesellschaft für neue Musik die ISCM World Music Days 2000 – Luxembourg. Luxembourg Music Information Centre Das war natürlich für unser Publikum eine einmalige Gelegenheit, sich mit zeitgenössischer Musik auseinander zu setzen. Damals gab es auch nicht nur „komponierte Musik“ sondern auch interessante Klanginstallationen. Letztere kann man mögen oder nicht, man kommt aber nicht darum herum wenigstens Kenntnis davon zu nehmen. Und wenn man versucht der Sache auf den Grund zu gehen, kann man auch nach und nach in so ein Universum einsteigen.

Also ich möchte wirklich nicht pauschal verachten und verurteilen. Rezeption moderner Kunst will eben auch geübt sein. Sobald der Künstler ehrlich arbeitet, gewinnt der Zuhörer seiner Arbeit immer etwas ab. Legt der Künstler nun aber, sagen wir mal gelinde, nicht genügend handwerkliches Können an den Tag, ja dann merkt man das auch in der modernen Kunst. (Und dann kann ich schnell mal die Feder in Essig tauchen…). Es gibt durchaus komponierte Werke die einfach mangelhaft sind, aber es gibt doch unheimlich viel gute zeitgenössische Musik an der man sich vorbehaltslos erfreuen kann….

Beste Grüße
PiRath
 
Ich weiß, dass ich nicht genau präzisiert habe, was ich unter "Neuer Musik" alles fassen möchte. Erstens ist dies auch schwierig festzulegen und zweitens möchte ich die Antworten hier nicht unnötig beschränken: Wenn jemand über die Wirkung von Strauss' Salomé schreiben möchte oder über Stravinskys Sacre, kann er das genauso tun wie über Schönberg, Webern, Berg oder aber Stockhausen oder Kagel oder Komponisten, die heute noch leben.

...vielleicht wäre eine Formulierung wie Musik des 20. Jhs. unverfänglicher ;) - man gerät leicht zwischen die Fronten... hie Avantgarde da böse Traditionalisten :D

Mich hatten schon beim allerersten Hören folgende Werke total umgehauen und begeistert:
Strawinski: Sacre (wegen der rhythmischen Urgewalt, wegen des Klangs, ach rundum)
Bernstein: Chichester Psalms
Bernstein: West Side Story (auch die Orchestersuite)
Bernstein: I hate Music (Liederzyklus)
R. Strauss: Metamorphosen für Streicher (erschütternd!!)
Pärt: fratres (Violine und Klavier)
Pärt: Magnificat (und andere Kirchenmusik)
Glass: Streichquartett
Barber: Streichquartett Nr.1
Barber: Klavierkonzert
Berg: Violinkonzert
Schönberg: verklärte Nacht
Schönberg: Gurrelieder
Schönberg: Moses und Aaron
Dallapiccola: Paganini-Sonatine
Ligeti: Requiem
Ligeti: Klavieretüden
Schnittke: Filmmusik zu "Abschied von Matjora"
Schostakowitsch: Leningrader Sinfonie
Ornstein: a la Chinoise
Ginastera: danzas argentinas
Ginastera: Klaviersonaten

Natürlich gefallen mir noch zahlreiche andere Sachen aus dem 20. Jh., aber diese haben mich schon beim allerersten hören fasziniert, ich musste mich nicht erst "einhören". (Ravel, Skrjabin, Debussy, Bartok, Prokoviev lasse ich mal aus, obwohl die ins 20. Jh. hinein wirkten)

Das ist eine rein private subjektive Ansammlung - man könnte einwenden: da ist aber viel "traditionelleres" dabei. Na ja, ich halte es da mit Guiseppe Verdi:
Zitat von Verdi:
für mich gibt es nur gute und schlechte Musik
 
Liebe Chiarina, lieber Pierre (oder sollte ich dich in Anbetracht des Fadens vielleicht "Pierrot" nennen? :P), lieber Rolf, liebe Klimperline, liebe Debbie und alle anderen, die hier noch mitlesen!

