Meisterwerke der Klaviermusik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

alibiphysiker

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Liebe clavios!

Vielleicht haben ein paar von euch ja auch Interesse an "zeitgenössischer" Klaviermusik. Mir ist jedenfalls (an mir) aufgefallen, dass ich - obwohl ich doch einige Komponisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kenne - nun nicht aus dem Stehgreif sagen kann, welchen Einzelwerken oder Werkzyklen man (oder ich) nun den Status eines "Meister-" oder "Schlüsselwerks" zukommen lassen könnte/würde.

Ich würde mich freuen, wenn hier ein Austausch über Klavierwerke der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stattfinden könnte, Werkempfehlungen ausgesprochen würden und Zugänge zu Werken (auch für musikalische Laien) erörtert werden könnten. (Im Gegenzug würde ich mir keine Diskussion über den "Sinn" oder die Existenzberechtigung von angeblicher "Katzenmusik" wünschen. Falls dazu Diskussionsbedarf bestehensollte, kann gerne ein eigener Faden eröffnet werden!)

Liebe Grüße,

Daniel
 
Ein kleiner Einstiegsbeitrag zu einer Werkgruppe, die mir sehr gut gefällt. Nämlich Stockhausens Klavierstücke! Besonders gefallen mir hier die VII. und die XI. Aktuell kann ich nicht (objektiv) begründen, warum ich diese Stücke so gut finde. Ich finde jedenfalls, dass sie sehr gut mit musikalischen Erwartungen spielen, reich an tollen Ideen sind und auch auf eine gewisse Art und Weise "kühn" sind, da auch sehr "schroffe" Ideen ein Podium finden.

Ein weiterer Werkzyklus den ich sehr interessant finde (aber zu dem ich noch nicht sagen kann, wie gut ich ihn nun eigentlich finde) ist Tristan Murails "Les travaux et les jours". Vor allem auf einer guten Stereoanlage (oder eben am Flügel) hört man - finde ich - wie fein die hier verwendete Harmonik abgestimmt ist und welch schöne Klangfarbe die einzelnen Klänge erzeugen. Einiges erinnert hier auch an Skrjabin oder Messiaen. Teilweise finde ich den Zyklus nicht so abwechslungsreich, aber das kann auch daran liegen, dass ich noch nicht genau genug zugehört habe.

Ein Werkzyklus dem natürlich eine gewichtige Rolle zukommt sind Ligetis Etüden. Hierzu muss ich glaub ich hier nun nicht so viel schreiben.

Ich würde mich über weitere Empfehlungen freuen!
 
Spontan würden mir da Luciano Berios Six Encores einfallen, oder Sciarrinos Notturni Crudeli. Und sicher noch viel mehr, wenn ich ein wenig mehr nachdenke, aber ich hab jetzt gerade was anderes über den Ohren...
 
Meiner Meinung nach gibt es zwar das ein oder interessante Werk, aber es gibt keine absoluten, prägenden Highlights, die so herausragen wie z.B. Bachs Goldbergvariationen, die Kunst der Fuge, Beethovens Hammerklaviersonate, Schuberts Sonate D960 und einige andere.
Es gab halt viele neue gute und unsinnige Ideen, die aber selten über längere bis zur Vollkommenheit weiterentwickelt wurden wie die Fuge von Bach.
 
Messiaens "Catalogue d'oiseaux", Ligetis Etüden, Boulez' "Structures", Reichs "Piano Phase", Cages Stücke für präpariertes Klavier, Stockhausen Klavierstücke, Nonos "...sofferte onde serene...", Berios "Encores" und die Sequenza IV, Crumbs "Makrokosmos", Kurtágs "Játékok"
oder Eggerts "Hämmerklavier"-Zyklus sind schon ein wenig mehr als nur "interessant". ;-)
 
Zuletzt bearbeitet:
Steve Reichs „Piano Phase“ wollte ich auch nennen. Und, ebenfalls erwähnenswerte Minimal Music, die „Keyboard Studies“ von Terry Riley sowie Werke von Simeon ten Holt, z.B. „Canto Ostinato“.

Interessant ist bei diesen Komponisten, dass sie gelernt haben, seriell und atonal zu komponieren, sich dann aber einer tonalen Musiksprache zugewandt haben, die auf ihre eigene Weise innovativ gewirkt hat.
 
Aber ich glaube, dass die wenigsten diese Sachen mit den meinerseits genannten Werken und einigen anderen gleichsetzen würden.
Wenn es einen alles Überragenden Meister der Epoche wie es in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Bach und Anfang des 19. Jahrhunderts Beethoven war gibt, ist das meiner Meinung nach in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts am ehesten Messiaen.
 
