Inwiefern ist die Semantik von "Vernunft" klarer bestimmt als die des "gesunden Menschenverstands"? Ich bin mir gar nicht sicher, was der Unterschied zwischen beidem sein soll. Gibt es denn einen?
Frei nach Radio Eriwan - im Prinzip nein. Vernunft ist Abstraktum zu »vernehmen«, Verstand zu »verstehen«, und daher ist in ihrer Entwicklung ein großer Überschneidungsbereich zu erwarten. Aber ... »Vernunft« kann, traditionell ausgedrückt, ein reiner Tugendbegriff sein, also das intellektuelle Vermögen bezeichnen, das man als Mensch »im Prinzip« besitzt, wogegen »Verstand« eine »anwendungsbezogene« Bedeutungskomponente ausbildet und damit ein agentiver und dynamischer Spezialfall von »Vernunft« werden kann.
Das zeigt sich (u.a.?) darin, *)
-- dass »Vernunft« als inalienables Possessum konzipiert ist, »Verstand« als alienables; man kann ihn verlieren und er kann zeitweise aussetzen:
(1) ich hätte beinnahe den Verstand / *die Vernunft verloren
(2) mir stand vor Schreck der Verstand / *die Vernunft still
-- dass von »Verstand« ein Nomen actionis ableitbar ist, nicht aber von »Vernunft«:
(3) Das Verständnis (*Vernunftnis) des katholischen Priesters von seinem Amt ist anders als das seiner reformierten Kollegen
Wenn die »Zeit« schießlich schreibt
(4) Der Österreicher glaubt nicht an die Aufklärung, nicht an die Vernunft. (Nr. 24, 08.06.2006)
meint sie maliziös, dass »dem« Österreicher geistliche Tugenden wichtiger seien als dianoetische, spricht ihm aber keineswegs die Fähigkeit ab, verständig zu handeln.
*) Alle folgenden Beispiele aus dem DWDS