Wenn dieser Faden pertinent geführt wird, wird sich hier bald ein virtuelles Symposium für zeitgenössische Musik abspielen, ansonsten riskiert die Sache in plärrende Streitereien abzurutschen.

Ersteres wäre völlig in meinem Sinne, da mich das Thema sehr interessiert. Mir geht es auch in erster Linie nicht darum, hier eine Lanze für die Neue Musik zu brechen (auch wenn jeder hier schon erkannt haben wird, dass ich ihr durchaus sehr offen und interessiert gegenüberstehe), sondern vor allem um einen wirklichen Diskurs, der für beide Seiten interessant sein kann, wenn er denn ehrlich und fair geführt wird:
Auf der einen Seite können diejenigen, die bisher keinen Zugang zur Neuen Musik haben, evtl. eine Idee davon bekommen, was andere Leute daran interessant finden oder dass es in guter Neuen Musik (wie in aller guten Musik - das hat nichts mit Neu oder nicht Neu zu tun) um wesentlich mehr als nur um irgendwelche beliebigen Effekthaschereien geht, die jemand als Kunst deklariert.
Auf der anderen Seite können diejenigen, die bereits an Neue Musik gewöhnt sind und sie auf irgendeine Art mögen, sich selbst nochmal fragen, ob dies schon immer so war oder ob sie ebenfalls Schwierigkeiten im Hören hatten; sie können sich fragen, wie sie zu ihrem Zugang gekommen sind und vielleicht versuchen herauszufinden, woran es liegt, dass sie Neue Musik (mittlerweile oder schon immer) ganz gut hören können. Mich persönlich interessiert momentan sehr, warum gute Musik so geschrieben ist wie sie geschrieben ist und wie Musik "gehört wird". Unter Letzteres fällt z.B. schon Klimperlines Beitrag und meine damit verbundenen Nachfragen, da mich z.B. interessiert, ob sie ihre Abneigung "experimenteller Musik" (ich nenne es einmal so und bitte den Einzelnen in ihrem Beitrag nachzulesen, was sie damit genau meint) an der Art der Benutzung bestimmter Parameter festmachen kann.

Darüber hinaus bin ich der Meinung, dass das Thema der "Neuen Musik" alle Musiker etwas angeht. Wir leben nicht isoliert von unserem historischen Kontext, weder von dem was jetzt ist, noch von dem, was gewesen ist. Letzteres begründet für mich einen Kritikpunkt, den ich all jenen Neuen Komponisten vorwerfe, die sagen, Neue Musik sei völlig losgelöst von jeglicher Tradition denkbar. Natürlich kann man als Ziel vor Augen haben, wirklich Neues zu erschaffen - doch daraus folgt keine Negation der Tradition. Selbst die Ablehnung von Tradition ist schon eine Bezugnahme auf diese und somit nicht davon losgelöst. Wenn heute jemand ein Violinkonzert schreibt, so steht es wohl oder übel "in Tradition" im Sinne dessen, dass es sich einreiht in eine historische Reihe von Violinkonzerten.
Aus dem ersten Teil der kursiv gedruckten Aussage folgt für mich allerdings persönlich z.B. auch, dass ich mich als Musikerin in einer gewissen Verantwortung unserer zeitgenössischen Komponisten gegenüber sehe, denn schließlich sind wir diejenigen, die entscheiden, was den Generationen nach uns überliefert wird - was nicht gespielt wird, kennt heute niemand, dann kennt es morgen niemand und es wird vergessen werden, wenn sich nicht zufälligerweise ein Mendelssohn findet, der einen wieder ausgräbt und propagiert. Gerade das Beispiel von Bachs “Wiederbelebung” durch Mendelssohn zeigt doch, wie schade es wäre, solche Meisterwerke in Vergessenheit geraten zu lassen.