@St. Francois de Paola
Schwierig, denn das ist doch eine Frage der Musikgeschichtsschreibung, die ohnehin ein Konstrukt ist. Ich weiß, was du meinst und bin auch damit einverstanden (außer dass ich nicht Messiaen, sondern Ligeti auf diesen Thron heben würde), aber woran macht man das fest? Die heutige Musikgeschichtsschreibung geht ja weg von der Heroenverehrung und sieht z.B. Haydn in einer ganz anderen Bedeutung als vor 50 Jahren, als er als „Papa Haydn“ nur als Wegbereiter für Beethoven galt.
 
Bach war in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht der alles überragende Meister - zu dem wurde er erst in der Retrospektive. Weitaus berühmter und international angesehener waren seinerzeit beispielsweise Händel, Corelli, Vivaldi oder Rameau.

Das ist völlig richtig. Ich glaube allerdings, dass die Ansicht bleibt, dass er zu der Zeit der größte war.
Ob sich an der Wertschätzung der Komponisten der E-Musik nach dem zweiten Weltkrieg viel ändern wird, ist ebenfalls interessant.
Ein Problem ist da meiner Meinung nach die Vergleichbarkeit.
Bachs Werk ist mit dem ebenfalls genialen von Händel sicher noch besser vergleichbar als irgendwelche elektronische Musik von Stockhausen mit einem an alte Formen angelehnten Prelude von Messiaen oder z.B. diesem komischen Stück von Ligeti, in dem man fast nur die Note a spielt.
 

Die Musica ricercata ist kein "komisches Stück", sondern ein genialer Wurf Ligetis. Der Zyklus gehört neben den Etüden sicher zu den am häufigsten aufgeführten Werken aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts - vollkommen zurecht!
Absolut! Ich liebe die Musica ricercata. Das ist Spielfreude, Witz, strenge Konstruktion, alles drin! Ich habe mich an der ersten Hälfte versucht (No. 1-6). Ich habe keinen Vergleich mit den Etüden, weil die wirklich außerhalb meiner Reichweite liegen, (die sind wahrscheinlich noch viel schwieriger) aber schon Musica ricercata verlangt vom Interpreten eine Kontrolle über Dynamik, Tempo und Artikulation, die für mich ungewohnt und sehr schwierig war. Richtig bewältigen konnte ich das leider nicht.

@St. Francois: Die No. 1 höre ich besonders gerne! Kennst du die Aufnahme von Aimard? Das ist ganz großes Klavierspiel, finde ich!

lg marcus
 
Messiaens "Catalogue d'oiseaux", Ligetis Etüden, Boulez' "Structures", Reichs "Piano Phase", Cages Stücke für präpariertes Klavier, Stockhausen Klavierstücke, Nonos "...sofferte onde serene...", Berios "Encores" und die Sequenza IV, Crumbs "Makrokosmos", Kurtágs "Játékok"
oder Eggerts "Hämmerklavier"-Zyklus sind schon ein wenig mehr als nur "interessant". ;-)
Auf jeden Fall. Zwei weitere sehr unterschiedliche Komponisten mit umfänglichem Klavierwerk möchte ich als Ergänzung erwähnen: Iannis Xenakis und Morton Feldman. Kleiner, aber absolut faszinierend ist das Klavierwerk von Isang Yun und Toru Takemitsu.

LG von Rheinkultur
 
Ein Problem ist da meiner Meinung nach die Vergleichbarkeit.
Bachs Werk ist mit dem ebenfalls genialen von Händel sicher noch besser vergleichbar als irgendwelche elektronische Musik von Stockhausen mit einem an alte Formen angelehnten Prelude von Messiaen oder z.B. diesem komischen Stück von Ligeti, in dem man fast nur die Note a spielt.

Lieber St. Francois de Paola,

kann es sein, dass du diese Musik kritisch siehst und meinst, dass sie in keinster Weise an die Qualität von Bach etc. heranreicht?

Ich bin auf jeden Fall ein großer Fan von Messiaen und Ligeti (gerade auch von der Musica ricercata). Ein bekanntes, noch nicht genanntes Stück ist auch Elis von Holliger, das mir sehr gefällt.

