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Hallo alle miteinander,
weil ich als Lehrer ein unverbesserlicher Beobachter der Menschenkinder bin, mache ich mal diesen Faden auf – vielleicht bringen meine Beiträge irgend jemandem aus dem Forum was.
(Eltern, Klavierlehrer, unsere Jungen im Forum). Hoffentlich wirkt mein Geschreibe nicht zu oberlehrerhaft. :rolleyes:
Ich will hier mal mit eigenen Erfahrungen darstellen, welche Stücke ich heute besonders leicht auswendig lernen kann und warum.
Vor einigen Monaten hatte ich einen Anlass, mich mit den Lernaltern zu beschäftigen. Googelt man danach, landet man sehr schnell auf Seiten der Sportarten Hockey, Fussball, Karate usw. Dort kann man lesen, wie die Kinder und Jugendlichen in welchem Alter ihren Sport trainieren sollten.
Es werden die Lernalter aufgeführt (ganz grob, individuell ein bisschen verschieden):
Bis ca. 7 Jahre Spielkinder, frühes Schulkindalter (1./2. Kl.) – entdeckendes Spielen, spätes Schulkindalter (3.-5.Kl.) – "erstes goldenes Lernalter", Bildung von überdauernden Interessen. Sie wollen was einüben und vorführen. Bis zum Beginn der Pubertät sind die Kinder als Kinder gewissermaßen ausgewachsen. Sie haben das Gefühl, mit sich und der Welt im Reinen zu sein.
Mit der Pubertät sprießt alles: sie wachsen im Jahr bis 10 cm und nehmen bis 9,5 kg zu. Die Kraft-Hebel-Verhältnisse ihres Körpers werden schlechter, was sie früher mal konnten, können sie auf einmal nicht mehr. („Ich kann nichts, ich bin nichts, niemand versteht mich, ich bin alleine auf der Welt, die Welt ist sowieso schlecht, wären alle so wie ich, wäre die Welt in Ordnung…“) Dazu kommt die seelische Neuorientierung durch die erwachende Sexualität, Neuorientierung und Loslösung auf allen Gebieten, aber auch wachsendes Verantwortungsgefühl.
Hat sich das alles einigermaßen stabilisiert, sehen die jungen Leute fast aus wie Erwachsene (besonders die Mädchen), im Innern sind diese liebenswerten Geschöpfe aber immer noch Kinder. :p
In dieser Phase der neuen Stabilisierung startet das „Zweite goldene Lernalter“ (ca. 15 – 20, individuell sehr verschieden). Es sind Feinformen trainierbar, jetzt erst macht es Sinn, musikalische Werke wirklich als solche auszuarbeiten, jetzt erst sind sie in der Lage, auch größere Stücke, größere Strukturen zu überblicken (im Hockey geht man erst jetzt vom Kleinfeld auf das Großfeld über).
Sehe ich auf meine eigene musikalische Entwicklung zurück, kann ich das bestätigen: in der 4. Klasse hatte ich als zweites Instrument mit der Geige angefangen und habe sofort sehr gute Fortschritte gemacht. Ich weiß noch wie heute, wie z.B. meine Bogenführung gelobt wurde. Dieser Anfang fiel zufällig in „mein erstes goldenes Lernalter“. Mit der Pubertät kamen der Lehrerwechsel beim Klavier und auch noch bei der Geige. Das war damals eine Katastrophe. Aus dieser Zeit weiß ich eigentlich nur, dass ich mit Klavier aufhören wollte, mit der Geige winkte die Möglichkeit, im Schulorchester mit zu spielen. Das war für mich attraktiv. Mit ca. 14 habe ich mich beim Klavier dann aufgerappelt, es war die Etüde Nr. 19 aus der Schule der Geläufigkeit, da habe ich „mein Herz für die Technik“ entdeckt.
