Liebe Stilblüte,
da du dir die Mühe gemacht hast, diesen Faden zu eröffnen, möchte ich mir die Mühe machen, noch einige Aspekte zu Nicas Ausführungen zu ergänzen. Da es schon spät ist und ich eigentlich schlafen gehen wollte, werde ich nur an der Oberfläche kratzen.
Thema Aufmerksamkeit:
Nica schrieb, dass der "maximalen Aufmerksamkeit" eine besondere Bedeutung zukommt. Das ist prinzipiell völlig richtig, nur sollte man ergänzen, dass beim motorischen Lernen die Aufmerksamkeit auf zweierlei Fokus gelenkt werden kann: einerseits auf die Bewegungsabläufe selbst (interner Aufmerksamkeitsfokus) und andererseits auf das Bewegungsergebnis (externer Aufmerksamkeitsfokus).
Auf das Klavierspielen übertragen bedeutet dies, dass man beim Üben von Bewegungsabläufen einmal auf die korrekte Bewegung an sich achten kann, oder auf das Ergebnis, also auf den Klang. Hier hat sich gezeigt, dass Bewegungen besser, sprich schneller und nachhaltiger gelernt werden, wenn der Fokus auf den externen Merkmalen liegt. Für Lehrer bedeutet dies: nicht dem Übenden die Bewegung zeigen oder seine Hände führen, sondern das gewünschte Ergebnis, den produzierten Klang möglichst eindrucksvoll und nachvollziehbar vor Augen und Ohren führen. Letztlich ist das natürlich keine Frage des "entweder-oder", sondern es geht um die Schwerpunkte. Klavierschüler, die überwiegend gezeigt bekommen, wie sie die Hände zu bewegen haben, werden länger und mühsamer zum Ziel gelangen, als solche, deren Lehrer die erwünschte Bewegung vermittelt durch präzise Klangbeschreibung (bildhaft, plastisch etc.) beschreiben. Als Schüler konzentriert man sich damit nicht auf die Bewegung selbst (intern), wie ein Tausendfüßler, der versucht das 389 Bein von hinten links im Takt zu halten, sondern schlicht auf das Klangergebnis (extern). Das Hirn denkt nicht in Fingern, Gliedmaßen, Muskeln und Gelenken, sondern in Funktionen, Zwecken und Zielen. Insofern sollte Bewegungslernen immer an solche Ziele, Zwecke und Funktionen gekoppelt sein.
Damit eng verbunden steht der Punkt "Feedback": Hier unterscheidet man zwischen dem Knowledge of Performance (KoP) und dem Knowledge of Results (KoR). Geht es darum, dem Schüler Feedback über gute oder weniger gute Bewegungsabläufe zu geben, gilt auch hier, dass es "lernfreundlicher" ist, mit KoR zu arbeiten. Sprich, wieder am letztlich hörbaren Klang zu veranschaulichen, was gut oder nicht gut war/ist. Irgendwie leuchtet das auch ein, denn intuitiv würden die meisten zustimmen, dass ein Feedback im Stile von: "dein Handgelenk sollte um 12° weniger erinwärts gedreht stehen bevor du den Daumen im Grundgelenk in maximale Oppositionsstellung bewegst" nicht so viel bringt als "die Tonleiter hört sich an, wie ein rollendes Ei auf der Tischplatte".
Allerdings ist hier Vorsicht geboten, denn in frühen Lernstadien hat sich die Feedbackgabe im Sinne des KoP sehr wohl bewährt. Es ist also eine Gratwanderung, abzuschätzen wie weit der Lernprozess vorangeschritten ist, um eben entweder mit KoP oder KoR zu arbeiten. Nur wissen sollte man, dass bei bereits vorhandenem (Basis)Können das KoP auch zur Störung des an sich sicheren Bewegungsablaufs führen kann.
