Über Virtuosität haben wir uns in diesem Forum schon öfters unterhalten, hier mal zwei links:
Es lohnt sich, den "Virtuosen" auch mal historisch zu betrachten:
https://www.musiklexikon.ac.at/ml/musik_V/Virtuose.xml.
Ohne Virtuosität gibt es keine exzellenten Interpretationen, kein herausragendes Klavierspiel. Virtuosität meint meiner Meinung nach die Beherrschung aller notwendigen Mittel, musikalisch wie technisch, um Musik in hoher Qualität zu realisieren, zum Klingen zu bringen.
Virtuosität kann sich in vielem zeigen:
- in einer fein herausgearbeiteten Polyphonie
- in einem phantastischen legato, einer diffizilen Artikulation
- in der herausragenden Bewältigung besonders schwieriger motorischer Anforderungen (Doppelgriffe, virtuose Oktaventechnik, Repetitionen, schwierige Sprungstellen, besonders schnelle und schwierige Passagen u.v.a.)
- in einer besonderen Interpretation von hoher Qualität ("so habe ich das noch nie gehört")
- ......
Ein Virtuose beherrscht alle Ebenen des Klavierspiels in besonderem Maß und nimmt so eine herausragende Position innerhalb anderer Künstler ein. Wie Liszt schon sagte, ist die Virtuosität "nicht ein Auswuchs, sondern ein notwendiges Element der Musik"!
Warum es immer wieder Diskussionen über Virtuosität gibt, liegt meiner Meinung nach an den Entwicklungen der Zeit der Romantik, in der Konzerte von nicht wenigen Pianisten genutzt wurden, ihre technischen Fähigkeiten in Improvisationen und Eigenkompositionen von mäßiger Qualität zu zeigen ("Boah, hat der schnelle Finger" ....)
Robert Schumann prägte dafür den Begriff der "leeren Virtuosität", mit der er aber eben NICHT die Kompositionen großer Komponisten meinte. Er wendete sich mit diesem Begriff - er war ja auch Musikkritiker - , gegen das Blendwerk mancher eher mittelklassiger Pianisten zum Zweck der Bewunderung der eigenen technischen Fähigkeiten ohne Bezug zur Musik. Leere Virtuosität nutzt eben NICHT die Darstellung klanglicher Mittel als existentiell wichtiges Mittel zum Ausdruck.
Andras Schiff sagt dazu:
"Stimmt der Eindruck, dass Ihnen die intimen, leisen Seiten des Musizierens näher sind als die wuchtig-erhabenen, pathetischen (Liszt). Misstrauen Sie dem pianistischen Virtuosentum?
A. Schiff: Virtuosität ist bewundernswert! Eine Tugend. Das steckt schon im Wort. «Virtus» bedeutet Tugend. Robert Schumann war es, der in der «Neuen Zeitschrift für Musik» gegen die leere Virtuosität ankämpfte, die in seiner Zeit grossen Erfolg hatte. Dabei hat er gar nicht an Paganini und Liszt gedacht, sondern an kleinere Figuren." https://www.derbund.ch/meisterpianist-spielt-schumann-550082372451
Und Alfred Brendel äußert sich:
"Sie schimpfen gern über »dumme Virtuosen«.
Tue ich das? Das sind Leute, die fabelhafte Finger haben und alles, was schnell und laut ist, mühelos bewältigen können, vielleicht sogar leise – aber nicht fühlen und meistens auch nicht wissen, was in der Musik vorgeht. Bei manchen Pianisten habe ich den Eindruck, das Klavier hätte sie aufgefressen. Bei denen wird das Klavier zum Fetisch. Sie behandeln Klaviermusik so, als wäre es bloß Klaviermusik.
Was ist Klaviermusik noch?
Für mich war der Flügel, seit ich denken kann, ein Gefäß für alle möglichen musikalischen Vorstellungen. Orchestrale, vokale, instrumentale Musik. Hans von Bülow nannte den Pianisten ein zehnfingriges Orchester. Die großen Klavierkomponisten waren fast alle auch oder vorwiegend Ensemble-Komponisten. So fließen die verschiedensten musikalischen Vorstellungen in das Klavier hinein. Das war nicht erst in der Romantik so. Unter Mozarts Sonaten gibt es ausgesprochen orchestrale. Und Bachs Italienisches Konzert in seinen drei Sätzen bietet ein Beispiel für drei verschiedene Konstellationen. Für mich ist das Klavier ein Ort der Verwandlung. So spielen die einen Pianisten Klavier und die anderen den Regenbogen."