Mein Vater hatte schon aus seiner eigenen Klavierzeit viele Noten angesammelt: die Beethoven Sonaten, die Mozart Sonaten, einige Bände „Sang und Klang aus dem XIX und XX Jahrhundert“, Walzer, Märsche, Schubert Sachen, Mendelssohn, aus welchen Gründen auch immer die 2 Bände Opernphantasien von Liszt von Peters. So hatte ich die Möglichkeit, außer den Sachen für den Klavierunterricht „alles mögliche“ zu spielen. Außerdem waren weitere Etüden von Czerny (Ausgabe Germer) da, darunter kurze Oktavenstudien, mit denen ich die Oktaven- und Akkordtechnik durch fast alle Tonarten in Eigenregie mit Begeisterung lernte.
Später wurden auch weitere Chopin- und Liszt-Noten gekauft. Wie das alles klingen sollte, kannte ich zu einem guten Teil von Platten. Mit 15 kam die erste Horowitzplatte ins Haus. – Mein Kl.-Lehrer wusste von meinen sonstigen Aktivitäten nichts, er hätte auch nicht alles gebilligt, war er doch drauf aus, technisch und musikalisch sauber spielen zu lassen.
So kam in „mein zweites goldenes Lernalter“ viel Klavierliteratur, die ich von innen kennen lernte – aber bei weitem nicht sauber ausgearbeitet hatte. Das ging nach dem Abitur so weiter.
Mit 25, während meines Studiums, konnte ich La Campanella innerhalb von 3 Tagen auswendig spielen, die Eindrücke meines Herumklimperns mit 16 oder 17 waren da sehr hilfreich. Heute sind diese früheren Sachen für mich immer noch eine Fundgrube, wenn es darum geht, neue Stücke auswendig zu lernen.
Ich bin heute der Auffassung, dass die Eindrücke aus dem ersten und zweiten goldenen Lernalter überdauernd sind und dass es durchaus Sinn machen kann, überall herum zu klimpern – diese Eindrücke überdauern!
Ich bin froh, dass ich mich nicht von meinem Klavierlehrer „deckeln“ ließ, sondern von mir selbst gewählte, z.T. viel zu schwere Stücke munter darauf los spielte. Deshalb will ich den Jüngeren im Forum Mut machen, durchaus auch auf Biegen und Brechen mal was vielleicht viel zu schweres zu probieren.
Ich bin mir heute nicht sicher, ob ein Klavierlehrer die Sicht für mich hätte, das zu spielen, was ich zur Zeit spiele und im Konzert aufführe.
Ich schreibe jetzt für Jungs am Klavier: im ersten goldenen Lernalter könnten Stücke in einer gewissen Grob- bis Feinform gelernt werden. Wenn die Pubertät und die körperliche Streckphase kommt, sollten sie durchaus mit ihrem Instrument Krach machen dürfen: Doppeloktaven rauf und runter usw. Man kann Stücke auswählen die diesem Ziel Rechnung tragen, die sonst relativ einfach sind, aber mit denen er unter seinen Kameraden angeben kann.
Ich habe in einem Vorspiel einer Klavierklasse erlebt, dass ein hochgeschossener Kerl mit Riesenpranken an den Flügel geht – und eine Bach-Invention durchstottert. Da ist der Tod im Topf! Ich hätte dessen Klavierlehrerin auf den Mond schießen können.
Mädchen sind da anders gestrickt: sie sind als Kleinkinder früher sauber, sie sitzen eher am Tisch und malen was aus, sie arbeiten genauer als die Jungs, sie schreiben schöner, sie sind auch in der Schule die Fleißigeren.
Unser Schulbetrieb ist eigentlich für Mädchen gemacht, unsere Musikschulen auch, aber das steht wohl auf einem anderen Blatt. (Überall Lehrerinnen, zumindest in den Unterklassen.) Die Älteren unter der Musikschülern sind überwiegend Mädchen, die Bläser mal ausgenommen. Mädchen schlucken es eher, als Halbwüchsige ein kleines Präludium spielen zu müssen.
Jungs waren früher auf dem Fussballplatz, heute sitzen sie vor dem PC.
Weitere Erfahrungen stehen in meinem Blog. (Schon wieder so viel geschrieben ... :confused:)
Uns allen wünsche ich viel Erfolg am Kla4!