Höchst berechtigterweise bringst du einen sehr wichtigen Punkt an, der sich natürlich auch auf das Beispiel Mendelssohn/Bach anwenden lässt:

Das Hauptproblem besteht m.E. in der überaus kurzen Distanz, oder sollte man sagen in der überaus großen zeitlichen Nähe in welcher wir zu den Werken stehen.
Mendelssohn stand in der nötigen Distanz zu Bach, richtig. Vielleicht hat er ihn deshalb so sehr wertschätzen können. Es mag sein, dass das “Standardpublikum” aus genau diesem Grund heute und wahrscheinlich zu jeder Zeit die jeweilige zeitgenössische Musik als problematisch empfunden hat. Es gibt auch innerhalb der zeitgenössischen Musik die Streits zwischen den Lagern, zwischen Individualisten und Ideologen welche wohl auch alle der fehlenden Distanz entspringen. Die Distanz können wir offensichtlich nicht erreichen. Schade wäre, wenn man an dieser Stelle die Flinte ins Korn werfen müsste und sich damit abfinden würde, die Sache unserer Nachwelt zu überlassen.
Denn ich sehe es eigentlich wie Chiarina es sagt:

Zitat von Chiarina:
Wenn man also von außen solche Musik hört, wird man vielleicht erst einmal abgestoßen sein. Lässt man sich mal auf diese Klangwelt ein, können dabei Erlebnisse und Erkenntnisse von hohem Gewinn heraus kommen.
und wie du, Pierre, es auch sehr schön beschreibst in einem deiner nächsten Abschnitte:

Sobald der Künstler ehrlich arbeitet, gewinnt der Zuhörer seiner Arbeit immer etwas ab. Legt der Künstler nun aber, sagen wir mal gelinde, nicht genügend handwerkliches Können an den Tag, ja dann merkt man das auch in der modernen Kunst. (...) Es gibt durchaus komponierte Werke die einfach mangelhaft sind, aber es gibt doch unheimlich viel gute zeitgenössische Musik an der man sich vorbehaltslos erfreuen kann

Uneingeschränktes ja zu all diesen Aussagen! Ich für meinen Teil habe feststellen dürfen, dass gut gearbeitete Musik es schafft, sich zu vermitteln - das einzige Muss ist meines Erachtens nach Offenheit und Unvoreingenommenheit beim Hören. In Seminaren, aber auch in privater Runde mit Nicht-Musikern, habe ich immer wieder erstaunt festgestellt, wieviel Struktur sich doch vermittelt, ohne dass der Hörer analyisert hat, ohne dass er nachdenken muss, sondern einfach nur beim Hören. Man weiß dann vielleicht nicht, was genau dahinter steckt (das hören vielleicht in der Tat eher Hörer, die damit mehr Erfahrung haben), aber es vermittelt sich sehr deutlich, dass dies etwas Wohldurchdachtes ist. Auf der einen Seite sollte man natürlich nicht mit der Holzhammermethode komponieren und die Struktur vor das Stück stellen (rein konstruierte Stücke sind auch wieder langweilig), auf der anderen Seite muss Struktur sehr wohl vorhanden und verarbeitet sein. Auch wenn der Hörer diese nicht in ihrer Machart erkennen muss, so wird sie sich ihm latent vermitteln und er wird ein anderes Gefühl von "geführt werden" verspüren als dies bei Musik der Fall ist, die nicht so gut komponiert ist.

Es ist doch ein altes Prinzip: Menschen suchen immer nach wiedererkennbaren Strukturen, ob bewusst oder unterbewusst. “Struktur” kann man nun in verschiedensten Parametern finden, sei es nun die Form des Stückes, die Harmonik, die Melodik, die Rhythmik etc... Daher auch meine Frage an Klimperline, welche Rolle bei ihr die Form spielt und welche die Harmonik. Ihr Beitrag klang mir nämlich sehr danach, dass jemand eine klare Struktur sucht und diese nicht in der zeitgenössischen Musik finden kann. Ist dem so, Klimperline?