Liebe Grüße

chiarina
 
Ich halte mich an Stücke, von denen ich sofort die Strukturen verstehe und die mich vom Ablauf her mitreißen. Dazu gehören Ligetis Etüden, aber natürlich auch sein Ricercata.
Für mich entscheidend ist auch, was ich mir spieltechnisch zutraue. Das engt die Sache sehr weit ein.
Gerne würde ich Ric. VII können, aber das Ostinato ist für mich noch nicht machbar, vielleicht später mal. Bei den Etüden arbeite ich aktuell nach wie vor an #4 (Fanfares) und #11 (En Suspens), hab ich einen guten Tag, komme ich schon ganz gut zurecht damit. Es geht an meine technische Grenzen. Was da an Polyrhythmik und neuen Klangfolgen drin ist begeistert mich immer wieder aufs Neue. Gerade diese Elemente finde ich vor allem in dieser Musik und profitiere damit auch für andere Musik.

Grüße
Manfred
 
Lieber St. Francois de Paola,

kann es sein, dass du diese Musik kritisch siehst und meinst, dass sie in keinster Weise an die Qualität von Bach etc. heranreicht?

chiarina

In den meisten Fällen schon, aber nicht immer. Ich persönlich setze mich nicht ständig aber regelmäßig mit Musik auseinander, mit der ich mich sonst weniger auseinander setze.
Ich muss gestehen, dass ich beispielsweise dem genannten Stück von Ligeti wirklich nichts abgewinnen kann.
Ich muss da allerdings auch unterscheiden zwischen Stücken wie z.B. ein Großteil der Ligetietüden, die ich nicht mag (aber trotzdem von hoher Qualität sein können), und Stücken die ich nicht mag und auch nicht für besonders genial halte oder deren Qualität sich mir nicht offenbart. Dazu gehört, wenn ich ehrlich bin diese ricercata und so ziemlich alles, was ich bislang von Cage, Berio oder dem Mann, der große Terroranschläge für große Kunst hält, gehört habe. Vielleicht ändere ich ja meine Meinung einmal, zumal ich noch nicht so viel von den genannten drei Herren gehört habe.

Aber davon ab, noch gar nicht gefallen ist der Name Arvo Pärt. Irgendwie sind seine Kompositionen zwar nicht so komplex und genial wie die von z.B. Messiaen, teilweise kann man auch darüber streiten, ob es sich eher um U-Musik handelt (Stichwort Für Alina). Trotzdem gibt es hier auch sehr originelle Sachen, allerdings weniger für Klavier solo. Das hier ist z.B. recht interessant:


View: https://www.youtube.com/watch?v=WlW49wdynF4&pbjreload=10
 
Zuletzt bearbeitet:
Im Gegenzug würde ich mir keine Diskussion über den "Sinn" oder die Existenzberechtigung von angeblicher "Katzenmusik" wünschen.
Diese Art von Musik so zu bezeichnen, finde bzw. fände ich arg daneben. Und deren "Existenzberechtigung" steht für mich persönlich auch ausser Frage.

... dass diese Formen der Musik halt nicht meinen persönlichen Geschmack treffen, und sie - wie jede andere Musik auch - in Konkurrenz zu jede Menge anderen, auch äußerst gelungenen, musikalischen Werken steht, die meinen Geschmack dann mehr treffen... bei der wenigen Zeit, die ich für genußvolles Musikhören zur Verfügung habe, muss und will ich gezwungenermassen immer eine Auswahl treffen...
 
Es gab halt viele neue gute und unsinnige Ideen, die aber selten über längere bis zur Vollkommenheit weiterentwickelt wurden wie die Fuge von Bach.

Wenn es einen alles Überragenden Meister der Epoche wie es in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Bach und Anfang des 19. Jahrhunderts Beethoven war gibt, ist das meiner Meinung nach in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts am ehesten Messiaen.

Das ist völlig richtig. Ich glaube allerdings, dass die Ansicht bleibt, dass er zu der Zeit der größte war.
Ob sich an der Wertschätzung der Komponisten der E-Musik nach dem zweiten Weltkrieg viel ändern wird, ist ebenfalls interessant.
Ein Problem ist da meiner Meinung nach die Vergleichbarkeit.
Bachs Werk ist mit dem ebenfalls genialen von Händel sicher noch besser vergleichbar als irgendwelche elektronische Musik von Stockhausen mit einem an alte Formen angelehnten Prelude von Messiaen oder z.B. diesem komischen Stück von Ligeti, in dem man fast nur die Note a spielt.

Diese drei Beiträge tangieren meines Erachtens einen Punkt, über den es sich - meines Erachtens - lohnt nachzudenken. Ich weiß nicht mehr welcher Komponist es war (ich dachte es wäre Stockhausen gewesen, aber ich finde das Zitat nicht mehr), aber ein Komponist des 20. Jahrhunderts sagte mal sinngemäß, dass die Komponisten der näheren Vergangenheit es leicht gehabt hätten, da sie innerhalb eines bestimmten Systems komponieren konnten, aber mittlerweile der Komponist für jedes Stück ein eigenes System entwerfen muss. Diese Aussage legt zwei Attribute nahe, mit welchen man musikalische Ideen innerhalb eines Musikstücks meines Erachtens versehen kann: Einerseits Ideen die sich innerhalb eines existierenden Systems bewegen und andererseits Ideen, welche ein "neues" kompositorisches System betreffen.