Walter
weil ich als Lehrer ein unverbesserlicher Beobachter der Menschenkinder bin, mache ich mal diesen Faden auf – vielleicht bringen meine Beiträge irgend jemandem aus dem Forum was.
(Eltern, Klavierlehrer, unsere Jungen im Forum). Hoffentlich wirkt mein Geschreibe nicht zu oberlehrerhaft. :rolleyes:
Ich will hier mal mit eigenen Erfahrungen darstellen, welche Stücke ich heute besonders leicht auswendig lernen kann und warum.
Vor einigen Monaten hatte ich einen Anlass, mich mit den Lernaltern zu beschäftigen. Googelt man danach, landet man sehr schnell auf Seiten der Sportarten Hockey, Fussball, Karate usw. Dort kann man lesen, wie die Kinder und Jugendlichen in welchem Alter ihren Sport trainieren sollten.
Es werden die Lernalter aufgeführt (ganz grob, individuell ein bisschen verschieden):
Bis ca. 7 Jahre Spielkinder, frühes Schulkindalter (1./2. Kl.) – entdeckendes Spielen, spätes Schulkindalter (3.-5.Kl.) – "erstes goldenes Lernalter", Bildung von überdauernden Interessen. Sie wollen was einüben und vorführen. Bis zum Beginn der Pubertät sind die Kinder als Kinder gewissermaßen ausgewachsen. Sie haben das Gefühl, mit sich und der Welt im Reinen zu sein.
Mit der Pubertät sprießt alles: sie wachsen im Jahr bis 10 cm und nehmen bis 9,5 kg zu. Die Kraft-Hebel-Verhältnisse ihres Körpers werden schlechter, was sie früher mal konnten, können sie auf einmal nicht mehr. („Ich kann nichts, ich bin nichts, niemand versteht mich, ich bin alleine auf der Welt, die Welt ist sowieso schlecht, wären alle so wie ich, wäre die Welt in Ordnung…“) Dazu kommt die seelische Neuorientierung durch die erwachende Sexualität, Neuorientierung und Loslösung auf allen Gebieten, aber auch wachsendes Verantwortungsgefühl.
Hat sich das alles einigermaßen stabilisiert, sehen die jungen Leute fast aus wie Erwachsene (besonders die Mädchen), im Innern sind diese liebenswerten Geschöpfe aber immer noch Kinder. :p
In dieser Phase der neuen Stabilisierung startet das „Zweite goldene Lernalter“ (ca. 15 – 20, individuell sehr verschieden). Es sind Feinformen trainierbar, jetzt erst macht es Sinn, musikalische Werke wirklich als solche auszuarbeiten, jetzt erst sind sie in der Lage, auch größere Stücke, größere Strukturen zu überblicken (im Hockey geht man erst jetzt vom Kleinfeld auf das Großfeld über).
Sehe ich auf meine eigene musikalische Entwicklung zurück, kann ich das bestätigen: in der 4. Klasse hatte ich als zweites Instrument mit der Geige angefangen und habe sofort sehr gute Fortschritte gemacht. Ich weiß noch wie heute, wie z.B. meine Bogenführung gelobt wurde. Dieser Anfang fiel zufällig in „mein erstes goldenes Lernalter“. Mit der Pubertät kamen der Lehrerwechsel beim Klavier und auch noch bei der Geige. Das war damals eine Katastrophe. Aus dieser Zeit weiß ich eigentlich nur, dass ich mit Klavier aufhören wollte, mit der Geige winkte die Möglichkeit, im Schulorchester mit zu spielen. Das war für mich attraktiv. Mit ca. 14 habe ich mich beim Klavier dann aufgerappelt, es war die Etüde Nr. 19 aus der Schule der Geläufigkeit, da habe ich „mein Herz für die Technik“ entdeckt.