Ich denke, in dieser Suche nach Struktur liegt eines der Probleme, mit denen die Neue Musik zu kämpfen hat: Die Strukturen sind da (gute Stücke vorausgesetzt), aber es sind teilweise so andere, neue Strukturen, dass sie unser Hirn erstmal als solche (wenn auch nur unterbewusst) erkennen muss. Die Struktur der Tonalität (egal ob Dur, Moll oder modal) hat sich uns seit Jahrhunderten vermittelt, weshalb wir diese nun als total natürlich und klar empfinden. Alles, was davon abweicht und uns diese Struktur vorenthält, stört erstmal unser Befinden von Struktur. Das ist ganz klar und natürlich. Zu Mozarts Zeiten wäre man wahrscheinlich schon bei ganz anderen Dingen getürmt.

Ich bin todmüde und muss ins Bett, da ich morgen wieder früh raus muss. Da ich momentan leider gerade nicht nur viel, sondern sehr viel Arbeit habe, mir dieses Thema und der Faden aber wirklich etwas wert ist, möchte ich nochmal betonen, wie wichtig mir ein guter, fairer Diskurs ist, um eben nicht "in plärrende Streitereien abzurutschen" (Zitat Pierre) - auch wenn ich einmal in den nächsten Tagen nicht die Zeit haben sollte, soviel und so schnell zu antworten. Bisher funktioniert das ja, auch bei einem solchen Thema, und ich würde mich sehr freuen, wenn das so bleiben würde.

Herzliche Grüße,
Partita
 
...vielleicht wäre eine Formulierung wie Musik des 20. Jhs. unverfänglicher - man gerät leicht zwischen die Fronten... hie Avantgarde da böse Traditionalisten :D

Rolf, wir leben mittlerweile im 21. Jhd., falls du es nicht mitbekommen haben solltest, diese Musik möchte ich auch nicht ausschließen :D

Scherz beiseite: Gerne können hier sowohl Avantgarde, als auch "Gegenavantgarde" und Traditionalisten besprochen werden - je umfassender, desto interessanter! Jeder soll das beitragen, was ihm zum Thema Rezeption Neuer Musik wichtig erscheint und noch habe ich die Hoffnung, dass das in einem guten Diskurs vonstatten gehen kann. Es sei denn, Boulez meldet sich demnächst hier im Forum an... :D
(@alle: Nein, ich habe nichts gegen Boulez und schätze seine Werke - jeder, der ein bisschen was über ihn weiß, weiß wohl, was ich damit meine...)

Darf man eigentlich aus deiner Formulierung "hie Avantgarde da böse Traditionalisten" auf deine Position schließen? :p

Herzlichst,
Partita
 

Liebe partita,

Rolfs Sacre (wenn ich's mal so sagen darf :D ) steht bei mir auch an erster Stelle, weil er beim ersten Hören so ungeheuren Eindruck gemacht hat. Übrigens wie auch Berlioz' Symphonie fantastique, die ich hier eigentlich gar nicht erwähnen darf, weil sie ein romantisches Werk ist. Aber die damalige "zeitgenössische" Kritik (Mendelssohn......) hat ja auch sehr irritiert auf diese Symphonie von 1830 reagiert, Schumann mal ausgenommen. Heute ist sie eine der berühmtesten und wegweisenden Programmmusiken des 19. Jahrhunderts. Davon kann man durchaus lernen im Hinblick auf die eigene Rezeption und diese immer wieder hinterfragen.

Z.B. müsste ich mal wieder die in der Zwölftontechnik komponierten Klavierstücke von Stockhausen hören. Ich habe sie vor ca. 20 Jahren zum letzten Mal gehört und konnte nie etwas mit ihnen anfangen. Sie erschienen mir, wie manch andere Zwölftonmusik auch, wie unverständliches Geklimper ohne Struktur :D und das ausgerechnet bei einer so strukturierten Musik.

Das Problem ist vielleicht, dass man etwas, was man nicht mochte, nicht noch einmal hört und so seinen nun 20 Jahre älteren Ohren :D keine Chance gibt, das Ganze nochmals zu erleben. Insofern bin ich gespannt, ob diese Stücke mir nun besser gefallen.

