Die Einstellung hatte ich auch mal. Die hat sich völlig verändert, als ich mal ein Interview eines Sprachwissenschaftlers gelesen hatte.
Veränderungen in der Sprache sind eigentlich niemals negativ. Es gibt überhaupt keinen Grund, Sprache negativ zu verändern. Das macht keiner. Es ist natürlich völlig ungewohnt, wenn jemand sagt "ich geh zu Aldi" und klingt für mich (und vermutlich für Dich) erst mal völlig Sch.... Ist es aber eigentlich gar nicht.
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In 100 Jahren oder früher wird das Deutsch, so wie wir es jetzt kennen, vermutlich ähnlich veraltet klingen wie das Deutsch, was wir aus dem Mittelalter kennen.
Sprachästhetik und Konstatierung von Sprachwandel sind zwei Dinge, die man auseinanderhalten muß. Im ersteren Falle geht es um die Artikulation stilistischer Vorstellungen, die uns veranlassen, etwa einen "Seite drei" - Text aus der SZ für ästhetisch befriedigender zu halten als einen von Seite drei der Bildzeitung. Oft, wenn auch nicht immer, hat das damit zu tun, daß sich der Text an den Konventionen der klassischen Rhetorik orientiert, wogegen der Bildzeitungsautor weiß, daß sich seine Leserschaft "nen" Muckenschiß um derlei Dinge kümmert. Sprachästhetik ist also in erster Linie bewußte Auseinandersetzung mit Texten der eigenen Lebenswelt und individuelle Entscheidung für oder gegen *) bestimmte Register und damit synchron orientiert.
*)
Wow... noch geschraubter ging es wohl echt nicht?
Bei der Beobachtung des Sprachwandels geht es um die Analyse der Motive, welche die Sprachbenutzer dazu bringen, ihre Sprache zu verändern, d.h. sie ist diachron orientiert. Beim Sprachwandel spielen bewußte ästhetische Überlegungen die geringste Rolle, viel wichtiger sind unbewußte wie Okönomie ("Schlamperei-Prinzip"), Expressivität ("Mega-geil-Prinzip") und Sprachkontakt / Prestigesprachen-Orientierung (aus "das wird schon wieder" wird dann "das resetted sich").
Das "'nen Klavier" **) könnte unter das Ökonomieprinzip fallen: viele Sprachen neigen zum Abbau des Neutrums, wenn nicht des grammatischen Genus überhaupt (vgl. etwa das dem Dt. nächstverwandte Niederländische). Wenn dieser nicht wie in den romanischen Sprachen durch lautlichen Zusammenfall von Mask. und Neutr. herbeigeführt wird (lat. hortus / templum -> roman. orto / tempio), kann er durch andere Ansatzpunkte wie z.B. Wörter mit unsicherem Genus (z.B. der / das Gummi) erfolgen und dann allmählich generalisiert werden. Expressive Bildung unterliegen wegen ihrer schnellen Abnutzung besonderem Neuerungsdruck: Ausdrücke wie "das ist doch wurst" waren einmal vulgär und sind heute allenfalls colloquial; die Negation "nicht" war einmal expressives "ni wiht" ("kein Zwerg"), wovon keine Spur geblieben ist, außer im Schwäbischen - wenn mich der Werkstattmensch fragt: "ham sie mir koi Serviceheftl it", dann ist das "it" der Rest vom Zwerg. Prestigesprachenorientierung ist im Deutschen natürlich an den allgegenwärtigen lexikalischen Anglizismen greifbar, aber nachhaltiger sind subtile morphologische und syntaktische Änderungen, die sich weitgehend unbewußt vollziehen. Hierher gehören z.B. das Plural-s ("die Jungs, die Mädels"), oder syntaktische Phänomene wie: "die Regierung warnte, daß ...", statt "... davor, daß".
In hundert Jahren wird Deutsch natürlich anders klingen als heute, ebenso wie es vor 100 Jahren anders geklungen hat, wie man aktuell ja leicht überprüfen kann, da zum 100jährigen "Jubiläum" des 1. Weltkrieges haufenweise zeitgenössische Zeitungsausschnitte verfügbar sind. Deutschlehrer und Verleger wirken dieser Erkenntnis dadurch entgegen, daß sie, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven, sprachlich angepaßte Literaturausgaben verwenden bzw. verkaufen. Man greife einmal zu Goethes Wahlverwandtschaften im Original, oder gar zur Lutherbibel von 1545 (
http://www.bibel-online.net/buch/luther_1545_letzte_hand/1_mose/1/#1), um einen gewaltigen sprachlichen Schock zu erleben.
Grüße,
Friedrich
**)
"'nen Klavier" etc. existiert in den süddt. Varianten übrigens nicht. Das Analogon müßte "an Klavier" lauten, wofür ich einen Beleg im Kopf habe (entrüstete Oma): "Jetzt verdient der noch nix und kauft sich schon an Telefon"