Zum "Feedback" gehört auch, dass es den Lernprozess positiv beeinflusst, wenn der Lernende selbst bestimmen kann, wann er Feedback bekommen möchte und vor allem aktiv danach fragt. Dahinter steckt eine Art Selbstbewertung, die nach Abgleich mit der Expertenmeinung sucht. Im Idealfall stimmen der subjektive Eindruck mit der Expertenmeinung überein, was zur Folge hat, dass hier eine besondere Stabilisierung der vollführten Bewegung stattfindet. habe ich also selbst den Eindruck, dass dieser Triller gut gespielt war und frage dazu meinen Lehrer, der mir das dann bestätigt, dann freuen sich die Synapsen und verknüpfen sich um so freudiger :D
Was das Abrufen von Gelerntem betrifft, so muss ich Nica widersprechen oder zumindest anmerken: Es ist eben genau nicht so, dass etwas als gelernt gelten kann, wenn es auf die Ähnlichkeit der Abrufsituation mit der Lernsituation angewiesen bleibt. Man spricht hier von Transfer. Das heißt Gelerntes gilt dann als gelernt, wenn es in fremden Situationen auch sicher beherrscht wird. Nica spricht zwar von deklarativem Wissen (das sich in der Tat von prozeduralem unterscheidet), aber die Prinzipien bleiben. Wenn ich einmal gelernt habe, wie eine statistische Berechnung von xy erfolgen muss, dann sollte ich das auch bei völlig anderer Faktenlage und Fragestellung können. Entsprechend sollte ich das legato-Spiel nicht nur bei Bachschen Cantilenen beherrschen, sondern auch bei Beethoven. Beim Üben und Unterrichten kommt das zum Tragen, wenn man gewisse motorische Komponenten immer wieder von Neuem erklären und einüben muss, anstelle von bereits in vorangegangenen Stücken Erarbeitetem Bekanntes abzurufen. Als guter Lehrer hat man natürlich alle Stücke des Schülers auf dem Schirm und kann ihn ggf. daran erinnern: "Hey, das hatten wir schon mal da und da, erinnerst du dich..." Wenn man diese Art Erinnerung öfter fallenlassen muss, dann stimmt etwas nicht. Hier hat der Schüler nämlich offensichtlich noch nicht gelernt (er ist noch nicht transferfähig). Also selbst, wenn etwas in einem Stück gut klappt, ist das nicht automatisch schon eine Garantie, dass es in anderen Stücken auch hinhaut. Hier sollte der Lehrer ein prüfendes Auge und Ohr haben, um den Lernprozess kritisch zu verfolgen und zu beurteilen und eben ggf. noch mal nachlegen.
Zur "Motivation" fällt mir noch ein: der Mensch ist manchmal doch sehr einfach gestrickt. In den meisten Fällen möchte er einen unbefriedigenden Zustand in einen befriedigenden Zustand überführen. Das motiviert ihn dies oder jenes zu unternehmen. Das Tolle daran ist, dass sich hinter dieser Zustandsüberführung ein ziemlich wirksames Belohnungssystem verbirgt. Voraussetzung ist allerdings, dass man eine sehr genaue Vorstellung vom Wunschzustand hat, um ihn auch als solchen zu erkennen und zu bemerken, wenn man ihn erreicht hat. Das löst dann Glücksgefühle aus, die Belohnung liegt im Erreichen des Wunschzustands.
Für das Klavierspielen bedeutet dies, dass man, um sich zu fleissigem Üben zu motivieren, eine klare Vorstellung vom Ziel haben sollte bzw. vermittelt bekommen sollte. Hat man das nicht, weiß man also nicht, was am Ende des Tages erreicht sein soll, dann wird es auch schwierig Glück/Belohnung zu empfinden und daraus Motivation zu schöpfen. Ein Schüler, der nicht genau weiß, was er üben soll und wie es klingt, wenn er es sich erfolgreich erübt hat, der wird nicht in der Lage sein, etwas Unbefriedigendes in etwas Befriedigendes zu überführen und folglich auch wenig Motivation schöpfen können, überhaupt zu üben. Und Nicht-Üben ist immer schlecht fürs Lernen :D Einstein sagte mal, dass Menschen deshalb so gerne Holzhacken, weil sie dabei bei großer körperlicher Belastung ein doch stolz sichtbares sofortiges Ergebnis erzielen, und das macht die Menschen glücklich. Da ist doch was dran, oder?!
In dem Zusammenhang fällt mir noch ein, dass es eine Rolle spielt, mit welcher Überzeugung der eigenen Lernfähigkeit man durchs Leben geht. Sagt man einem Klavierübenden nur häufig genug, dass Klavierspielen vor allem etwas mit Talent zu tun hat, dann fördert das nicht die sogenannte "Selbstwirksamkeitsüberzeugung". Umgekehrt hat es sich als sehr lernfördernd herausgestellt, wenn man jemandem vermittelt, durch aktives Zutun können Fähigkeiten im gewünschten Ausmaß erworben werden.
In einer Studie wurde malenden Kindern zweierlei Feedback gegeben: Der einen Gruppe sagte man "Das hast du gut gezeichnet!", der anderen Gruppe sagte man "Du bist ein guter Zeichner!". Bei Gruppe 1 wurde dadurch suggeriert, dass Zeichnen eine persönlich beeinflussbare Fähigkeit ist, in Gruppe 2 wurde suggeriert, dass Zeichnen quasi ein angeborenes Talent sei. Nun darf man raten, welche Gruppe zukünftig mehr Spaß am Zeichnen hatte und öfter nach Stift und Papier gefragt hat.... Und das obwohl beide Rückmeldungen auf den ersten Blick positiv klingen. Tja, die Macht des Unterbewussten und der Suggestion.
Natürlich mag man drüber streiten, ob es wirksamer ist zu sagen, "das hast du gut gespielt" oder "du bist ein guter Klavierspieler". Mich würde beides freuen, da bin ich nicht so wählerisch
So weit, jetzt habe ich keine Lust mehr und gehe schlafen. Gute Nacht.
LG, Sesam