Was mir an zeitgenössischer Musik besonders gefällt, ist die Menge an nie gehörten Klangfarben, die auch mal ins Geräusch übergehen können und eine teils phantastische Rhythmik.

Schwierig ist sicher auch (besonders für Laien?), in der Menge der zeitgenössischen Musik etwas zu finden, was einem zusagt. Da zu unterscheiden und unterscheiden zu können, was gut oder schlecht komponiert ist, ist eben schwieriger als in vorherigen Epochen.

Liebe Grüße

chiarina
 
Guten Abend!

„Neue Musik" muß niemandem gefallen.

Man sollte ihr nur soviel Respekt gegenüberbringen wie jeder anderen Sache auch,
die mit Redlichkeit betrieben wird: indem man die Hintergründe ihrer Entstehung
zu begreifen versucht. Es kann offenbar kaum noch jemand nachvollziehen,
was vor hundert Jahren bildende Künstler, Schriftsteller und Komponisten bewogen hat,
dem Ideal einer hermetischen Kunst nachzujagen, an der man sich abarbeiten muß,
um durch Erkenntnisgewinn belohnt zu werden. In einem apokryphen Adorno-Zitat heißt es:
Musik ist seit der Zeit Schumanns auf der „auf der Flucht vor dem Warencharakter der Banalität".
Man muß sich die photorealistischen Bilder der Gründerzeit, die Kaiser-Geburtstags-Lyrik
oder die Gebrauchsmusik-Potpurris jener Tage vor Augen führen, um zu verstehen,
wovor Künstler in Frankreich, im deutschsprachigen Raum, in Rußland unabhängig voneinander
geflohen sind: vor der Zumutung, das Amüsierbedürfnis eines immer denkunwilligeren Publikums
befriedigen zu müssen, das nur die Reproduktion des schon Vertrauten zuläßt,
bei allem Unvertrauten aber auf seinen Hausschlüsseln zu pfeifen beginnt.

Insofern hat sich beim Übergang zur künstlerischen Moderne mehr vollzogen als nur
der Wechsel einer Stilepoche. Die Künstler haben ihrem Publikum den Konsens aufgekündigt,
ohne ihm jedoch vorzuenthalten, worauf es ein Anrecht hat: Ehrlichkeit.
Es ist konsequent, daß "zeitgenössisch" und "modern" fast zu synonymen Begriffen geworden sind -
weil sich an dieser Haltung bis heute prinzipiell nichts geändert hat. Gründungsdokumente
der Neuen Musik wie Bartóks "Allegro barbaro" oder Strawinskys "Sacre" können darum
bis heute als Beispiele für zeitgenössische Musik auftauchen, und Werke wie Schönbergs
"Fünf Orchesterstücke op.16" (1909) oder Bergs "Drei Orchesterstücke op.6" (1913)
schockieren bis heute mehr als das meiste, was in spätavantgardistischen Zirkeln
à la Donaueschingen produziert wird.

Ästhetisch befindet sich diese Neueste Musik in der Aporie: Der Aufbruch ins Unbekannte
nach dem zweiten Weltkrieg endete schon in den sechziger Jahren in Ernüchterung,
vor der nur die von den 68er-Ereignissen geprägte Politisierung der Künste Schutz bot.
Aber das emphatisch Neue verwandelte sich in brav tradierte Altmeisterlichkeit.
In diesem Wandel von Moderne zu Modernismus bildete sich kompositorisch
etwas heraus, das mit der Idee der Neuen Musik unvereinbar ist: Madrigalismen.
Man entdeckt sie in den Partituren grundverschiedener Komponisten - identische Tonsätze
für alles und jedes: das Gebrüll der Blasinstrumente (Anklage, Wut auf das herrschende Unrecht),
die Lyrismen (Trauer über die geschändete Welt etc.), insistierende Tonwiederholungen
(Einspruch des Subjekts oder was weiß ich).