In diesem Sinne kann man auch Komponisten/Werke in "zweierlei Kategorien" einteilen: Komponisten/Werke, welche existierende kompositorische Systeme zusammenfassen/verwenden (und eventuell auch gewissermaßen zur Blüte bringen) und Komponisten/Werke, in welchen neue kompositorische Systeme erforscht werden.

Zur ersten Kategorie: Wären Bach oder Mozart denkbar gewesen ohne die Vorarbeit zahlreicher "experimentellerer" Komponisten in den Jahrhunderten zuvor? Ich denke nicht. Beides sind für mich Komponisten, die die "in ihrer Epoche entwickelten kompositorischen Systeme" auf ihre Art und Weise zu einer Art "Vollendung" gebracht haben. Das wertet aber meines Erachtens nicht die Arbeit der Vorgänger ab, auf die sie sich gestützt haben.

Ein Beispiel für die zweite Kategorie ist meines Erachtens Skrjabin: In seinen Werken experimentiert er sehr stark mit Harmonik und erschafft seine ganz eigene harmonische Sprache, die das harmonische System seiner Epoche verlässt. In anderen Aspekten (wie z.B. der Form oder der motivisch-thematischen Arbeit) ist er meines Erachtens wenig fortschrittlich.

Ein Beispiel für beide Kategorien ist meines Erachtens Messiaen: Er entwickelt (auf der Schultern vieler Vorgänger) ein eigenes kompositorisches System und reizt gewissermaßen alle Möglichkeiten dieses Systems aus.

Ein Problem der "moderneren" Musik ist nun, dass hier (wie in meinem Eingangszitat schon angeklungen) oft neuartige Systeme erforscht werden. Dies macht es naturgemäß unmöglich, die musikalischen Ideen, welche in diesen Stücken auftreten, zu bewerten, wenn man versucht, diese innerhalb existierender Systeme zu bewerten. Soll heißen: Eine Melodie von Mozart ist für uns schön und geistreich, weil sich unsere Ohren an dieses kompositorische System gewöhnt haben und die Melodie innerhalb dieses Systems geistreich ist. Für einen steinzeitlichen Knochenflötisten wäre diese Melodie jedoch bizarr, weil er das System innerhalb dessen Mozart operiert nicht kennt. Auch manche Sonate von Haydn erscheint wenig geistreich, wenn man versucht auf diese die "Sonatenhauptsatzform" anzuwenden. Sie erscheint aber plötzlich sehr geistreich, wenn man sich auf die Ideenwelt des Komponisten einlässt und seine Ideen unabhängig von dem formalen System späterer Sonaten bewertet.

Der Schritt den man gehen kann, um "zeitgenössischere" Musik zu wertschätzen ist - meines Erachtens - dass man beginnt nicht nur innerhalb eines Systems zu denken und zu hören, sondern strukturelle Ideen von Musikstücken auf ihre eigene Art und Weise wertzuschätzen beginnt. Natürlich sollte Musik auch "schön" klingen. Aber Musik kann eben auch sehr geistreich sein, ohne, dass sie unsere alten Hörgewohnheiten bedient.

P.S. Ein Beispiel, welches ich gerne verwende um Menschen die Musik von Stockhausen nahezubringen ist Mozarts Klaviersonate KV332. Stellen wir uns vor wir wären im Spätbarock aufgewachsen und hören anschließend die erste Seite dieser Sonate. Was hören wir? Ein paar Takte Lied, dann plötzlich einen Kanon, anschließend plötzlich Hornquinten, dann ein paar Takte opernhafte Dramatik... Für Ohren, welche an den kontinuierlichen Fluss barocker Musik gewöhnt sind klingt das hochgradig bizarr. Auch Stockhausens Klavierstücke klingen für unsere Ohren erstmal hochgradig bizzar...
 
Zuletzt bearbeitet:
@alibiphysiker
Und als Ergänzung zu deiner treffenden Formulierung: „Schön“ wird auch atonale Musik, wenn man sie nur oft genug gehört hat. Durch wiederholte Wahrnehmung kann der Geist Wahrnehmungs-Schemata entwickeln, die, um dein Beispiel aufzugreifen, den bereits vorhandenen Schemata ähneln, die wir beim Hören von Mozart nutzen. Gewöhnung an Ungewohntes ist also sehr entscheidend bei der Bewertung.
 

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