Der berühmte Pianist Alfred Brendel hat nun sechs Jahrzehnte auf der Bühne erlebt. Hier erzählt er, wer besser Klavier spielte als er, welche Pflaster auf die Finger gehören - und was ihm gegen den Lärm seiner Tochter hilft.
sz-magazin.sueddeutsche.de
Was nun Liszt angeht, hatten seine Kompositionen in den 80er Jahren, als ich an der MHS war, teilweise den Ruf, oberflächlich zu sein. Vielleicht kommen daher noch so manche Vorbehalte. Gott sei Dank hat sich das nämlich vollkommen geändert! Es gibt zwar immer noch Interpreten, die die Virtuosität wie
@Tastatula so schön sagte, als Selbstzweck verstehen und einfach schlecht spielen, aber das ist nicht die Schuld der Kompositionen. :D
Gerade die transzendentalen Etüden liebe ich sehr - mir läufts da oft kalt den Rücken runter. :))) Mal live mit Sjatoslav Richter in der Kölner Philharmonie gehört - oberflächlich war da nichts, aber virtuos in einer Form, die einen nur noch Staunen ließ, mit glühenden Ohren und einer inneren Bewegtheit, die mir heute noch Gänsehaut verschafft.
So schwierige Stücke so zu präsentieren, so zum Klingen zu bringen, braucht eine absolute Beherrschung der Materie. Die virtuosen Anforderungen sind enorm und derjenige, der sie hat, bedient sich einer herausragenden Virtuosität. Ein Segen, denn solche Stücke zu hören, wenn sie nicht wirklich beherrscht werden, ist kein Vergnügen.
Ich finde übrigens einen Aspekt von Virtuosität sehr interessant, den Friedrich Geiger hier nennt:
http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2019/14250/pdf/Popularmusikforschung43_02_Geiger.pdf .
Er meint, dass Virtuosität auch einen visuellen Aspekt in sich trage. In Konzerten sicherlich, aber meiner Meinung nach ist eine gute Aufnahme nicht weniger virtuos als ihre Entsprechung im Konzert. Trotzdem interessant! :)
Liebe Grüße
chiarina
P.S.: Lieber
@gameuno, da sich Virtuosität im Klavierspiel in so vielen Facetten zeigt, ist es wichtig, die eigenen pianistische Fähigkeiten umfassend zu bilden! Es gelingt nicht, sie nur an Mazeppa zu üben, sondern vor allem an anderen Stücken, die jeweils einen Schwerpunkt auf eine Fähigkeit legen. Das wollte ich mit meinem letzten Beitrag sagen!
Wenn du im nächsten Jahr nur Mazeppa übst, wirst du nicht die Fortschritte machen, als wenn du beispielsweise ein Nocturne von Chopin übst, an dem du z.B. legato, Phrasierung, Klangdifferenzierung, Tonqualität und die technischen Mittel, die dafür erforderlich sind, lernst. Es ist zum Fortkommen essentiell wichtig, einen musikalischen und technischen Aspekt von immer neuen und anderen Seiten zu erfahren! Nach dem Nocturne ein Intermezzo von Brahms, den zweiten Satz der Pathetique von Beethoven (um mal ein paar Stücke zu nennen, die dir gefallen könnten), vielleicht auch den ersten. Mit diesen Erfahrungen dann wieder an Mazeppa gehen und du wirst dich wundern. Du schreibst, dass es dir nichts ausmacht, wenige Stücke zu lernen, wenn sie dann gut sind. Das klappt leider nicht. Stell dir vor, jemand wolle etwas von dir über Mathematik lernen. Er sagt: "Wenn ich das kleine und große Einmaleins plus die Primzahlen u.a. im Affenzahn aufsagen kann, bin ich doch sicher ein guter Mathematiker." Was sagst du dem dann?
Das meinte ich auch mit der Herausforderung, die auf dich zukäme, willst du gut Klavier spielen können. Ich verstehe total, dass dich der motorische Aspekt zusammen mit dem Klang dieser Stücke wie Mazeppa und Co. fasziniert. Aber du hörst noch nicht gut genug hin und hast dir Verspannungen angewöhnt, die Virtuosität entgegenstehen. Dazu braucht man Stücke, die dich lehren, genau das Gegenteil zu tun. Zu deinem Vorteil!