Gesellschaftlich ist die Neue Musik isoliert, was nicht nur an der oben beschriebenen
Selbstisolierung der Komponisten liegt, sondern auch an der mangelnden Folgebereitschaft
des Publikums. Es hat längst seine Abstimmung mit den Füßen vollzogen (die von einem
großen Teil der Komponisten ignoriert wird). Daran kann auch keine Crossover-Marketingstrategie
etwas ändern, kein von Medien und Fachzeitschriften lancierter electronic underground,
keine wild in Parks oder Räume hineingestellten Klanginstallationen.

Ich warte auf eine "terza pratica", die all diesen Unfug Makulatur werden läßt.

Herzliche Grüße!

Gomez

.
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
Tja, nun müßte man eine Idee haben, wie diese terza pratica ausschauen sollte. Allerdings wäre es eher eine sexta pratica. Als terza pratica könnte man ja alles bezeichnen, was nach frühbarocker Monodie kam, von Frühklassik bis Romantik; als quarta pratica den Versuch, kadenzierende Musik mal durch diese Sprache (Rückgriff auf archaische Leittonlosigkeit), mal durch jene Sprache (völlige Emanzipation der Chromatik) abzulösen; als quinta pratica die vollkommene Beliebigkeit (egal wie's klingt -- Hauptsache, es ist nicht tonal und läßt den Zuhörer denken, daß es an ihm liegt, wenn's scheiße klingt -- eine Einstellung, die wir zu einem guten Teil einem gewissen Herrn Wiesengrund verdanken).

Nun könnte man allerdings auch einen ganz anderen Gedanken mal zulassen: daß die Kunstmusik eine zeitlich begrenzte Kunst ist und daß sie vorbei ist. Will man das nicht wahrhaben und träumt von einer wie auch immer numerierten pratica, hilft nur eines: einzusehen, daß es nicht viel Sinn ergibt, die vage Idee einer neuen pratica zu haben und zu hoffen, daß andere sie erfinden. Erfinde sie doch einfach selber.
 


Ist doch längst passiert - allerdings gibts hier kein "Erfinden", sondern
konträr das "Entdecken". Und das widerum verdankt sich ua. solchen
Menschen wie "Herrn Wiesengrund" - Menschen mithin, die aufrecht
auf eine Tradition rekurrieren, von deren schlichter Existenz die
Allermeisten nicht den blassesten Dunst haben.

Und irgendwie ist das auch gut so.
 

Lieber Gomez,

vielen Dank für deinen höchst interessanten Beitrag!

Natürlich kann nicht davon die Rede sein, dass neue Musik "gefallen muss" - aber sie sollte es dem Hörer doch zumindest ermöglichen, einen - wie auch immer gearteten - Zugang zu ihr zu finden. Der Hörer muss Neue Musik ja nicht unbedingt genießen können, sollte aber doch zumindest die Chance haben, sie irgendwie zu verstehen!

Da jedoch bei den Komponisten der Neuen Musik ein großer Stilpluralismus herrscht und man die angestrebte musikalische und kompositorische Erneuerung sowie Ausweitung des musikalischen Ausdrucksspektrums auf höchst unterschiedliche Weise umzusetzen versucht, wird der Hörer die Chance, neue Musik zu verstehen, jedoch nur dann haben, wenn er über umfassende musiktheoretische und -geschichtliche Kenntnisse verfügt. Andernfalls ist er darauf angewiesen, einen rein intuitiven Zugang zu dieser Art von Musik zu finden. Ob dies gelingen kann, halte ich für sehr fraglich - ich vermute eher, dass sich aus diesem Grund die Neue Musik vorwiegend einer musikalisch entsprechend gebildeten Elite erschließt.

Die Hörgewohnheiten heutiger Hörer sind in der Musik, die sich in den vergangenen Jahrhunderten in Europa entwickelte verwurzelt. Gute Musik dieser Zeit ist klangschön, ausdrucksstark und faszinierend; wir können sie genießen, bewundern und sie uns immer wieder anhören!