Mein Vater hatte schon aus seiner eigenen Klavierzeit viele Noten angesammelt: die Beethoven Sonaten, die Mozart Sonaten, einige Bände „Sang und Klang aus dem XIX und XX Jahrhundert“, Walzer, Märsche, Schubert Sachen, Mendelssohn, aus welchen Gründen auch immer die 2 Bände Opernphantasien von Liszt von Peters. So hatte ich die Möglichkeit, außer den Sachen für den Klavierunterricht „alles mögliche“ zu spielen. Außerdem waren weitere Etüden von Czerny (Ausgabe Germer) da, darunter kurze Oktavenstudien, mit denen ich die Oktaven- und Akkordtechnik durch fast alle Tonarten in Eigenregie mit Begeisterung lernte.
Später wurden auch weitere Chopin- und Liszt-Noten gekauft. Wie das alles klingen sollte, kannte ich zu einem guten Teil von Platten. Mit 15 kam die erste Horowitzplatte ins Haus. – Mein Kl.-Lehrer wusste von meinen sonstigen Aktivitäten nichts, er hätte auch nicht alles gebilligt, war er doch drauf aus, technisch und musikalisch sauber spielen zu lassen.
So kam in „mein zweites goldenes Lernalter“ viel Klavierliteratur, die ich von innen kennen lernte – aber bei weitem nicht sauber ausgearbeitet hatte. Das ging nach dem Abitur so weiter.
Mit 25, während meines Studiums, konnte ich La Campanella innerhalb von 3 Tagen auswendig spielen, die Eindrücke meines Herumklimperns mit 16 oder 17 waren da sehr hilfreich. Heute sind diese früheren Sachen für mich immer noch eine Fundgrube, wenn es darum geht, neue Stücke auswendig zu lernen.
Ich bin heute der Auffassung, dass die Eindrücke aus dem ersten und zweiten goldenen Lernalter überdauernd sind und dass es durchaus Sinn machen kann, überall herum zu klimpern – diese Eindrücke überdauern!
Ich bin froh, dass ich mich nicht von meinem Klavierlehrer „deckeln“ ließ, sondern von mir selbst gewählte, z.T. viel zu schwere Stücke munter darauf los spielte. Deshalb will ich den Jüngeren im Forum Mut machen, durchaus auch auf Biegen und Brechen mal was vielleicht viel zu schweres zu probieren.
Ich bin mir heute nicht sicher, ob ein Klavierlehrer die Sicht für mich hätte, das zu spielen, was ich zur Zeit spiele und im Konzert aufführe.
Ich schreibe jetzt für Jungs am Klavier: im ersten goldenen Lernalter könnten Stücke in einer gewissen Grob- bis Feinform gelernt werden. Wenn die Pubertät und die körperliche Streckphase kommt, sollten sie durchaus mit ihrem Instrument Krach machen dürfen: Doppeloktaven rauf und runter usw. Man kann Stücke auswählen die diesem Ziel Rechnung tragen, die sonst relativ einfach sind, aber mit denen er unter seinen Kameraden angeben kann.
Ich habe in einem Vorspiel einer Klavierklasse erlebt, dass ein hochgeschossener Kerl mit Riesenpranken an den Flügel geht – und eine Bach-Invention durchstottert. Da ist der Tod im Topf! Ich hätte dessen Klavierlehrerin auf den Mond schießen können.
Mädchen sind da anders gestrickt: sie sind als Kleinkinder früher sauber, sie sitzen eher am Tisch und malen was aus, sie arbeiten genauer als die Jungs, sie schreiben schöner, sie sind auch in der Schule die Fleißigeren.
Unser Schulbetrieb ist eigentlich für Mädchen gemacht, unsere Musikschulen auch, aber das steht wohl auf einem anderen Blatt. (Überall Lehrerinnen, zumindest in den Unterklassen.) Die Älteren unter der Musikschülern sind überwiegend Mädchen, die Bläser mal ausgenommen. Mädchen schlucken es eher, als Halbwüchsige ein kleines Präludium spielen zu müssen.
Jungs waren früher auf dem Fussballplatz, heute sitzen sie vor dem PC.
Weitere Erfahrungen stehen in meinem Blog. (Schon wieder so viel geschrieben ... :confused:)
Uns allen wünsche ich viel Erfolg am Kla4!
Walter