Hören wir Neue Musik, so bringen wir unbewusst diese Erwartungen mit - und ich meine, auch nicht zu unrecht! Musik ist vielseitig und vielfältig und nicht nur eine Sache für den Kopf! M.E. hat sich die bisher geschaffene Neue Musik in ihrem Erneuerungsbestreben - zumindest in Teilbereichen - zu stark intellektualisiert und damit auch wieder eingeschränkt.

Zu der Prägung der eigenen Hörgewohnheiten fällt mir noch ein kleines Beispiel ein:
Vor ca. 20 Jahren hörte ich auf Bali ein großes Gamelanorchester mit Holzblasinstrumenten. Diese Art von Musik war mir völlig fremd, auch wenn ich sie irgendwie faszinierend fand. In ihr fand ich nichts, was meinem Ohr bekannt war. Diese Musik erzeugte bei mir eine bedrohliche, fast beängstigende Stimmung. Ich fühlte mich extrem unwohl und bedrängt und hätte am liebsten die Flucht ergriffen. Ich hatte überhaupt nicht das Bedürfnis, solche Musik noch einmal zu hören. Heute würde ich gerne noch mal ein solches Orchester hören, um festzustellen, ob meine Empfindungen dabei noch die gleichen wären!:D

LG

Debbie digitalis
 
Als terza pratica könnte man ja alles bezeichnen, was nach frühbarocker Monodie kam,
von Frühklassik bis Romantik; als quarta pratica den Versuch, kadenzierende Musik
mal durch diese Sprache (Rückgriff auf archaische Leittonlosigkeit), mal durch jene Sprache
(völlige Emanzipation der Chromatik) [...]

Das ist grober Unfug.

Am Grundprinzip, der Stützfunktion des Basses, auf den die Oberstimme
und die Akkordfortschreitungen in den Mittelstimmen bezogen bleiben,
hat sich bei aller Zunahme der harmonischen Komplexion nichts geändert,
sowenig wie an der Hierarchisierung der Akkorde.

Das gilt selbst für die Frühphase der Neuen Musik : Auch nach Preisgabe
der Tonalität und der Hierarchisierung harmonischer Ereignisse, hat sich
zum Beispiel in der Musik der Wiener Schule satztechnisch wenig geändert.

Im Stilpluralismus der Avantgardemusik nach 1945 tritt wirklich etwas Neues
zutage, nämlich in der Frühphase der seriellen Musik, aber keiner der daran
beteiligten Komponisten hat den Ansatz weiterverfolgt.

als quinta pratica die vollkommene Beliebigkeit (egal wie's klingt --
Hauptsache, es ist nicht tonal und läßt den Zuhörer denken, daß es an ihm liegt,
wenn's scheiße klingt -- eine Einstellung, die wir zu einem guten Teil
einem gewissen Herrn Wiesengrund verdanken).

Auch das ist falsch. So spricht jemand, der in seiner Halbbildung
zwar Herrn Wiesengrund kennt, aber Adorno nicht gelesen, geschweige denn
verstanden hat. Adorno ging es um das Gegenteil von Beliebigkeit,
und Schuldzuweisungen à la Kernbeisser waren seinem Denken völlig fremd.


Zitat von Pierre Boulez:

[...] ohne Zweifel wollte Debussy zu verstehen geben, daß er
seine Revolution erst träumen mußte, bevor sie durchzuführen war.

.
 
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Liebe Debbie,

vielen Dank für Deine Antwort, der ich - wie Du Dir denken kannst -
leider nicht zustimme. Es gibt, wie schon gesagt, keine Verpflichtung,
Neue Musik zu mögen. Man sollte aber auch die Möglichkeit nicht ausschließen,
daß es Menschen gibt, denen diese Musik auch ohne Vorkenntnisse unmittelbar gefällt.

Für mich war die erste Begegnung mit dem "Sacre du Printemps" eine Offenbarung:
das hohe Fagott zu Beginn, die durcheinanderstürzenden Vogelstimmen, die darauf folgen -
oder noch stärker: die erste Begegnung mit Schönbergs "5 Orchesterstücken" oder
dem "Pierrot lunaire", Bergs "3 Orchesterstücken", Weberns Symphonie op.21 -
das waren unglaubliche Erlebnisse, besser als der erste Kuß.

Nun kannst Du sagen, ich sei das Produkt eines bildungsbürgerlichen Elternhauses.
Auf dem Plattenteller meiner Eltern dudelte nonstop Beethoven 1-9, gelegentlich
unterbrochen von Berlioz, Smetana, Dvorak oder zu Weihnachten J.S.Bach.

Aber kennst Du Frank Zappas Memoiren? Zappa war der Sohn armer italienischer Einwanderer.
Aus dem elterlichen Grammaphon erklangen Songs wie "The little Shoemaker".
Trotzdem waren für Zappa der "Sacre" oder Varèses Orchesterstücke ebensolche
Offenbarungen wie für mich. Ob die Neue Musik unmittelbar einleuchtet oder nicht,
das scheint demnach nicht am Bildungshintergrund zu liegen.

Hören wir Neue Musik, so bringen wir unbewusst diese Erwartungen mit -
und ich meine, auch nicht zu unrecht!

"Unbewußt" - vielleicht, aber "auch nicht zu unrecht" - das ist falsch.

Man kann einer Sache nicht gerechtwerden, wenn man sie mit dem
falschen Maßstab bemißt. Wenn ich an "La forza del destino" den Maßstab
eines durchkomponierten Musikdramas anlege, kann mein Hörerlebnis
nur bestürzend sein. Ich gehe leer aus. Dasselbe gilt für den Umgang
mit Neuer Musik. Eine gewisse Neugierde muß die Grundvoraussetzung sein -
und der Wille, sich weiter damit zu beschäftigen, auch wenn sich einem
die Musik beim ersten Hören nicht erschließt.

Herzliche Grüße,

Gomez

.
 
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Guten Tag, liebe Leute von heute,

Interessant finde ich übrigens, dass ich sofort einen Zugang zu den (frühen) seriellen Werken von Pierre Boulez hatte,
jedoch als ich ihn dann (am selben Tag) ein relativ spätes Werk, was sich für mich, vorsichtig gesagt, nach sog.
"atonalen Gedudel" anhörte, dirigierend erlebte, war mir dieser Zugang wieder verschlossen...
Ich habe jetzt "Structures II" und "explosante-fixe" verglichen (bei letzterem gefiel mir nur die Elektronik :D ).
Vom Vergleich des kraftsprühenden Stückes "Incises" und der gähnenden Langeweile von "Sur Incises" brauche
ich jetzt nicht zu sprechen.

LG,
Anton

PS: "Sacre" lief bei mir in einer Endlosschleife als kleines Kind (Fantasia:kuss: ).
PPS: Die "Lulu"-Suite war auch ein prägendes Werk für mich. Ich hatte mir die CD mit Claudio Abbado zum
Einschlafen (:D) herausgesucht, da dachte ich, ich bekomme gleich schrille Klänge, ect. zu hören. Als ich es
nun einschaltete, bot sich mir Musik der schönsten Harmonie. Das war meine erste Erfahrung mit Werken
der Zwölftontechnik.
 
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Tornado, du überraschst immer wieder!
Obwohl… mein Sohn schlief in Deinem Alter damals mit Eminem ein… konnte ich auch nicht richtig nachvollziehen. :)

Wir hatten im Unterricht mal Lieder von Alban Berg, die fand ich damals auch wunderschön.. im Gegensatz zu allen Klassenkameraden. Die restliche Zwölftonmusik hat mich dagegen nicht ‚abgeholt’. Träume am Kamin von Webern (oder Reger?) ist aber auch wunderbar für Klavier.

Insofern kann ich dich verstehen… es muss einen Berühren.. und manchmal schafft es auch die atonale Musik. Manchmal ist es aber auch einfach nur arg anstrengend…
 

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